Janitscharen

»Wir wissen beide, dass das kein Beinbruch ist«, sagte die Bischöfin, kaum dass sie sich im abgetrennten Bereich der Wahlkapelle befanden.

Sebastian musterte die Frau. Er stand einer Person gegenüber, die vielleicht ein Jahrzehnt jünger war als er und die sich sehr gut mit dem Begriff ›Vollweib‹ beschreiben ließ. Ein gut gefüllter Körper, der nicht in Fettleibigkeit überging, was Sebastian sogar durch den Talar erkennen konnte, sondern eine Figur, die an genau den richtigen Stellen prall wirkte. Ihr Gesicht mit dem herzförmigen Mund erschien jung, aber bei genauerer Betrachtung fanden sich sanfte Krähenfüße um die haselnussbraunen Augen, die auf das wahre Alter der Bischöfin hindeuteten.

Dies war einer der wenigen Momente, in denen Sebastian darüber froh war, die protestantische Konfession gewählt zu haben.

»Es ist kein Beinbruch«, sagte Sebastian.

Sie nickte. »Wie lange ist es her?«

»Hm.« Er machte eine vage Handbewegung. »Vielleicht zwanzig Minuten, kann aber auch eine halbe Stunde sein.«

Die Bischöfin atmete tief durch. »Mögest du die Apotheose empfangen, so Gott es will, Vincent«, intonierte sie mit geschlossenen Augen.

Sebastian lehnte sich an einen Pfeiler und verschränkte die Arme. »Was werden Sie mit dem Jungen machen?«

Sie öffnete die Augen. »Wir werden ihn an einen sicheren Ort bringen, damit er dort seine Vergöttlichung in Ruhe hinter sich bringen kann. Er hat Sie hergebracht, nun wird er seine letzten Riten in allen Ehren empfangen.«

Sebastian lächelte. »Sie wissen, wer ich bin?«

»Der Vorsteher des Tempels von Bad Wildbad hat mich per Satellitentelefon informiert.«

Mit dem Daumen deutete Sebastian auf den verhangenen Zugang zu der Wahlkapelle. »Dann können Sie sich auch denken, wer das Mädchen ist.«

Wieder nickte die Bischöfin. »Hannah Bernhards Tochter.«

Klug und hübsch, dachte Sebastian. »Oh, sie ist weit mehr als das.« Tessa zuliebe hätte er eigentlich nach ihrer Mutter fragen müssen, aber er hatte nun eine andere Aufgabe zu erfüllen. »Sie ist unsere letzte Hoffnung.«

Die Bischöfin verschränkte die Arme, was ihr sehr gut stand. »Das klingt ja dramatisch.«

Sebastians Lächeln wurde breiter. »Ich habe noch nicht mal angefangen. Damit ich das richtig verstehe, Sie und Ihre Leute werden einfach warten, bis es mit Vincent zu Ende geht und ihn dann aus dem Dom werfen?«

»Jetzt klingen Sie nur pietätlos«, erwiderte die Bischöfin trocken.

Sebastian lachte. »Verzeihung, das war nicht meine Absicht. Aber was, wenn ich Ihnen sage, dass dies in Vincents Fall unnötig ist?«

»Ich würde sagen, dass Sie sich irren, denn der Biss der Engel …«

»… bringt den Unreinen die Vergöttlichung. Erst die reinen Menschen werden davon verschont. Ja, ich habe die Thesen Ihres Glaubens gelesen. Und deswegen sage ich Ihnen, dass Ihre Riten in Vincents Fall unnötig sind.«

Ihr Gesicht zeigte keine Regung, aber ihr ganzer Körper war von einer Sekunde auf die nächste zum Zerreißen gespannt. »Fa… fahren Sie fort.«

Sebastian lächelte ob ihres kurzen Stotterns. »Lassen Sie Vincent einfach dort liegen, wo er sich jetzt befindet. Dann werden Sie es sehen.«

Der Gesichtsausdruck der Bischöfin wurde hart. Sie kam auf ihn zu, bis sie direkt vor ihm stand. Ein sanfter Parfümgeruch ging von ihr aus. »Wissen Sie eigentlich, was Sie da von mir verlangen?«

»Eine ganze Menge«, erwiderte Sebastian ungerührt. Er beugte sich nach vorn, bis sein Gesicht nur noch eine Handbreit von ihrem entfernt war. Sie zuckte nicht zurück. »Vor allem Vertrauen. Aber dafür können Sie auch viel gewinnen.«

Langsam machte die Bischöfin einen Schritt rückwärts, nicht furchtsam oder wütend, sondern nachdenklich. »Sie sind fest von Ihren Worten überzeugt«, murmelte sie.

»Nennen wir es einen gefestigten Glauben«, erwiderte Sebastian.

Dies entlockte der Bischöfin ein Schnauben. »Ich glaube, wir können uns diesen Mumpitz sparen. Woher wissen Sie, dass Vincent nicht die Apotheose erfahren wird?«

Wieder deutete Sebastian auf den Zugang. »Durch das Mädchen. Vier Mal wurde Tessa Bernhard bereits gebissen. Und ich habe noch andere ihrer Altersgenossen und jüngere Kinder gesehen, die zwar Bisswunden davongetragen haben, aber ansonsten weiterhin Menschen geblieben sind. Sie suchen nach reinen Menschen, die von der Gabe der Engel verschont bleiben? Sie haben sie schon längst unter sich. Es sind die Kinder. Auf ihnen wird das nächste Reich der Menschen errichtet, so wie ich es in den Schriften der Verkünder las.«

Die Bischöfin … taumelte.

Sebastian wollte ihr zu Hilfe eilen, doch sie fing sich von allein. »Wie konnten wir nur so blind sein?«, murmelte sie. »Wie konnte uns das entgehen? All die Prüfungen, diese ganze Ungewissheit, die Nächte des Zweifels.« Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, es steigerte sich schnell zu einem trockenen Lachen. »Der HERR arbeitet immer auf mysteriöse Weise, selbst wenn seine Worte noch so klar erscheinen. Ich hätte es selbst erkennen müssen. Trotz all den Menschen in Frankfurt sah ich keine Engel, die jugendlichen Alters waren oder noch Kinder. Ich dachte, dass gerade diese Menschen als erste von den Engeln gestraft wurden.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte es selbst erkennen müssen. Wie konnte ich nur so blind sein gegenüber dem Offensichtlichen?«

Sebastian sagte nichts. Er verstand, dass die Bischöfin ihm sehr vertraute, wenn sie sich ein derartiges Verhalten in seiner Anwesenheit erlaubte.

Sie richtete sich auf und straffte die Schultern. Was ihr selbst in dem Talar sehr gut stand. »Wir haben auf jeden Fall viel Arbeit vor uns. Sämtliche Kinder und Jugendlichen müssen eingesammelt werden, wir brauchen Trainingseinrichtungen, Geräte, Pläne.« Sie sprach mehr zu sich selbst als zu Sebastian. Wenigstens fängt sie sich schnell und suhlt sich nicht in Selbstmitleid, dachte er, während die Bischöfin weiterredete: »Wir brauchen Leute. Viel mehr Leute. Die Jugendlichen müssen katechisiert werden, indoktriniert. Nur mit dem richtigen Fundament kann das nächste Reich errichtet werden.«

»Das wäre eine schlechte Idee«, sagte Sebastian. Das hat sie nicht ganz durchdacht.

Die Bischöfin blickte ihn hart an. »Was meinen Sie?«

»Sie planen, aus den Kindern eine Armee von Janitscharen zu machen, ähnlich den Sklavensoldaten des Osmanischen Reichs. Das wird auf lange Sicht nicht funktionieren. Erst mal schrecken Sie damit mögliche Rekruten ab, zweitens werden Ihre Janitscharen irgendwann begreifen, dass sie Sie und die Verkünder nicht brauchen. Sie würden sich den gleichen Verfall in das Fundament holen, der schon dafür gesorgt hat, dass Gott diese Prüfung überhaupt auf uns herabschickte.«

»Aber die Kinder sind rein«, sagte die Bischöfin. »Ihre göttliche Essenz erhebt sie über diesen Verfall.«

Sebastian schüttelte den Kopf. »Wenn Sie das wirklich glauben, dann hätte ich da eine sehr günstige Brücke zu verkaufen … Nein, hier müssen wir etwas geschickter vorgehen.«

Die Bischöfin hob amüsiert eine Braue. »Wir?«

Sebastian grinste. »Wie ich bereits sagte, ich habe die Schriften der Verkünder gelesen. Auf Gedeih und Verderb möchte ich mich der Sache anschließen.«

Sie nickte. »Fahren Sie fort.«

»Gut. Wie viel wissen Sie davon, was in Bad Wildbad geschah?«

»Wie ich bereits sagte, der Vorsteher hat mich über einiges informiert.«

»Aber hat er Ihnen auch gesagt, dass der Tempel von Bad Wildbad plante, Tessa Bernhard der Prüfung zu unterziehen? Nachdem sie schon einmal gebissen worden war. Die Verkünder sind dabei sehr ruppig vorgegangen und Tessa wurde fast von einem Engel verspeist, was nur durch das beherzte Eingreifen ihres Vaters verhindert werden konnte.«

»Hannah Bernhards Mann lebt noch?«, fragte die Bischöfin.

Sebastian machte eine wegwerfende Handbewegung. »Bis vor einigen Stunden war er noch am Leben, da habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Verstehen Sie doch, Tessa und Vincent können, nein, werden die Keimzelle einer Armee von Jugendlichen sein, die das Geschenk der Engel nicht fürchten müssen. Aber Tessa wird nach ihren Qualen in Bad Wildbad niemals gemeinsame Sache mit den Verkündern machen. Es hat sie schon große Überwindung gekostet, sich auf den Weg hierher zu machen, geschweige denn, Vincent nicht einfach unterwegs den Engeln zu überlassen.«

Die Bischöfin presste ihre hübschen Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Sebastian sah, dass ihr seine Worte nicht schmeckten, aber sie fand keine Argumente dagegen. »Was schlagen Sie vor?«

»Eine Ausweitung dessen, was ich mit Tessa und Vincent ohnehin schon anfing. Eine Jugendbewegung, wenn Sie so wollen, in der Kinder und Jugendliche den Kampf gegen die Engel erlernen. Nach außen hin ein weiterer Dienst im Namen der Menschlichkeit, wie ihn die Verkünder seit Ostern anbieten, im Inneren kann man ausgewählten Rekruten den wahren Glauben nebenher nahebringen.«

Die Bischöfin schürzte die Lippen. »Das könnte gehen. Was ist Ihr Beitrag dazu?«

»Ich werde die Kinder im Kampf unterrichten.«

Sie faltete die Hände zu einem Dach. »Wie wollen Sie …? Nein, diese Frage stelle ich nicht. Ich sehe Ihnen an, dass Sie kein … nun … typischer Pfarrer sind. Dennoch würde es mich interessieren, woher Sie diese Kenntnisse haben.«

Sebastian lächelte. »Irgendwann. Aber dafür müssen wir uns erst besser kennenlernen.«

»Dann ist es abgemacht.«