Rote Männchen
Nachdem das Adrenalin abgeklungen war, fand Miriam schnell wieder in einen gesunden Rhythmus. Einatmen, treten, treten, ausatmen, treten, treten.
Es erstaunte sie immer noch, dass ihr Körper weiterhin Adrenalin produzieren konnte. Man sollte meinen, dass diese Quelle nach den Entbehrungen und Anstrengungen der vergangenen Wochen doch langsam versiegt sein müsste. Aber nein, irgendwie gelang es ihrem Körper, bei jedem Ärgernis, jeder Gefahr und jeder Nahtoderfahrung neue Quellen anzuzapfen.
Sie warf einen Blick auf Marcel, der sich neben ihr abstrampelte. Seine Fahrweise konnte sie nur als unrund beschreiben. Nach allem, was sie von Marcel wusste, hatte er selten Gelegenheit gehabt, auf einem Fahrrad zu sitzen, geschweige denn längere Strecken zurückzulegen.
Aber wenn man den Dreh erst mal raushatte …
Miriam musste an einen anderen Spruch denken, der sich mit Fahrradfahren und dem Erlernen von ebendiesem beschäftigte. Sie spürte ihre Wangen im Fahrtwind glühen. Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
Marcels warmer Atem in ihrem Mund, seine Schwere auf ihr, er in ihr, ihre Finger krallen sich in seine Rückenmuskeln …
Eine wohlige Wärme breitete sich in Miriams Magengegend aus, als sie daran zurückdachte.
Sie bereute es nicht. Das war ihr sofort klar. Die Umstände hätten anders sein können, aber sie war letztendlich froh, dass es passiert war. Miriam war kein Kind von Traurigkeit. Aber seit Frank … sie hatte es gewollt, aber es war ihr erst nicht richtig erschienen.
Sein schmerzverzerrtes … Miriam wendet sich ab … zu Marcel hin, der sie mit großen Augen ansieht, während sie ihn in sich zieht …
Es war richtig, was passiert war. Nur das zählte. Sie lebten in einer Welt, die ihnen jeden Tag den Tod bringen konnte. Es mochte eine platte Erkenntnis sein, eine einfache Wahrheit, aber wenn jeder Tag der letzte sein konnte, dann war es umso wichtiger, wie man den Tag verbrachte.
Das brachiale Auftauchen dieser elenden Sievers und ihr dummes Schulmädchengekicher trübten Miriams Stimmung nur in geringem Maße. Sie nahm sich vor, es wieder zu tun, sobald sie und Marcel einige ungestörte Minuten hatten.
Miriam schüttelte den Kopf. Wo bin ich heute nur wieder mit meinen Gedanken? Aber es war schön, für eine kurze Zeit an etwas anderes als Leid und Tod zu denken.
Sie fuhren über eine von Bäumen gesäumte Straße. Über den Baumkronen meinte Miriam, ein weißes Gebäudedach zu erkennen.
»Sind wir auf dem richtigen Weg?«, hörte sie Joseph Conrad hinter sich fragen. Der dunkelhäutige Bundeswehrsoldat war ihr immer noch etwas unheimlich, seit er sie, Marcel und Leif in dieser Arztpraxis in Bad Wildbad gefangen genommen und ausgefragt hatte. Aber er war höflich geblieben, selbst als er sie mit der Waffe bedroht hatte. Und er hatte ihnen immerhin das Leben gerettet.
»Ja, das ist die Max-Pruss-Straße. Da vorne an der Ecke ist das Rebstockbad«, erwiderte Leif.
Mit jedem Meter konnte Miriam mehr von dem Gebäude erkennen. Sie sah ein geschwungenes Dach, das sie an alte Paläste aus China oder Thailand denken ließ. Noch ein paar Meter und sie musste diesen Gedanken korrigieren, stattdessen erinnerte sie die Bauweise des Schwimmbads an die Oper in Sydney.
Dann waren sie direkt vor dem Gebäude. Ihr Weg beschrieb dort eine Kurve nach Südosten. Wie Conrad gesagt hatte, waren dort nur wenig Autos zu finden.
Ein modriger Geruch schlug Miriam entgegen, so heftig, dass sie fast die Kontrolle über ihr Rad verlor.
Marcels keuchte entsetzt auf. »Was ist denn das? Das stinkt ja wie auf einer Bahnhofstoilette.«
»Nein, das ist etwas anderes«, murmelte Sievers.
Miriam betrachtete das Gebäude weiter. Dann musste sie ihr Fahrrad stoppen. Ihre Begleiter hielten ebenfalls an.
»Was zum Teufel …?«, hörte sie Leif murmeln.
Direkt in der Kurve blickten sie auf eine große Wandfläche. An den Rändern erkannte Miriam noch die Überreste einer Verzierung. Stattdessen hatte jemand die Wand übertüncht und dann etwas anderes darauf gemalt.
Strichmännchen.
Rostfarbene Strichmännchen mit X-Zeichen als Augen und großen Reißzähnen, die andere rostfarbene Strichmännchen in Stücke rissen und verzehrten. Und dabei blieb es nicht. Miriam sah Strichmännchen, die andere Strichmännchen erhängten, die andere Strichmännchen vergewaltigten, die andere Strichmännchen aufschlitzten, die andere Strichmännchen verbrannten.
Der Zeichenstil war krude, erinnerte sie gleichermaßen an Fingerfarbenmalerei von Kindergartenkindern oder Zeichnungen von Aborigines.
Miriam musste an die Familie denken, die ihnen auf dem Weg nach Bruchsal begegnet war und was der ältere Herr gesagt hatte. In Frankfurt habe sich das Tor zur Hölle aufgetan. Angesichts dieses Bildes konnte sie das nur zu gut glauben.
Es klackte. Das Geräusch erschien in der sie umgebenden Stille überlaut. Sie zuckte zusammen. Doch es war nur Conrad, der den Fahrradständer ausklappte. »Ihr bleibt hier, ich sehe mir das mal an.« Er nahm seine Waffe vom Rücken und bewegte sich langsam die Zugangstreppe hinauf, fest an die Wand gepresst.
»Die spinnen doch alle«, sagte Marcel. »Zombies kriechen aus jeder noch so verdreckten Ecke und die Leute meinen, dass sie die Gegend verschandeln müssten.«
»Nee, das ist was anderes«, erwiderte Miriam. »Das ist Traumabewältigung.«
»Wie jetzt?«
»Als die Alliierten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Kinder aus Konzentrationslagern und den Zügen dorthin befreiten, stellten die Soldaten fest, dass die Kinder Schmetterlinge in das Holz und Metall ihrer Gefängnisse und Käfige geritzt hatten.«
»Schmetterlinge?«, fragte Leif verblüfft.
Miriam nickte. »Ja, Schmetterlinge. Das Bemerkenswerte, dies geschah mehr oder weniger gleichzeitig an verschiedenen Orten, ohne dass die Kinder miteinander in Kontakt standen.«
»Warum ausgerechnet Schmetterlinge?«, kam es von Marcel.
Miriam sah zu Boden. »Sie wollten damit ausdrücken, dass ihre Schmerzen bald vorüber sein würden. Ihr Leid war ein Kokon, aus dem sie bald als Schmetterlinge davonfliegen würden.«
Sie deutete auf das Wandgemälde. »Ich weiß jetzt nicht genau, was das hier darstellen soll, aber ich würde wetten, das fällt in die gleiche Kategorie. Jemand versucht hier eine Situation zu bewältigen, die sich nicht in Worte fassen lässt. Also wird es über Bilder gemacht.«
»So was wie: ›Zeig uns doch bitte auf der Puppe, wo der Bademeister dich berührt hat‹«, sagte Sievers. »Weil kleine Kinder in solchen Fällen oft einfach nicht sagen können, was passiert ist. Ihnen fehlen die Begriffe dafür. Deswegen die Puppe.«
Miriam machte eine vage Handbewegung. »Sehr wahrscheinlich ein ähnliches Prinzip.«
»Ah, da kommt Conrad zurück«, sagte Leif.
Der Soldat ging die Treppe hinunter. Seine Schritte waren langsam, fast schon mechanisch.
War Conrad gebissen worden?
Doch Miriam konnte keine Verletzung erkennen. Und sie hatten auch kein Heulen gehört. Doch er schien ungewöhnlich blass.
Conrad erreichte sein Fahrrad. Er stieg nicht auf, er stand nur da und betrachtete es.
»Conrad?«, sprach Leif ihn leise an.
Conrad hob den Kopf. Er blinzelte, sah sich langsam um.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Leif.
Conrad schürzte die Lippen und runzelte die Stirn. »Nein.«
»Was ist …?«, wollte Leif wissen, doch der Soldat fiel ihm ins Wort.
»Frag nicht! Bitte frag nicht, sonst muss ich es erzählen. Und das will ich nicht.«
Die Gruppe wechselte betretene Blicke.
»Sollen wir weiterfahren?«, meldete sich Sievers zu Wort. Besorgnis stand im Gesicht der Biologin.
»Sehr gute Idee, Doc!« Conrad schwang sich hastig auf sein Fahrrad und klappte den Ständer ein. »Wir fahren weiter. So schnell wie möglich.«
Als sich die Gruppe wieder in Bewegung setzte, warf Miriam einen letzten Blick auf das Schwimmbad.
Was um alles in der Welt kann jemanden wie ihn derartig schocken? Aber will ich das wirklich wissen?
Sie fuhren die Straße weiter entlang und bald war das Gebäude nicht mehr zu sehen.