Erwachen im Dunkel
Vincent Koenig erwachte.
Um ihn herum war es stockdunkel. Alles schmerzte. Er blinzelte, kämpfte die aufsteigende Panik nieder. Vorsichtig streckte er eine Hand aus.
Luft. Kein Widerstand.
Vincent atmete erleichtert auf. Er war nicht lebendig begraben worden. Aber was war mit ihm geschehen? Die Engel hatten ihn gebissen, als er Bernhards Tochter geholfen hatte, Morgenstern aus dem Straßenbahnwaggon zu holen. Vage konnte Vincent sich ins Gedächtnis rufen, dass Morgenstern ihn nach dem Klopfzeichen gefragt hatte. Aus irgendeinem Grund brannten seine Wangen. Er erinnerte sich auch daran, wie es sich angefühlt hatte, als Bernhards Tochter ihren Körper gegen seinen gedrückt hatte.
Vincent schüttelte den Kopf. Das Mädchen war durchaus hübsch, aber er konnte sich jetzt keine Ablenkungen solcher Art erlauben. Er musste eine wichtige Aufgabe erfüllen, dafür hatten die Verkünder ihn ausgewählt, dafür hatte er sich in das Haus der Bernhards geschlichen und dort auf sie gewartet.
Später vielleicht, wenn Bernhards Tochter dann noch lebte und ihren Platz im großen Gefüge begriffen hatte. Aber derzeit war sie noch viel zu eigensinnig und ungestüm.
Vincent spürte, dass er auf einem harten Untergrund lag, in irgendetwas eingehüllt. Weiteres Herumtasten identifizierte das Irgendwas als eine raue Wolldecke, die stark nach Terpentin roch.
Vincent wurde immer verwirrter. Er wollte sich aufrichten, da stellte er fest, dass er sein linkes Bein nicht bewegen konnte. Nach anfänglicher Panik konnte er das Vorhandensein des Beins, inklusive der Zehen, immer noch spüren, dies beruhigte ihn wieder.
Mühsam richtete Vincent seinen Oberkörper auf und betastete das Bein. In der Dunkelheit, an die seine Augen sich nur langsam gewöhnten, spürte er etwas Hartes und Kantiges auf der Außenseite des Beins, dort mit einer Schnur fixiert.
Eine Schiene?, dachte Vincent verwirrt. Aber mein Bein fühlt sich gar nicht gebrochen an.
Er wollte nicht rufen, da er nicht wusste, wo er sich befand, und falls Engel in der Nähe waren, so wollte er sie nicht erzürnen. Er konnte nur vage die Umrisse von Kisten und Regalen erkennen sowie einen schwachen Lichtstreifen, der sich knapp zwei Schritte von ihm entfernt befand.
Vincent ließ sich wieder auf den Rücken sinken und überdachte seine Lage. Habe ich durch den Biss die Vergöttlichung erhalten? Er lauschte in sich hinein. Spürte sein Herz in der Brust schlagen.
Diese Idee konnte er also schon verwerfen. Was ihn zu seiner Scham erleichterte, denn wenn die Vergöttlichung so aussah, dann konnte er gut darauf verzichten.
Vincent blinzelte erneut, und dann erkannte er endlich, wo er war. In der Sakristei des Kaiserdoms. Er lag gegenüber dem Zugang zum Inneren des Doms. Am anderen Ende der Sakristei ging es ins Freie.
Wie bin ich hierhergekommen?
Er lauschte.
Es war still, doch hier und da meinte Vincent, leichte Schnarchgeräusche wahrzunehmen. Es musste also Nacht sein, das erklärte die Dunkelheit.
Gerade wollte er sich wieder auf den Boden sinken lassen, da öffnete sich die Tür zum Dom. Vincent hielt inne. Zwei Verkünder traten ein, der vorderste hielt einen kleinen grünen Leuchtstab in einer Hand. Vincent erkannte sie als Jörg und Kirsten. Sie würdigten ihn keines Blickes.
»Es ist an der Zeit«, flüsterte Kirsten.
Jörg brummte seine Zustimmung. Beide stellten sich an die Außentür.
Das verriet Vincent die Uhrzeit, nämlich 23 Uhr. Jeden Tag um diese Zeit sollte der Erkundungstrupp zurückkehren, der ausgesandt wurde, um die Lage auszukundschaften und diverse Besorgungen zu erledigen. Um keine falschen Hoffnungen in den Verirrten zu wecken, geschah dies nur des Nachts.
Es klopfte an der Tür, das vereinbarte Zeichen. Jörg öffnete die Tür einen Spalt.
Im nächsten Moment hörte Vincent, wie Jörg einen dumpfen Schlag erhielt. Der Verkünder grunzte und taumelte zurück, die Außentür wurde vollständig aufgestoßen und dunkle Gestalten drangen in die Sakristei.
Kirsten hatte gerade noch Zeit für einen überraschten Laut, da wurde sie auch schon bedrängt. Vincent hörte weitere Schläge auf sie einprasseln. Schnell ging die Verkünderin zu Boden.
Vincents Gedanken rasten. Es konnten keine Engel sein, diese Eindringlinge gingen zu heimtückisch vor. Sehr wahrscheinlich waren es Plünderer.
Noch hatten sie ihn nicht entdeckt. Schnell zog Vincent die Decke über sich und machte sich ganz klein. Er betete zu Gott, dass die Plünderer ihn für einen Haufen Gerümpel hielten. Durch einen Schlitz im Stoff beobachtete er das weitere Geschehen.
Die Eindringlinge hatten die regungslosen Verkünder mittlerweile in eine andere Ecke der kleinen Sakristei gelegt. Einer ging zur Tür und zischte irgendetwas. Kurz darauf huschten weitere Gestalten in die Sakristei. Der Leuchtstab war zu Boden gefallen, die Eindringlinge ließen ihn dort achtlos liegen. Vincent sah Männer und Frauen, deren Gesichter in dem schwachen, grünen Schein dunkel glänzten. Ihre Kleidung bestand aus einem wilden Gemisch von Tarnanzügen sowie Wandersachen in dunkelbraun oder dunkelgrün. In den Händen hielten sie kleine Beutel, die mit irgendetwas gefüllt waren.
Dann trat jemand ein, dem die Eindringlinge geradezu respektvoll Platz einräumten. Die Person blieb breitbeinig über dem Leuchtstab stehen, so dass ihr Gesicht von unten angeleuchtet wurde.
Vincent hielt den Atem an. Er erkannte diese Person und bekam schreckliche Angst.