Erwachen im Licht

Sebastian dachte an die Côte d’Azur.

Er war in einem Trierer Waisenhaus aufgewachsen. Es verfügte nicht über große finanzielle Mittel. Die Kleidung der Kinder stammte aus Spenden, das Essen schmeckte nach dem Dafürhalten des Pfarrers viel zu sehr nach Sägespänen und Kleister, und im Winter wurde die Heizung nur in der Nacht eingeschaltet.

Aber dafür bemühte sich die Leitung stets, den Kindern schöne Ferien zu ermöglichen.

Zwei Wochen im Süden Frankreichs, in Marseille. Ausgedehnte Wanderungen durch die malerische Landschaft, mit den Begleitpersonen zum Frühstück leichten Wein schlürfen – zumindest die Waisenkinder über dreizehn durften das –, dazu gab es Käse und Brot mit Olivenöl, und die Nachmittage verbrachten sie am Strand.

An das erinnerte Sebastian sich heute noch gerne. Sich einfach unter Wasser treiben zu lassen. In diesem Moment bestand die Welt nur aus den Geräuschen des Meeres und sonst nichts. Dann setzte der Atemreflex ein, man schluckte Salzwasser und kam prustend wieder hoch, während die anderen Waisenkinder sich darüber halb totlachten.

So fühlte sich Sebastian gerade. Die Realität schien wieder und wieder über ihn hinwegzubranden, gleich Flutwellen, die stetig höher stiegen. Er nahm vieles nur in Bruchstücken wahr. Tessa, die sich über ihn beugte. Ihre Lippen bewegten sich, ihr blutverschmiertes Gesicht war gezeichnet von Sorge. Der graue Himmel von Frankfurt, die Wolken, die sich dort ballten. Die Schmerzen in seinem Brustkorb. Das Gefühl von Rasierklingen in seinem Hals. Das Schaben des Asphalts unter seinem Rücken und seinen Fersen, das Ziehen in seinen Armen und Schultern. Das laute Heulen. Dazwischen Momente von alles umfassender Stille.

»Verdammt, die kommen aus der Bahn raus!«

Vielleicht war es dieser Satz, vielleicht auch nur der reine Zufall, aber da setzte Sebastians Atemreflex ein, er verschluckte sich an der Realität und setzte sich ruckartig auf. Nur musste er hier kein Salzwasser aushusten.

Der Pfarrer ignorierte das entsetzte Aufschreien hinter ihm und starrte auf das Dach eines auf der Seite liegenden Straßenbahnwaggons. Obenauf lag ein wirr verbogenes Baugerüst, hinter dem Waggon ein verunglückter Betonmischer.

Seine Aufmerksamkeit galt einer quadratischen Öffnung im Dach des Wagens, aus der sich gerade die wandelnden Toten drängten. Ihre milchigen Augen waren auf ihn gerichtet, die Mäuler weit aufgerissen und geifernd. Mindestens drei dieser Kreaturen trampelten und boxten sich durch die Horde hindurch, ihre blutroten Münder ein Zeichen für den Blutrausch, in den sie nach einem Biss verfielen.

Sebastian spürte Hände, die an seinen Armen zerrten. Unwirsch schüttelte er sie ab und kämpfte sich auf die Füße.

»Scheiße, was soll das? Wir müssen weiter!«, rief eine schrille Jungenstimme.

»Halt den Mund!«, schnappte ein Mädchen.

Der erste der rasenden Untoten, ein pausbäckiger junger Mann im grauen Anzug, rannte direkt auf ihn zu. Sebastian ging leicht in die Knie, packte den Untoten im Schrittbereich, hob ihn hoch und schleuderte die Kreatur auf die Straße.

Der Aufprall presste dem Untoten die letzten Überreste von Luft aus den verwitterten Lungen. Bevor das Ding reagieren konnte, bevor irgendjemand anderes reagieren konnte, hatte Sebastian schon seinen Fuß erhoben und trat zu. Zu seinem Glück hatte er sich in der Kirche in Bad Wildbad mit festen Arbeitsstiefeln ausgestattet. Der Untote wollte gerade wieder zu heulen anfangen, als die Stiefelferse seinen Kopf traf und ihn zerplatzen ließ. Sie mögen auferstanden sein, um die lebenden Menschen zu fressen, aber ihre Körper werden dadurch schwächer. Bei einem lebenden Menschen könnte ich das nicht.

Sein Mund verzog sich zu einem wilden Grinsen. »Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen und nicht finden, sie werden begehren zu sterben und der Tod wird von ihnen fliehen.«

Er hielt sich nicht lange mit seinem ersten Gegner auf, wirbelte herum und hielt nach neuen Feinden Ausschau. Er musste nicht lange warten. Eine weitere Kreatur im Blutrausch ging auf ihn los, diesmal eine untote Frau, ebenfalls in Businesskleidung, nur war sie barfuß. Ihr blondes Haar glich einem rattigen Vogelnest.

Sebastian ließ sie auf eine Beinlänge herankommen, dann sprang er zur Seite und feuerte einen direkten Kick auf ihr linkes Bein ab. Sein Stiefel traf ihr Knie, es knackte, und die Kreatur ging zu Boden.

»Da fiel das Feuer des HERRN herab und fraß Brandopfer, Holz, Steine und Erde und leckte das Wasser auf im Graben.«

Sebastian wollte erneut zutreten, doch da sprang ihn ein weiterer rasender Untoter an. Mit Mühe und Not hielt er das geifernde Maul von sich fern, doch die Wucht des Aufpralls brachte ihn zu Fall.

Hart schlug Sebastian auf dem Asphalt auf und das Maul näherte sich wieder. Ein fauliger Hauch brandete über das Gesicht des Pfarrers hinweg. Im letzten Moment konnte Sebastian die schnappenden Kiefer aufhalten.

Ein Fuß in einem dunklen Lederstiefel traf den Toten seitlich am Kopf und verschaffte Sebastian ein wenig Freiraum. Genug, um die Kreatur von sich zu schleudern.

Ein dunkelhaariges Mädchen in Jeans, Lederjacke und Motorradstiefeln streckte ihm eine blutige Hand hin, in der anderen hielt sie eine Brechstange. Sebastian ergriff ihre Hand und ließ sich aufhelfen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass der untoten Frau im Geschäftsanzug schon der Garaus gemacht worden war.

Er nickte dem Mädchen zu und stemmte sich gegen den erneuten Ansturm des rasenden Toten, eine gedrungene Gestalt in alten Lumpen.

»Greift die Propheten Baals, dass keiner von ihnen entrinne! Und sie ergriffen sie. Und Elia führte sie hinab an den Bach Kischon und schlachtete sie daselbst.«

Die Kreatur heulte ihm ins Gesicht. Hinter ihr kamen weitere Artgenossen, ebenso heulend, aber nicht annähernd so rasend. Unerbittlich und unablässig quollen sie aus dem Inneren des Straßenbahnwaggons.

Sebastian wandte einen Trick an. Er ließ plötzlich in seinem Gegendruck nach, der Tote schnellte nach vorn und stolperte über Sebastians Bein. Im Nu hatte der Pfarrer der Kreatur die Arme auf den Rücken gedreht und zwang sie in eine Verbeugung. Die meisten lebenden Menschen hätten jetzt schon aufgegeben, die Schmerzen wären einfach zu groß.

Der rasende Tote schien stattdessen nur umso wildwütiger zu werden, zappelte und zerrte am Griff des Pfarrers, als wollte er sich die Schultergelenke brechen. Das war nicht verwunderlich, die Untoten scherten sich einen feuchten Kehricht um ihre eigene Verfassung. Sie würden sich durch einen Fleischwolf zwängen, um an ihre Beute heranzukommen.

Das Mädchen begriff augenblicklich, was ihre Rolle war. Sie packte das Brecheisen mit beiden Händen und schwang es in einem großen Bogen. Der erste Schlag entfernte die Stirn des zerlumpten Untoten. Zwei weitere Schläge setzten ihm vollständig ein Ende.

»Und Samson sprach: Mit eines Esels Kinnbacken habe ich sie über den Haufen geworfen; mit eines Esels Kinnbacken habe ich tausend Mann erschlagen!«

Sebastian ließ den erschlafften Körper fallen und atmete tief durch. Das Mädchen beugte sich nach vorn, ihre Schultern hoben und senkten sich, als sie nach Atem rang. Jetzt erst entdeckte er zwei Bisswunden auf ihrem rechten Arm.

Tessa. Ihr Name ist Tessa. Endlich konnte er wieder normal denken.

Das Mädchen war von den Untoten in das Innere des Straßenbahnwaggons gezerrt worden. Ich war ihr zu Hilfe geeilt, zusammen mit … wie ist der Name noch gleich? Oh, ja, Vincent.

Sebastian entdeckte den Jungen ein paar Schritte weiter die Straße runter. Vincents billiger Trainingsanzug wies nun etliche Löcher und Risse auf. Er lehnte an einer Hauswand, ein Messer in einer Hand, die andere Hand auf seine Schulter gepresst, das Gesicht verzerrt.

Sebastian hatte sich auf die Untoten gestürzt, um Tessa und Vincent die Flucht zu ermöglichen. Dabei war er von der Meute bedrängt worden. Ihre schiere Masse hatte ihn fast zerquetscht. Doch Tessa und Vincent hatten ihn dort herausgeholt.

Sebastian sah an sich hinunter. Nichts!

Nun, das stimmte nicht so ganz. Seine Gliedmaßen sandten Protestsignale im Sekundentakt. Ein Muskel im Kniebereich war eindeutig gezerrt, eine Schulter stand in Flammen und er hatte überall Abschürfungen.

Aber keine Bisswunden.

Trotz der Masse der Untoten war er nicht gebissen worden. Sebastian lächelte.

Es juckte in seiner Brust. Eine bestimmte Stelle, etwa vier Fingerbreit schräg unterhalb des Solarplexus.

Er erinnerte sich. Dachte zurück an ein kleines Dorf im Sudan. Eine weitere Familientragödie, wie er sie schon oft dort erlebt hatte. Diesmal ein jähzorniger Bruder, der sich als großer Mann in der Familie aufspielte. Eine Schwester, die sich nicht gegen ihren Willen verheiraten lassen wollte.

Sebastian wendete seine übliche Methode an, ließ den Bruder Feuer und Schwert spüren. Er schien ausreichend gezüchtigt, doch das war ein Trugschluss. Stattdessen lauerte er Sebastian eines Abends auf, ein Messer in der Hand.

Doch Sebastians Herr und Meister hielt seine Hand über den Pfarrer. Das Messer, das sein Herz durchbohren sollte, blieb im Brustkorb, etwa vier Fingerbreit unterhalb des Solarplexus stecken. Die Chance für einen zweiten Stoß erhielt der Bruder nicht. Sebastian rammte seinen Kopf gegen die Wand und schleppte ihn und sich selbst dann zur nächsten Polizeistation.

Die Wunde war an sich oberflächlich, dennoch wäre Sebastian fast daran gestorben, denn der Bruder hatte die rostige Klinge vorher in Tierblut und Kot getränkt. Während seiner Rekonvaleszenz hatte er genug Zeit, um über die Situation nachzudenken. Er erkannte sie als das, was sie war: ein Zeichen Gottes, eine Warnung.

Sebastian beschloss umgehend kürzerzutreten und bewarb sich um eine Pfarrerstelle in Deutschland. Wenige Monate später kehrte er wieder in die Bundesrepublik zurück. Dort verbrachte er friedliche Zeiten, kümmerte sich um seine Gemeinde und war mit sich und der Welt im Reinen.

Bis zu diesem Ostern.

Jetzt hatte er ein weiteres Zeichen erhalten. Die Welt war eine andere geworden. Er musste seine Zurückhaltung aufgeben. Musste sein Wissen und seine Erfahrungen an die reine Generation weitergeben, auf dass diese einst die Erde empfangen würde.

Das Geheul der wandelnden Toten riss ihn aus seinen Gedanken. Die Masse, die immer noch aus dem Waggon quoll, war nur noch wenige Meter entfernt.

»Geht’s dir gut?«, fragte Tessa, die um Atem rang.

»Es ging mir nie besser«, erwiderte Sebastian. Auch wenn er wusste, dass er später dafür bezahlen würde, in der Währung eines Muskelkaters, so sprach er dennoch die Wahrheit. Er hatte sich noch nie so gut gefühlt.

Tessa richtete sich auf. »Wunderbar, dann können wir uns nämlich um die da kümmern.« Sie deutete auf die Kreaturen.

Sebastian wollte ihr gerade zustimmen, da entdeckte er weitere Monster, die sich aus der Richtung des Kaiserdoms näherten. Die ersten steuerten geradewegs auf Vincent zu. Der Junge hatte sie noch nicht bemerkt, er schien völlig von seiner verletzten Schulter eingenommen zu sein.

»Nein«, sagte Sebastian, »wir können hier nicht bleiben. Wir haben ein Ziel. Sehen wir zu, dass wir es erreichen!«

Ohne Tessas Reaktion abzuwarten, marschierte er an ihr vorbei und fing an zu laufen. Die Schmerzen fielen von ihm ab, Kraft flutete durch seinen Körper.

»Gelobt sei der HERR, mein Fels, der meine Hände kämpfen lehrt und meine Fäuste, Krieg zu führen.«

Die wandelnden Toten aus der Richtung des Kaiserdoms brauchten schätzungsweise noch vier Meter. Sebastian plante, ihnen jeden Zentimeter zu missgönnen.

Er lief an dem Jungen vorbei und erreichte die vorderste Kreatur, die ihn umgehend mit ihren Klauenarmen greifen wollte. Mit beiden Händen packte Sebastian die Arme des Untoten und hielt ihn so auf Abstand. Der Untote sträubte sich dagegen, doch dieses Exemplar war nicht in einen Blutrausch verfallen. Noch nicht. Und soweit sollte es auch nicht kommen.

Sebastian hob ein Bein und trat der Kreatur mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, in die Magengegend. Er hörte ein Reißgeräusch, der Untote flog nach hinten und knallte der Länge nach auf den Asphalt. Mitten in seine Artgenossen, die sich zwar nicht um Hindernisse scherten, aber auch nicht sehr geschickt im Überwinden waren und so der Reihe nach zu Boden fielen.

Gleichzeitig geriet Sebastian mit den Armen ins Rudern – im wahrsten Sinne des Wortes, hielt er doch die ausgerissenen Arme des Untoten, den er getreten hatte, noch in den Händen. Er erlangte sein Gleichgewicht wieder, als ihm eine der anderen Kreaturen praktisch vor die Füße fiel.

Ein Geschenk Gottes lehnt man nicht ab, dachte Sebastian, hob den Fuß erneut, trat mit der Ferse zu und zermalmte den Kopf der Kreatur. »HERR, neige deinen Himmel und fahre herab; rühre die Berge an, dass sie rauchen.«

Hinter sich hörte er Tessa. Sie schrie Vincent durch das Geheul an: »Komm endlich aus dem Arsch und beiß die Zähne zusammen! Ja, das tut weh! War bei mir auch nicht anders! Beweg dich!«

Kurz darauf standen die beiden Teenager neben ihm. Tessas Gesicht zeigte kühle Entschlossenheit. Keine Spur von Angst mehr. Sie hat sich in den wenigen Tagen sehr gemacht.

Vincent schlotterte, seine Augen waren weit aufgerissen. Mit weißen Fingerknöcheln umklammerte er das Messer. Aus der Bisswunde in seiner Schulter sickerte immer noch Blut. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Falls das sein erster Biss ist, und danach sieht es aus, besteht die Gefahr, dass er in das gleiche Delirium wie Tessa fällt.

Vor ihnen kamen die meisten Untoten wieder auf die Füße, hinter ihnen heulten weitere. Sebastian setzte sich in Bewegung, fast im Gleichschritt folgten die beiden Jugendlichen.

»Sende Blitze und zerstreue deine Feinde, schick deine Pfeile und erschrecke sie, streck aus deine Hand von der Höhe.«

Tessa brach aus der Formation, sprang einen noch kauernden Untoten an und riss ihn mit einem Kniestoß wieder zu Boden. Mit wenigen Schlägen des Brecheisens verwandelte sie den Kopf der Kreatur in einen blutigen Brei. Ein anderer Untoter, in einem grauen Trainingsanzug und mit einem stark zerzausten Männerdutt, wollte sie greifen, doch Sebastian packte den wandelnden Toten an dem hervorstehenden Merkmal seiner Frisur und zwang ihn gnadenlos auf Hüfthöhe. Nach einigem Zögern stieß Vincent dem Untoten die Messerklinge in die Augenhöhle.

Doch da kamen schon weitere Kreaturen. Sie waren noch nicht am Ziel.

»Amen.«