Gewehr im Fenster

Vom Rebstockbad ging es die Straße der Nationen entlang, vorbei an Grünbepflanzung und Bäumen. Hier und da glaubte Leif, Bewegung in den Büschen zu erkennen.

Leif fuhr dicht bei Conrad, darauf bedacht, den Soldaten im Auge zu behalten. Was auch immer Conrad im Rebstockbad gesehen hatte, er war wie ausgewechselt. Es schien ihm die Kraft geraubt zu haben. Er starrte stur geradeaus, trat mechanisch in die Pedale. Dabei murmelte er immer wieder etwas vor sich hin, was Leif nicht verstehen konnte. Die anderen Mitglieder ihrer Gruppe waren gleichermaßen ratlos.

Leif machte sich Sorgen. Die ganze Zeit über war Conrad ein Fels in der Brandung gewesen, jemand, der entweder immer einen Ausweg kannte oder bei Mutlosigkeit das rechte Wort wusste, das einen wieder auf die Beine brachte. Selbst in der Gewalt von Reuters Soldaten hatte Conrad den Mut nicht verloren und sie mit einer geschickten, wenn auch sehr riskanten Aktion befreit.

Ihn so zu sehen, so gebrochen, das zerriss einem fast das Herz. Leif wollte gar nicht weiter darüber nachdenken. Er konnte nur hoffen, dass Conrad sich bald wieder von diesem Schock erholte. Denn falls nicht …

Sie näherten sich dem Anfang der Schwalbacher Straße, als Leif instinktiv Gefahr verspürte. Anders hätte er es selbst nicht beschreiben können. Sie wollten in die Straße einbiegen, als sein Unterbewusstsein sich wie eine schwingende Stimmgabel meldete.

Er bremste scharf. Das Rad schlingerte, Leif fing sich mit einem Fuß ab. Hinter ihm bremste die Gruppe ebenfalls, was mit einigen Flüchen einherging. Conrad sprang vom Rad und zog seine Waffe. Ein fragender Blick ging zu Leif.

»Was sollte das denn?«, maulte Marcel.

Leif zischte gereizt und bedeutete ihm mit erhobener Hand, dass er schweigen sollte.

Angespannt blickte er die Schwalbacher Straße entlang und lauschte. Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht. Er hörte es, aber er konnte es nicht bestimmen.

Für die Frankfurter Vorstadt typisch, bestanden die Gebäude auf der linken Seite aus dreistöckigen Mietshäusern. Keine grauen Betonklötze, sondern eher Biedermeierstil. Die Schwalbacher Straße war von einzelnen Bäumen gesäumt, zwischen denen jeweils immer drei oder vier Autos im rechten Winkel zur Straße geparkt waren. Die rechte Seite bestand, soweit Leif das sehen konnte, aus weißen Gebäuden mit Sandsteinbasis.

Alles schien normal. Und dennoch war da etwas. Irgendwo am Rande der Wahrnehmung.

Leif sah sich um. Weiter rechts, die Idsteiner Straße hinunter, entdeckte er ein Gebäude mit orangen Fensterrahmen. Ein Kindergarten?

»Können wir jetzt weiter?«, hörte er Sarah flüstern.

Leif lauschte.

Oh nein! Er begriff, was ihn da gestört hatte, was ihm sein Unterbewusstsein mitteilen wollte. Schlurfer! Verflucht viele Schlurfer! Sie waren ganz in der Nähe.

»Runter von der Straße, wir müssen von der Straße runter«, stieß er hervor. »Aber leise!«

Er stieg vom Rad und schob es vorsichtig auf die linke Seite der Schwalbacher Straße, direkt zwischen einen roten Kastenwagen und einen dunkelblauen BMW. Noch während die anderen ihm dies gleichtaten, fiel Leif siedend heiß ein, was er auf ihrer Flucht von dem SB-Warenhaus beobachtet hatte.

Er schluckte und näherte sich wachsam den getönten Scheiben des BMW. Es dauerte einige Sekunden, bis er das Innere erkennen konnte.

Der Wagen war leer. Kein Schlurfer zu erkennen. Sein Besitzer musste zwar ein asozialer Drecklappen sein, was Leif an der hohen Anzahl von Zigarettenstummeln und leeren Bierdosen im Fußraum des Wagens festmachte, doch der BMW enthielt keine Untoten.

»Leif, was ist los?«, fragte Miriam leise. Sie alle kauerten jetzt in der Lücke zwischen den Fahrzeugen, die Fahrräder lehnten an der Vorgartenmauer. Marcel kniete neben Miriam, er hatte die Feuerwehraxt gezogen und wog sie in den Händen.

»Schlurfer«, hauchte Leif zurück. »Sie sind hier irgendwo, ich kann sie hören.«

»Was?« Marcel wollte aufspringen, doch eine sanfte Berührung von Miriam hielt ihn zurück.

»Wir müssen wissen, wo sie sind«, flüsterte Leif. Leichter gesagt als getan, dachte er. Conrad hatte seine Waffe gezogen, machte aber keine Anstalten, sich zu erheben. Marcel konnte er nicht schicken, der junge Mann schien nicht gerade gut im Anschleichen zu sein. Und Miriam wollte er dieser Gefahr nicht aussetzen nach allem, was sie schon durchgemacht hatten. Blieben nur noch er und Sievers. Sein Blick fand die Augen der Biologin.

Er musste nichts sagen, Sievers hatte es schon begriffen. »Ich schaue nach.«

»Oh nein, bitte bleib hier.« Sarah klammerte sich an den Arm der Wissenschaftlerin.

Die größere Frau löste ihre Hand sanft ab. »Keine Angst, ich bin gleich wieder da. Die Leute hier werden nicht zulassen, dass dir etwas geschieht.«

Geschmeidig erhob sich Sievers und schlüpfte aus der Lücke. Leif kam nicht umhin, die Geschicklichkeit Sievers’ zu bewundern. Trotz ihres massiven Körperbaus bewegte die Biologin sich so anmutig wie ein Panther.

Sievers ging in die Mitte der Straße und lauschte. Sie orientierte sich. Dann setzte sie sich zielstrebig in Bewegung, die Idsteiner Straße entlang. Sie verschwand um eine Hausecke.

Bange Minuten vergingen.

Leif lauschte ebenfalls. Mit jeder weiteren Sekunde erwartete er, das Heulen der Schlurfer zu hören, dieses unmenschliche Geräusch, mit dem sie verkündeten, ein weiteres Opfer gefunden zu haben.

Opfer. Das Wort gefiel ihm in diesem Zusammenhang nicht. Es erhöhte die Schlurfer in seinen Augen viel zu sehr, gab ihrem Tun einen unpassend spirituellen Anstrich. Die Schlurfer waren weniger als Tiere, denn ihr Handeln hatte keinen Sinn, außer Leid und Tod. Welches Tier tat so etwas? Welches Tier fraß nur und kümmerte sich sonst um nichts? Beute! Das waren Menschen für die Schlurfer, nichts anderes. Die Untoten jagten und fraßen Menschen, aber das war auch alles. Sie zeugten keine Nachkommen, jedenfalls nicht im üblichen Sinne, sie zeigten überhaupt keine familiären oder sozialen Strukturen. Sie waren eine Masse tödlicher Einzelgänger.

Leif atmete tief durch. Er lehnte sich zurück und spürte das Metall des Kastenwagens in seinem Rücken. Seine Nerven lagen blank, seine Finger waren schweißnass. Ich pack das nicht mehr lange.

Etwas berührte ihn an der Schulter. Fast wäre er aufgesprungen. Aber es war nur Sievers.

Die Biologin ging auf ein Knie. Sarah wollte schon an ihre Seite eilen, doch eine Handbewegung von Sievers hielt sie zurück.

»Da ist eine Schule«, sie deutete mit dem Daumen auf die weißen Gebäude mit Sandsteinbasis, »wohl eine Grundschule, wenn ich mich nicht irre. Sehr viele Zombies lungern auf dem Schulhof herum.«

»Sehr viele?«, fragte Miriam mit deutlicher Irritation in der Stimme. »Was heißt hier: ›sehr viele‹?«

Sievers zählte vier Finger ab. »Eins, zwei, viele, sehr viele. Ich hab mich nicht damit aufgehalten, eine Volkszählung zu machen.«

Miriam schnitt eine Grimasse.

»Wenn einer von denen losheult, sind wir gearscht«, sagte Marcel.

»Hm«, machte Sievers. »Sollen wir nach einem Umweg suchen?«

Alle Augen richteten sich auf Leif. Der biss sich auf die Unterlippe. »Durch die Schwalbacher Straße kommen wir am schnellsten in die Hellerhofstraße, zu unserem Ziel. Wir wissen nicht, wie es in den anderen Straßen aussieht und auf was wir stoßen könnten, wenn wir nach einem anderen Weg suchen. Die Straße an sich ist ja frei.«

Als keine Reaktion erfolgte, erkannte Leif, dass die Gruppe ihm das Kommando übertragen hatte. Wieder einmal fühlte er sich zurückversetzt in die Zeit vor der Katastrophe, als er noch für Lykos Maskuli gearbeitet hatte. Dort wurde er oft in Workgroups zum Sprecher und Präsentator ernannt. Aber nicht, weil man ihm besonders vertraute, sondern weil seine hochgeschätzten Kollegen ihn vor den Bus werfen konnten, falls das Projekt scheiterte.

Doch wenn die Gruppe ihm diese Autorität anvertraute, dann wollte er sie auch nutzen. »Ich sage, wir riskieren es. Wir schieben die Räder so langsam wie möglich durch die Straße, halten uns auf der linken Seite auf. Falls die Schlurfer losheulen, dann geben wir Vollgas. Ich gehe zuerst, dann Conrad, Marcel, Miriam, Sarah und dann Sie, Doc. Einwände?«

Niemand sagte etwas, alle nickten, auch Sarah, obwohl ihr Gesicht einen leichten Grünstich hatte.

»Dann los!«

Auf einem Fahrrad dauerte es vielleicht eine Minute, wenn man gemütlich radelte, diesen Teil der Schwalbacher Straße zu durchqueren. Zu Fuß dauerte es länger.

Aber langsam ein Fahrrad neben sich herzuschieben, vorsichtig einen Schritt nach dem anderen zu machen und dabei so sanft aufzutreten, dass nichts knackte, knisterte oder ratterte, dies verwandelte den Weg in eine nervliche Tortur.

Leif musste an den Spruch ›Wer sein Leben liebt, der schiebt‹ denken. Ein auf absurde Weise passender Spruch, wenngleich der Schöpfer dieser Aussage sich auf den Schwarzmarkthandel in Deutschland – soll heißen: das ›Schieben‹ von illegalen Waren – nach dem Zweiten Weltkrieg bezog. Wandelnde Tote, die lebende Menschen fraßen und auf Geräusche reagierten, waren offensichtlich nicht Teil des Konzepts gewesen.

Dank der in der Stadt vorherrschenden Totenstille wurde Leif erst so richtig bewusst, wie laut ein Fahrrad im Leerlauf sirren konnte. In jeder Sekunde rechnete er damit, dass irgendwo Geheul losbrach.

Ein weitaus größeres Problem stellten die ganzen Autos in der Straße dar. Sie hatten ein Drittel des Weges zurückgelegt, als Leif erneut daran dachte, dass sich Untote in den Fahrzeugen befinden könnten. Wenn das stimmte, wenn eine der Kreaturen auf sie aufmerksam wurde …

Weiter ging es, Schritt für nervenaufreibenden Schritt.

Zu Leifs Schrecken endeten die weißen Gebäude mit Sandsteinbasis nach der Hälfte der Schwalbacher Straße. An sie schloss sich ein grüner Metallzaun an. Spärlich gepflanzte Büsche dahinter boten kaum Sichtschutz. Die Schlurfer auf dem Gelände der Schule waren gut zu sehen.

Leif wäre am liebsten weggelaufen, doch er beherrschte sich. Zwang sich dazu, langsam weiterzugehen und das Fahrrad neben sich herzuschieben. Zentimeter um Zentimeter.

Ein Schlurfer war nur geschätzt fünf Meter von ihm entfernt, auf der anderen Seite des Zauns. Die milchig weißen Augen starrten grob in die Richtung der Schwalbacher Straße, aber der Untote stand nur unbeteiligt herum. Er zeigte keinerlei Reaktion. Im Leben war er ein hochgewachsener Mann gewesen, ein kurzer schwarzer Vollbart und eine schwarze Hornbrille zierten sein Gesicht. Von seinem schwarzen Hemd mit Blümchenmuster hingen nur noch Fetzen an seinem Oberkörper.

Die anderen Untoten dahinter trugen ähnliche Kleidung. Leif fragte sich, wer sie waren. Lehrer? Eltern? Kinder sah er keine.

Sie waren an dem Zaun vorbei, das Ende der Straße war nur noch wenige Meter entfernt, da zischte Conrad plötzlich: »Leif! Mach keine falsche Bewegung!«

Leif zuckte zusammen und beherrschte sich mühsam, obwohl alles in ihm danach schrie, umgehend wegzulaufen.

»Schau nicht direkt hin«, sagte Conrad leise, aber eindringlich. »Beweg deinen Kopf leicht nach links und mach den Rest mit den Augen. Nein, dreh dich nicht um!«

Leif zuckte zusammen und richtete den Kopf wieder nach vorn. Dann drehte er sich etwas nach links und blickte nach oben. Aus dem mittleren Fenster im dritten Stock ragte ein Gewehrlauf. Er war auf sie gerichtet.

»Keine falsche Bewegung«, kam es von Conrad. »Das gilt auch für euch.«

Leif brach der kalte Schweiß aus. Es war beileibe nicht das erste Mal, dass jemand eine Waffe auf ihn richtete. Aber in diesem Moment machte es eine schlechte Situation schier unerträglich.

Sie hatten keine Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen. Mitten auf der Straße standen sie praktisch auf dem Präsentierteller. Wer auch immer die Waffe hielt, sie waren ihm ausgeliefert. Hinzu kam noch, dass der Knall ihnen die Untoten im Schulhof auf den Hals hetzen würde.

Leif fühlte eine Stahlklammer um seine Brust. Er atmete rasselnd. Es flimmerte vor seinen Augen. »Ich … ich weiß nicht …«, stammelte er.

»Leif!«, zischte Conrad. »Hör zu. Vertrau mir. Geh weiter.«

Leif schluckte. »Was? Ich kann doch nicht einfach …«

»Doch, du kannst. Geh einfach weiter. Aber ganz langsam. Mach keine hastigen Bewegungen.«

Leifs Mund war trocken. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er wollte sich übergeben. Stattdessen hob er den Fuß und machte einen Schritt. Und noch einen. Und noch einen. Er wagte es nicht, nach oben zu blicken, starrte stur geradeaus. Er stellte sich aber vor, dass ihm der Gewehrlauf folgte.

Marcel hatte ihm in der Kaserne anvertraut, wie es sich für ihn angefühlt hatte, auf das Gebäude der Feldjäger zuzugehen, mit erhobenen Armen und nacktem Oberkörper, im vollen Bewusstsein, dass da ein Scharfschützengewehr auf ihn zielte. Die ganze Zeit hatte er Angst gehabt, dass er getroffen würde. Der Schmerz wäre heftig gewesen, der Treffer hätte sich erst Sekunden später, als er schon hilflos auf dem Boden läge, bemerkbar gemacht.

Leif ging weiter.

Und dann erreichte er das Ende der Schwalbacher Straße. »Alles klar«, hörte er Conrad sagen. »Noch ein paar Meter, dann können wir aufsitzen.«

Als sie wieder im Sattel saßen, fragte Leif den Elitesoldaten, woher dieser gewusst habe, dass man nicht auf sie schießen würde.

»Das wusste ich gar nicht«, sagte Conrad. »Aber das Ganze erschien mir eher wie eine Drohgebärde. Da wollte uns jemand wissen lassen, dass er oder sie bewaffnet ist und uns gesehen hat. Wenn die Person uns wirklich hätte etwas tun wollen, dann hätte sie einfach geschossen, sobald sie das Gewehr aus dem Fenster geschoben hatte.«

»Bist du dir da sicher?«

»Ich würde das tun.«

»Ah.« Leif wusste nicht, wie ihm diese Antwort schmeckte. »Geht es dir wieder besser?«

Conrad nickte, auch wenn sein Gesichtsausdruck noch verkniffen erschien.

Als er nicht mehr sagte, fragte Leif: »Was war da im Rebstockbad los?«

Conrad winkte ab. »Noch zu früh. Später. Lass uns weiterfahren.«