Wiedersehen
Leif spürte erste Anzeichen von Seitenstechen.
Obwohl er regelmäßig lange Strecken lief und, jedenfalls vor der Katastrophe, jeden Morgen mit hundert Liegestützen begann, zehrten die letzten Tage an seiner Substanz. Was die relativ kurze Strecke zu ihrem Ziel in eine schiere Tortur verwandelte.
Ein Schlurfer wankte in seinen Weg, drehte sich zu ihm und öffnete das halb verfaulte Maul zu dem üblichen Geheul. Leif stieß ein abgewürgtes Geräusch aus, schwang im Laufen den Zimmermannshammer und zerschmetterte den Kopf des Untoten. Er lief an der Leiche vorbei, ohne einen weiteren Blick auf sie zu verschwenden.
Da! Da vorne!
Endlich war ihr Ziel in Sicht, die Zeitungsredaktion.
Leif war nur zweimal dort gewesen. Einmal hatte er Hannah einen Karton mit Unterlagen von zuhause vorbeigebracht, das andere Mal hatte die Lobby des Gebäudes als Treffpunkt für die Wanderung zur redaktionellen Weihnachtsfeier gedient.
Ursprünglich ein mehrstöckiges Gebäude aus roten Ziegelsteinen, wies es dieser Tage einen modernen Anbau aus Glas und Stahl auf, der den Haupteingang darstellte. Davor führte eine Zufahrt um ein Blumenbeet, dessen Pflanzen die Zeitungsheadline darstellten. Vermutlich würde das Ganze jetzt eher zerrupft wirken.
Größere Sorgen bereiteten Leif aber die Schlurfer, die vor dem Haupteingang lungerten.
Es klirrte laut neben ihm, als Vera Sievers den Kopf eines massigen Untoten durch die ohnehin schon verästelte Frontscheibe eines Volkswagen rammte. Sie bemerkte Leifs Blick, grinste und zeigte ihm einen Daumen nach oben.
Wenn wenigstens einer Spaß hat, dann war es nicht umsonst.
Sie waren jetzt nur noch knapp zwanzig Meter vom Haupteingang entfernt. Leif blieb stehen, brachte mühevoll seine Atmung unter Kontrolle und winkte Conrad zu sich. »Wie gehen wir vor? Soll einer von uns sie weglocken?«
Der Soldat setzte zu einer Antwort an, doch irgendwo hinter ihnen in der Ferne heulten mehrere Untote auf, was die Aufmerksamkeit der Schlurfer vor dem Eingang erweckte. Diese wankten umgehend in die Richtung der Gruppe. Bald würden die Untoten sie bemerken.
Conrad presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. »Nein, bringt nichts. Es wird langsam dunkel. Die Gefahr ist zu groß, dass, wer auch immer sich dafür hergibt, es nicht mehr hierher zurückschafft.« Er packte seine Waffe. »Hier hilft nur der frontale Angriff.«
Leif seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich habe befürchtet, dass du das sagen würdest.«
Conrad machte mit einer kreisenden Handbewegung die anderen auf sich aufmerksam. »Alle herhören!« Er deutete auf den Eingang zur Redaktion. »Da ist unser Ziel. Dort müssen wir hin. Diese Viecher sind uns im Weg. Die sind ein Hindernis, das wir überwinden müssen. Und wir werden es überwinden. Aber dafür muss jeder seinen Teil beitragen. Marcel, du übernimmst die linke Flanke, die Axt gibt dir die Reichweite. Leif, Doc, ihr zwei kümmert euch um die rechte Seite. Ich gehe in der Mitte vor und pflanze einige Kugeln in Köpfe. Das ist die klassische Keilformation. Das ist wichtig, also merkt euch das: Jeder kümmert sich nur um seine Seite. Keine Alleingänge.«
»Und was mache ich?«, begehrte Miriam auf.
»Du passt auf, dass Sarah nicht wieder an den Haaren gezogen wird, Rotkäppchen. Noch Fragen? Keine? Dann los!«
Als hätten sie auf ein Stichwort gewartet, heulten die Schlurfer, die auf sie zuwankten, los.
Conrad drehte auf der Ferse um, legte an und eröffnete das Feuer. Vier, fünf Mal knallte es wie ein Feuerwerkskörper in Leifs Ohren. In den Köpfen einiger Untoter blühten dunkle Löcher auf. Regungslos sackten sie zusammen. Leider hielt das die anderen Kreaturen nicht davon ab, auf die Lebenden vorzurücken. Sie besaßen ja keinen Selbsterhaltungstrieb.
Conrad hängte sich die MP wieder auf den Rücken und zog ein Kampfmesser.
Dann waren die Schlurfer heran.
Marcel brüllte los, ein gutturaler Kampfschrei. Gleichzeitig packte Sievers die ausgestreckten Arme eines Schlurfers, hob einen Fuß und stemmte ihn dem Untoten mit aller Kraft in die Magengrube. Leif hörte ein Übelkeit erregendes Knirschen und Reißen, dann flog der Untote nach hinten und die Biologin hielt zwei ausgerissene Arme in den Händen.
Ein weiterer Untoter drang auf sie ein, Leif schmetterte ihm den Hammer in den Schädel. Der Kopf blieb stecken. Leif zog daran, doch die Leiche wollte das Werkzeug nicht freigeben. Der Hammer hatte sich irgendwie in den Knochen verkeilt. Andere Untote heulten in der Nähe.
Die Klauenhände des Schlurfers vor ihm fassten nach seinem Arm. Leif packte den Griff des Hammers mit beiden Händen, riss den Untoten herum und schmetterte ihn auf den Boden. Wieder griffen die Klauenhände nach ihm.
Leif hob den Schlurfer am Hammergriff hoch und schmetterte ihn erneut auf den Boden. Und noch einmal. Und noch einmal. Nach dem fünften oder sechsten Mal kam der Hammer frei. Die Kreatur regte sich nicht mehr.
In Leif kochte es. Dunkle Flecken tanzten vor seinen Augen. Sein Atem ging rasselnd, er hatte die Lippen zurückgezogen und fletschte die Zähne. Sein Herz hämmerte in der Brust. Gehetzt sah er sich um.
Marcel schlug einem Untoten nach dem anderen den Kopf ein. Conrad stach einem Schlurfer ins Auge und brachte ihn zu Fall. Sievers packte eine dürre Untote im Geschäftsanzug, hob sie hoch und drosch sie mit dem Kopf voran gegen die nächste Bordsteinkante. Ein weiterer Untoter näherte sich ihr von hinten.
Leif rannte los, überwand die Entfernung in wenigen Schritten und schlug dem Untoten den Hammer gegen den Hinterkopf. Sein Fuß glitt aus. Der Schwung des Schlags wurde vom Hinterkopf abrupt abgebremst, der Asphalt kam ihm entgegen. Hart schlug Leif auf, der Hammer glitt ihm aus den Händen. Kurz sah er nur schrille Farben.
Hustend rang er nach Luft. Neben ihm heulte es. Kalte Klauen begrapschten ihn.
Das brachte ihn wieder zur Besinnung. Leif rappelte sich auf. Der Untote, dem er auf den Hinterkopf geschlagen hatte, lag neben ihm, war aber halb aufgerichtet und versuchte, ihn zu greifen.
Leif schlug die Klauenhände zur Seite, warf sich aus der Hocke auf den Schlurfer und drückte ihn wieder auf den Boden. Er packte die Kreatur am zerlumpten Revers, zog sie hoch und schmetterte ihren Kopf auf den Asphalt, wieder und wieder und wieder. Doch selbst als der Untote sich nicht mehr bewegte, wollte das Heulen nicht aufhören.
Es dauerte einige Sekunden, bis Leif begriff, dass der Untote gar nicht heulte. Er selbst war es, der sich gerade die Luft aus den Lungen schrie.
Etwas berührte ihn an der Schulter. Leif sprang auf, verschluckte sich dabei. Hustend nahm er die Hände hoch und bemühte sich um eine vage Kampfhaltung, darauf gefasst, gleich wieder kalte Klauenhände zu spüren.
Doch es war nur Sievers. In einer Hand hielt ihm die Biologin gerade seinen Zimmermannshammer hin. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, krächzte Leif. »Tut mir leid, ich hab die Kontrolle verloren.«
»Tun Sie das nicht. Sie haben Conrad gehört. Keine Alleingänge. Das kann schlecht – Achtung!«
Leif wirbelte herum, orientierte sich dabei instinktiv an der Richtung, in die Sievers bei ihrem Warnruf geblickt hatte. Eine heulende Untote kam direkt auf ihn zu, einst wohl eine ältere Frau aus gehobenem Hause, wie er an der Jacke aus Schlangenleder und der Krokodilhandtasche festmachte, die immer noch von ihrer Schulter baumelte.
Leif drosch ihr den Hammer auf das Nasenbein. Es knackte, als der Schädelknochen nach innen brach. Das dämpfte ihr Geheul etwas, aber es stoppte sie nicht. Sie schlurfte weiter auf ihn zu.
Leif machte ein angewidertes Geräusch, holte wieder aus, und schlug erneut zu. Diesmal trieb er den Hammer tief in das Innere des Schädels und setzte der Untoten ein Ende.
Er taumelte einige Schritte zurück, bevor er sich wieder unter Kontrolle hatte. Lange halten wir das nicht mehr durch. Ich gehe jetzt schon auf dem Zahnfleisch.
Er drehte sich um und wollte sich bei Sievers für die Warnung bedanken. Die Biologin prügelte jedoch schon auf einen weiteren Schlurfer ein.
Leif sah sich um. Langsam dünnten die Reihen der Untoten aus. Ihre eigene Gruppe war noch knapp fünf Meter vom Eingang entfernt. Mit einem kurzen Sprint könnte es jemand zur Tür schaffen. Aber Conrad hatte vor Alleingängen gewarnt.
Da sah er es. Eine Lücke zwischen den Schlurfern.
Leif handelte. Er rannte los, tauchte unter den nach ihm greifenden Klauenhänden weg, brachte einen Untoten mit einem Bodycheck zu Fall und dann stand er vor den großen Glastüren.
Leif blinzelte. Hinter ihm heulte es. Er hörte Conrad laut und ausgiebig fluchen.
Er packte die großen Metallgriffe und drückte dagegen.
Die Türen bewegten sich nicht.
Leif zog an den Griffen.
Die Türen bewegten sich nicht.
Leif rüttelte, zerrte, trat gegen die Türen.
Doch die Glasscheiben bewegten sich nicht. Frustriert schrie Leif auf. Dann ließ er seinen Kopf gegen die Scheiben sinken.
Verdammt, dachte er, als er das kühle Glas auf der Stirn spürte. Er war müde. Einfach nur die Augen schließen und einschlafen. Vielleicht spüre ich gar nicht, wie sie mich auffressen. Wenigstens ist Tessa in Sicherheit. Es tut mir so leid, Liebes. Ich konnte deine Mutter nicht finden. Vielleicht sehe ich Hannah ja auch auf der anderen Seite wieder …
Leif wollte sich gerade zu Boden sinken lassen, als sein Blick auf die Sprechanlage des Gebäudes fiel. Die Anlage leuchtete von innen heraus. Strom. Das Gebäude hat Strom.
Leif sprang auf und stach mit den Fingern auf die Taste für die Redaktion.
Bange Sekunden vergingen. Hinter ihm heulte es. Marcel brüllte. Sarah schrie auf.
Bratz, machte die Sprechanlage. Das war kein technischer Fehler, so hatte Hannah ihm das erklärt, sondern ein eingebautes Feature, das den Leuten mitteilen sollte: Achtung, die Sprechanlage wird gerade benutzt.
»Verschwinden Sie!«, sagte eine Männerstimme aus dem Lautsprecher. »Hier gibt es nichts für Sie zum Plündern.«
»Was? Nein!«, rief Leif. »Wir sind keine Plünderer!«
»Was glauben Sie wohl, wie oft ich das zu hören bekomme?«
»Jetzt hören Sie doch mal zu! Wir wollen nichts plündern, wir wollen nur in die Redaktion.«
»Klar. Sie und die ganzen Frankfurter Zombies.«
»Die meine ich doch gar nicht.«
»Natürlich nicht. Hören Sie, es hat mich gefreut, das war mal etwas Abwechslung, aber jetzt verlassen Sie bitte umgehend das Gelände. Auf Wieder…«
»Halt, warten Sie!«, rief Leif verzweifelt. »Mein Name ist Leif Bernhard, ich bin der Ehemann von Hannah Bernhard. Ich bin auf der Suche nach meiner Frau, deswegen haben wir uns hierher durchgekämpft.«
Aus der Sprechanlage kam nichts.
Er hat aufgelegt, dachte Leif. Er hat einfach aufgelegt. Jetzt ist wirklich alles …
Das Summen des Türöffners klang in seinen Ohren wie ein himmlischer Choral. Leif warf sich gegen die großen Glasflügel. Es klackte, die Tür schwang nach innen.
»Ja!«, stieß er hervor. Sein Blick verschwamm. Er blinzelte, bis er wieder klar sehen konnte.
Eine Hand fest am Türgriff wandte Leif sich um. Die Straße zum Haupteingang der Zeitungsredaktion war von Leichen übersät. Nur noch wenige Schlurfer waren auf den Beinen. Denen machten gerade Conrad und Marcel den Garaus, Sievers stand schützend vor Miriam und Sarah.
»Es ist offen!«, rief Leif und winkte. »Es ist offen, wir können rein!«
»Moment, bin hier gerade etwas beschäftigt«, rief Conrad zurück, ohne die Augen von dem Schlurfer zu nehmen, einem etwas dicklichen Herrn im grauen Dreireiher.
Sievers blickte nun ebenfalls zum Haupteingang, grinste breit und scheuchte die beiden anderen Frauen mit Gesten dorthin.
Schließlich fiel der letzte Schlurfer unter einem Axthieb von Marcel. Er und Conrad bewegten sich langsam auf den Eingang zu. Im Gehen reinigte der Soldat die Klinge an seinem Ärmel, bevor er sie wieder verstaute.
Bei der Glastür angekommen stieß Conrad Leif grob zurück. Im Gesicht des Soldaten arbeitete es. Leif erwiderte Conrads Blick gelassen. Er war einfach zu erschöpft, um Angst vor ihm zu haben.
Der Türflügel fiel ins Schloss, es klickte laut. »Das war dumm und gefährlich«, sagte Conrad. »Du hättest dabei draufgehen können.«
Leif nickte.
Die Gesichtszüge des Soldaten entspannten sich. Marginal. »Aber wir sind im Gebäude. Und dein Ausfall hat die Aufmerksamkeit der Feinde auf dich gelenkt, was uns einen Vorteil verschafft hat.«
»Wenn es dumm ist und funktioniert …«, hob Marcel an.
»… dann ist es immer noch dumm und du hast Glück gehabt«, fiel Conrad ihm ins Wort.
»Äh, was ist das?«, fragte Sarah.
Alle drehten sich zu ihr um.
Hinter den Glastüren war die Lobby der Redaktion, eine große Halle, mit anthrazitgrauem und schwarzem Marmor ausgekleidet. Die Empfangstheke aus Holz und Milchglas war unbesetzt.
Dafür stand inmitten des Raums ein Stuhl, auf dem jemand saß. Ein älterer Herr mit weißer Haarkrause. Leif blinzelte und sah genauer hin. Der Mann saß nicht nur da, er war auf dem Stuhl festgebunden. Paketbänder, Kabelbinder, Draht – all dies war um seine Arme, Beine und den Oberkörper gewickelt, um ihn auf dem Stuhl, einem wuchtigen Ding aus Edelstahl, zu fixieren. Um dieses seltsame Gebilde herum lag ein Kreis aus einzelnen Zeitungsblättern auf dem Boden, mit einem Radius von etwa zwei Metern.
Vor dem Kopf des Mannes hing eine aufgeschlagene Zeitung, mit zwei Schnüren an der Decke befestigt.
Der Mann bewegte sich, versuchte die Fesseln abzustreifen. Leif wollte schon zu ihm eilen, da sah er die Augen. Milchiges Weiß.
»Oh Gott, was ist denn hier los?«, murmelte Miriam.
»Na toll, noch mehr Verrückte«, sagte Marcel und hob die Axt. »Ich bin dafür, dass wir den Ersten erschlagen, der uns komisch kommt.«
Leif hörte Schritte. »Da hast du wahrscheinlich gleich Gelegenheit zu.«
Die Zugangstür zum Treppenhaus schwang auf und jemand trat heraus. »Bernhard, du Sackgesicht! Du lebst! Das hätte ich nicht erwartet! Du siehst aus, als hättest du dich beim Laufen eingenässt.«
Leif fühlte seine Kinnlade nach unten klappen. Dann grinste er breit. »Kankkunen? Willem Kankkunen? Was machst du denn hier?«
»Kennst du den?«, fragte Marcel.
»Was? Ja, natürlich. Nimm die Axt runter«, zischte Leif durch einen Mundwinkel.
Der Neuankömmling war ein Mann in Leifs Alter, gekleidet in einen dunkelblauen Anzug. Willem Kankkunen war einen Kopf größer als Leif, aber viel dünner. Seinen finnischen Wurzeln verdankte er die langen, weißblonden Haare, die er immer in einem Zopf trug.
Lachend kam Kankkunen auf sie zu, machte dabei einen großen Bogen um den Kreis aus Zeitungen und den Untoten auf dem Stuhl. »Meine Fresse, es tut echt gut, dich zu sehen.«
Er streckte die Hand aus. Leif ergriff sie. Nach einem kurzen Händeschütteln zog Kankkunen ihn in eine feste Umarmung. »Ich kann es kaum glauben, du stehst lebendig vor mir. Das ist ein verdammtes Wunder!«
»Das kannst du laut sagen«, erwiderte Leif.
»Möchtest du uns nicht vielleicht vorstellen?«, fragte Conrad.
»Oh, ja, tut mir leid. Das ist Willem Kankkunen, ein guter Kollege von Lykos Maskuli. Kankkunen, das sind die Leute, denen ich mein Überleben bis jetzt verdanke.« Leif stellte seine Begleiter in der Reihenfolge vor, in der er sie kennengelernt hatte, mit einigen Erklärungen zu den Umständen.
Diese Erklärungen ließen Kankkunens buschige Augenbrauen in die Höhe schießen. »Leck mich fett«, sagte er.
Leif zuckte mit den Schultern. »So was in der Art. Aber jetzt bist du dran. Wie bist du hierhergekommen? Wie hast du überlebt?«
»Ob du es glaubst oder nicht, wegen Hannah. Sie hatte mich noch angerufen, ich solle in die Redaktion kommen. Tja, dann ging der ganze Ärger los und ich saß hier fest. In den folgenden Tagen haben sich die Familien der Redaktionsmitarbeiter hier eingefunden. Seither beobachten wir die Lage.«
»Ja, das wäre die nächste Frage«, sagte Conrad. »Warum habt ihr Strom?«
»Das weiß ich auch nicht so genau«, erwiderte Kankkunen. »Die Stromversorgung in der Stadt ist an sich zusammengebrochen, alles ist energetisch tot. Und wenn ich ›an sich‹ sage, dann meine ich, dass es einige Ausnahmen gibt.«
»Welche Ausnahmen?«, fragte Leif.
»Oh, das musst du den Chefredakteur fragen. Der weiß das. Kommt mit, der will euch sowieso kennenlernen.«
Kankkunen führte sie ins Innere des Redaktionsgebäudes. Das graue Linoleum auf dem Boden, die weißen Wände, behängt mit eingerahmten Artikeln aus siebzig Jahren Zeitungsgeschichte … Leif atmete tief durch, genoss den Geruch nach Plastik und Druckertoner und schlechtem Kaffee, der in der Mikrowelle aufgewärmt wurde. Der Geruch eines normalen Arbeitstages. Leif fühlte sich fast wie zuhause.
»Ich kam gerade an der Überwachungszentrale vorbei«, erzählte Kankkunen im Gehen. »Als du Hannahs Namen gesagt hast, ist dem Kerl dort die Butter vom Brot gefallen, der konnte den Türöffner gar nicht schnell genug drücken.«
»Wofür ich ihm sehr dankbar bin«, erwiderte Leif. »Ach übrigens, das Powernapping funktioniert tatsächlich. Ich schulde dir eine Cola.«
Kankkunen winkte ab. »Geschenkt.«
Sie gingen weiter.
Auch die offenen Büros der Redaktion waren noch genau so, wie Leif sie in Erinnerung hatte. Mit allerlei Papieren übersäte Tische, große Notizbögen, Metallwände, an denen Druckfahnen mit Magneten befestigt waren. Er hatte Hannah mal gefragt, was das sollte, gerade im Digitalzeitalter. Sie hatte ihm erklärt, dass Schreib- und Druckfehler immer noch am besten auf Papier sichtbar wurden.
»Achtung!«, sagte Kankkunen und winkte die Gruppe zur Seite.
Gleich darauf rannten einige lachende Kinder an ihnen vorbei. »Ich krieg euch, ich krieg euch!«, rief das letzte Kind, ein kleiner Junge.
In der Redaktion war viel los. Leute standen und saßen an Tischen, unterhielten sich, schrieben Sachen auf Papier oder tippten Dinge in die Computer. An einer Wand hing eine Dartscheibe. Nur wenige Schritte daneben beschäftigte sich eine Handvoll Männer damit, Stifte von einer Tischkante in ein Marmeladenglas zu flippen. Aus der Ferne glaubte Leif die Melodie »Sing, Sing, Sing« von Benny Goodman zu hören.
Als ihre Gruppe vorbeiging, sahen die Leute kurz her, winkten oder grüßten freundlich. Dann wandten sie sich wieder ihren Tätigkeiten zu.
Kankkunen sprach eine junge Frau an. »Wo ist denn der Oberbonze? Noch beim Lindy Hop?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nee, ich glaube, der ist im Besprechungsraum drei und moderiert das Schachturnier.«
»Das hat die Barbara vom Feuilleton übernommen«, warf ein anderer Mann ein. »Der Friedrich ist im Konferenzzimmer zwei bei der Scharade.«
Kankkunen schnippte mit den Fingern. »Stimmt, das war es. Danke!«
»Kommst du später zum Tai-Chi?«
»Aber so was von.« Er bedeutete der Gruppe, ihm zu folgen.
»Lindy Hop?«, kam es von Marcel.
»Schachturnier?«, fragte Miriam gedehnt.
»Scharade?«, wollte Sarah wissen.
»Was sie gesagt haben«, sagte Vera Sievers. Conrad betrachtete die ganze Szenerie mit erhobenen Augenbrauen.
»Ja … was ist hier los?«, fragte Leif.
Kankkunen breitete die Arme aus. »Wir stecken hier seit fast zwei Wochen fest. Trinkwasser und Nahrung waren bis jetzt kein Problem, auch wenn wir da wohl bald etwas tun müssen, aber irgendwie muss man sich ja beschäftigen. Sonst wären wir längst die Wände hochgegangen.«
»Ah«, sagte Leif.
»Sehr vernünftig«, kam es von Conrad.
»Denkt bloß nicht, dass wir hier Däumchen drehen. Wir haben zwar keinen Internetzugang mehr, aber auf das Redaktionsarchiv können wir noch zugreifen. Im Moment sammeln wir alles an Informationen, was wir finden können, um konkrete Pläne für die Zukunft zu schmieden. Ihr habt uns gerade in der Denkpause erwischt.«
»Wisst ihr, was genau in der Stadt los ist?«, fragte Leif. »Habt ihr mehr über die Hintergründe von dieser verdammten Katastrophe herausfinden können?«
»Bruchstücke«, erwiderte Kankkunen. »Einer der Redakteure ist Amateurfunker. Nachdem sich die Lage etwas beruhigt hatte, haben wir seine ganze Ausrüstung in einer scheißgefährlichen Nacht-und-Nebel-Aktion hierhergebracht. Hier und da hocken noch andere Überlebende in der Stadt, aber die können uns auch nur mitteilen, was sie sehen. Die wenigsten trauen sich auf die Straße.«
Sie kamen zu dem Konferenzzimmer. Kankkunen wollte gerade anklopfen, da hielt Leif ihn auf. »Willem, weißt du, ob noch andere … aus der Firma …«
Kankkunen schüttelte den Kopf. »Kann ich dir ehrlich nicht sagen.« Er klopfte an.
»Tretet ein, bringt Dings herein!«, schallte es von drinnen.
Von dem Konferenzzimmer aus hatte man einen guten Blick über die Hellerhofstraße und Teile von Frankfurt. Die Tische waren an einer Wand gestapelt, bequem aussehende Polsterstühle standen in einem Halbkreis im Raum, der mit stahlgrauem Teppich ausgelegt war. Männer, Frauen und Kinder saßen auf den Stühlen und betrachteten einen Mann, der gerade ein imaginäres Gewehr in den Händen hielt und im Stechschritt auf und ab marschierte. »Na kommt schon, das muss doch einer wissen«, rief er. Er marschierte weiter und ging dabei in die Hocke.
»Panzerkreuzer Potemkin«, sagte Miriam.
Der Mann blieb stehen, sah sie an und lächelte. »Richtig. Da hat wohl jemand eine Videothek verschlungen.«
»Herr Friedrich, das sind die Leute von der Tür«, sagte Kankkunen. »Leif Bernhard, der Ehemann von Hannah, und seine Begleiter.«
Leif blinzelte. Jetzt erst erkannte er den Mann. Torben-Hendrik Friedrich, damals noch Ressortleiter gewesen. Leif hatte ihn bei der Weihnachtsfeier kennengelernt. Was ihm Hannah damals verschwiegen hatte: Es war eine Bad-Taste-Party gewesen und Friedrich war als Boy George gekommen.
Mit der blauen Jeans, der grauen Weste und den schwarz-weißen Discounter-Sneakers sah Friedrich verstörend normal aus.
»Nette Tapeten habt ihr da an«, sagte Friedrich, während er reihum die Hände schüttelte. »Selbst geschossen?«
»Lange Geschichte«, erwiderte Conrad.
»Die könnt ihr uns in aller Ruhe erzählen.« Friedrich wandte sich an die übrigen Anwesenden. »Ich muss euch leider verlassen, jemand anderes ist nun dran. Aber bitte nicht wieder diesen unsäglichen Film über den Hundertfüßler. Ja, dich meine ich, Jason!«
Ein etwa zehn Jahre alter Junge blickte ertappt drein.
»Sehr gut«, sagte Friedrich. »Wollen wir dann? Die Kantine dürfte frei sein.«
»Herr Friedrich«, sagte Leif im Gehen, »wissen Sie, wo meine Frau ist?«
»Sie war hier«, erwiderte Friedrich. »Aber vor fünf Tagen hat sie die Redaktion verlassen. Ihr jetziger Aufenthaltsort ist uns nicht bekannt.«