Plan durchkreuzt

Tessa sehnte sich nach ihrem Bücherregal. Es gab nichts Langweiligeres, als einer Horde von Menschen beim Nichtstun zuzusehen. Sie war einige Male durch den Kaiserdom gewandert, aber irgendwann konnte sie die Steinwände und Heiligenikonen nicht mehr sehen.

Die letzten Stunden hatte sie sprichwörtlich auf glühenden Kohlen verbracht.

Sebastian schien sich mit der Situation ohne Probleme abzufinden. Mehr noch, er unterhielt sich mit den Verkündern, als wären sie seit Jahren beste Freunde. Aber das durfte Tessa ihm nicht übel nehmen, die Verkünder sollten schließlich keinen Verdacht schöpfen. Ihr war das nur recht, solange sie sich bei diesen Spinnern nicht einschleimen musste.

Das einzige Ereignis, das die Monotonie im Dom unterbrochen hatte, war die Verlegung des immer noch bewusstlosen Vincent von der Krankenstation in die Sakristei gewesen.

Tessa hatte sich von Sebastian das Brecheisen erbeten, damit sie beim Schlafen etwas hatte, um ungebetene Gäste abzuwehren, ohne diese gleich abstechen zu müssen. Der Pfarrer hatte das kommentarlos eingesehen und ihr das Eisen überlassen.

Das Messer behielt Tessa.

Sie musste sich beherrschen, um nicht gleich fünf Minuten nach Einbruch der Dunkelheit aufzuspringen. Die Verkünder selbst wandelten in regelmäßigen Abständen zwischen den Schlafenden, um hier und da nach dem Rechten zu sehen.

Doch Tessa hatte sich schon so etwas gedacht. Deswegen hatte sie sich einen Schlafplatz in einer abgelegenen Ecke an der Südseite gesucht, hinter einem Pfeiler, von außen nur schwer einsehbar. Mit einigen Kissen und einer alten Decke täuschte sie eine schlafende Gestalt vor.

Es war soweit.

Das Innere des Kaiserdoms wurde nur von einem spärlichen Zwielicht erhellt, einer Mischung aus Mondlicht von außen und einigen Leuchtstäben, welche die Verkünder an offenbar wichtigen Stellen angebracht hatten. Die Stäbe spendeten gerade genug Licht, dass man nicht über einen Kerzenständer stolperte, wenn man in der Nacht das Klo aufsuchen wollte. Doch für Tessa war das mehr als genug Licht.

Die einzigen Geräusche im Inneren des Doms waren die Atem- und Schnarchlaute der Menschen, als Tessa sich langsam von ihrem Platz erhob. Sie hatte ihre Stiefel ausgezogen, denn die Ledersohlen quietschten doch unangenehm laut auf dem Steinboden.

Tessa fühlte die Kälte des Steins durch ihre Socken. Sie biss die Zähne zusammen und schlich vorsichtig durch den Dom. Vorbei an den Menschen, die dort einzeln oder zusammengekuschelt lagen. Selbst im Schlaf sahen sie angespannt aus, was aber auch an dem Zwielicht liegen konnte. Tessa konnte sich gut vorstellen, welche Albträume diese Menschen plagten. Viele hofften vielleicht, einfach einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Oder dass sie wieder aufwachten, aber in der Welt vor der Katastrophe. Eine dumme Hoffnung, wenngleich auch verständlich.

Sie schlich an Olga vorbei. Die ältere Frau sägte einen ganzen Urwald ab. Tessa fand es ein schieres Wunder, dass dies noch keine Schlurfer zum Dom gelockt hatte.

Etwas weiter vorne sah sie schon den Zugang zum Westturm. Ihr Herz machte einen Luftsprung, denn die Tür war halb geöffnet. Tessa leckte sich die Lippen und schlich weiter. In der Nähe der Tür hielt sie inne. Sie sah sich um, hielt Ausschau nach Verkündern auf außerplanmäßigen Rundgängen.

Tatsächlich entdeckte sie zwei Gestalten, die gerade in die Sakristei gingen. Rasch huschte Tessa hinter einen Pfeiler. Ihr Herz klopfte wild, in ihren Ohren rauschte das Blut. Mit angehaltenem Atem spähte sie um den Pfeiler. Aber die Verkünder schienen sie nicht bemerkt zu haben.

Sie wartete, bis ihr Herz nicht mehr wie ein blöder Presslufthammer wummerte, dann ließ sie sich zu Boden sinken und zog ihre Stiefel an. Dadurch lief sie zwar Gefahr, sich zu verraten, aber da sie nicht wusste, was sie im Westturm erwartete, wollte sie lieber einen sicheren Stand haben. »Die Beinarbeit ist essenziell«, hatte Sebastian ihr eingeschärft. »Mit einem sicheren Stand kannst du fast jeden Schlag abfangen und dessen Wucht umleiten.«

Dann doch lieber in den eigenen Stiefeln sterben, dachte Tessa ironisch, vor allem, da sie Cowboystiefel nicht mochte. Von den Absätzen bekam sie Rückenschmerzen.

Sie erhob sich wieder und wollte gerade zur Tür huschen – da entdeckte sie, wie eine Reihe von dunklen Gestalten aus der Sakristei geschlichen kam.

Im ersten Moment hielt Tessa sie für Verkünder, aber sie erkannte ihren Irrtum schnell. Diese Leute gehörten nicht hierher. Ihre ganze Kleidung passte nicht zu den Verkündern und ihre Haltung war die von Eindringlingen, die nicht erwischt werden wollten. In den Händen hielten sie irgendetwas, das sie nicht erkennen konnte.

Sie bleckte die Zähne in unterdrückter Rage. Plünderer, dachte sie. Das sind beschissene Plünderer, die sich über die Leute hier hermachen wollen.

An sich hätte Tessa nichts Besseres passieren können. Niemand würde sie bemerken, wenn sie in den Turm ging. Die Plünderer würden schon für genug Ablenkung sorgen.

Aber da war noch Sebastian. Und die anderen Leute, die hier Schutz gesucht hatten, nicht wissend, was die Verkünder ihnen antun würden. Sie hatten es nicht verdient, in ihren Betten zu sterben.

Tessa blickte ein letztes Mal zur Tür des Westturms, dann straffte sie die Schultern.

Mittlerweile war ein gutes Dutzend der dunklen Gestalten durch die Sakristei in den Kaiserdom gekommen. Sehr wahrscheinlich hatten sie mit Vincent schon kurzen Prozess gemacht. Sie schlichen zwischen den schlafenden Menschen umher.

Jetzt konnte Tessa auch erkennen, dass sie kleine Stoffbeutel in den Händen hielten. Totschläger. Sebastian hatte ihr davon erzählt; eine sehr einfach herzustellende Waffe mit verheerender Wirkung. Wahrscheinlich waren die Beutel mit Sand oder Steinen gefüllt. Wer auch immer einen Schlag von so etwas abbekam, der war nicht mehr glücklich.

Tessa zog das Messer, nahm das Brecheisen in die andere Hand.

Drei der Plünderer hatten neben dem Vorhang zur Krankenstation Aufstellung genommen, weitere stellten sich vor dem inneren Bereich auf, in dem die Bischöfin schlief. Zwei von ihnen bewegten sich gerade auf den Westturm zu. Im Zwielicht konnte Tessa erkennen, dass sich die Plünderer ihre Gesichter mit dunkler Farbe bemalt hatten. Die Eindringlinge planten etwas, das erkannte sie deutlich. Nicht, was es war, nur das Vorhandensein eines Plans.

Aber diesen Plan konnte Tessa sehr einfach durchkreuzen.

Sie holte tief Luft, lief aus ihrem Versteck und rannte auf den nächststehenden Plünderer zu. Der drehte sich um, Tessa konnte gerade noch seinen überraschten Blick erhaschen, dann schlug sie zu.

Der Mann versuchte, den Kopf wegzureißen, doch er war nicht schnell genug. Das Metall streifte ihn zwischen Nase und Oberlippe. Der Plünderer schrie auf, stieß einen unartikulierten Fluch aus und taumelte zurück. Er hielt sich das Gesicht mit beiden Händen. Der Totschläger entglitt seinem Griff, fiel zu Boden und platzte auf. Sein Inhalt verteilte sich mit metallischem Klimpern über den altehrwürdigen Steinboden.

»Wacht auf!«, brüllte Tessa aus vollem Hals und sprang im nächsten Augenblick zurück, als der andere Plünderer seinen Totschläger nach ihr schwang. Sie stach mit dem Messer zu, spürte die Klinge auf Widerstand stoßen und wurde prompt mit einem entsetzten Schmerzensschrei und weiterem Klimpern belohnt, denn sie hatte den Plünderer an der Hand erwischt. »Wacht auf, wir werden angegriffen!«

Überraschte Rufe wurden laut. Aus verschlafenem Gemurmel und Brummeln wurde unflätiges Fluchen, als die versammelten Menschen aus ihrem Schlummer erwachten. Im Nu verwandelte sich das Innere des Kaiserdoms in ein heilloses Chaos. Frauen und Männer riefen wild durcheinander: »Die Russen sind da! Frauen und Kinder zuerst! Rette sich, wer kann!«

Tessa hörte das nur am Rande, sie konzentrierte sich vollständig auf ihre beiden Gegner. Der eine Plünderer hielt immer noch sein Gesicht mit beiden Händen und jammerte irgendetwas über seine Zähne, der andere starrte seine Hand an. Aus Unglauben über Schmerz wurde Wut, die sich umgehend auf Tessa richtete. »Du verdammte kleine Rotzgöre!« Mit ausgebreiteten Armen stürmte der Plünderer auf sie zu.

Tessa duckte sich seitlich weg, ging auf ein Knie und schlug mit dem Brecheisen zu. Es knackte. Der Plünderer jaulte auf und brachte sich mit einem ungelenken Hopser in Sicherheit. Ein Bein angewinkelt, versuchte er das Gleichgewicht zu halten, was ihm nur mäßig gelang. Tessa stand wieder auf und wandte sich ihm zu.

Weit entfernt brüllte Sebastian Befehle. Aus dem Augenwinkel entdeckte sie, wie in das Chaos etwas Ordnung kam, als einige beherzte Erwachsene den Anweisungen des Pfarrers Folge zu leisten versuchten und sich auf die Plünderer stürzten.

Lange Arme schlossen sich von hinten um Tessas Oberkörper und drückten ihr die Luft aus den Lungen. Sie spürte, wie sie hochgehoben wurde. Eine Männerstimme nuschelte etwas. Es war der Plünderer, den sie ins Gesicht geschlagen hatte.

Tessa reagierte, wie sie es mit Sebastian und Miriam auf dem Wanderparkplatz bei der Speidel-Kaserne geübt hatte. Sie nahm das Messer in den Eispickelgriff und stach nach hinten.

Der angeschlagene Plünderer heulte auf, klang dabei fast schon wie ein Schlurfer und ließ sie los. Tessa ignorierte ihn und schlug mit dem Brecheisen nach dem anderen Plünderer, der gerade auf sie zu hinkte. Er sprang zurück, landete auf dem verletzten Bein und schrie auf. Jetzt lag Angst in seinem Gesicht, aber vielleicht bildete sie sich das in dem Zwielicht auch nur ein.

»Rückzug!«, rief da eine Stimme und Tessa erstarrte.

Das … das ist doch …

Sie konnte den Gedanken nicht zu Ende führen, denn der Plünderer mit dem kaputten Bein stieß sie grob zur Seite. Tessa taumelte, fiel aber nicht. Sie machte sich zu einem neuen Angriff bereit, doch der Mann warf ihr nur einen letzten Blick zu, der zu gleichen Teilen aus Hass und Angst bestand, wandte sich ab und humpelte in Richtung der Sakristei. Tessa sah ihm hinterher.

Unter Sebastians Führung war die Hälfte der Plünderer inzwischen ausgeschaltet. Der Rest verteidigte verbissen den Zugang zur Sakristei.

Da erklangen die Kirchenglocken des Kaiserdoms. Der Klang ging ebenso durch Mark und Bein wie ihre Schläge auf die Körper der Plünderer. Er riss sie aus ihrer Starre. Was soll das? Sind die vom Fisch bespuckt? Das wird doch massenhaft Schlurfer anlocken.

Diesen Gedanken hatten die Plünderer offenbar auch, denn nach dem dritten oder vierten Glockenschlag gaben sie ihre Gegenwehr auf und verschwanden in die Sakristei. Nur wenig später konnten die Verteidiger feststellen, dass alle Plünderer das Weite gesucht hatten.

Tessa ließ sich gegen einen Pfeiler sinken und atmete tief durch. Das Adrenalin flaute ab, sie konnte wieder normal denken.

Die Verkünder zündeten im Hauptschiff weitere Lichter an. Die Tür zum Westturm war nun fest verschlossen.

Der Plünderer, den sie ins Gesicht geschlagen und mit dem Messer verletzt hatte, kauerte in einer Ecke, die Hände auf die Wunde in der Bauchgegend gepresst. Er wimmerte leise.

Sebastian kam zu ihr. Er ignorierte die Dankesrufe, die ihm einige Leute zuriefen. »Bist du verletzt?«

Tessa schüttelte nur den Kopf.

Das ließ die Sorge nicht aus seinem Gesicht weichen. »Du bist leichenblass, Tessa. Was ist passiert?«

Sie sah ihn an. Sie traute gerade weder ihrer Stimme noch ihren Sinnen. Sie stieß sich von dem Pfeiler ab und ging zur Sakristei. Sebastian folgte ihr kommentarlos.

Die Außentür war längst wieder geschlossen. Tessa starrte darauf. Sie sah sich in der Sakristei um und entdeckte das menschengroße Bündel unter einer Wolldecke. Energisch zog sie diese zur Seite und ein ängstlicher Vincent kam zum Vorschein.

»Warst du die ganze Zeit hier?«, fragte Tessa ihn heiser.

Er nickte.

»Hast du gesehen, wer da zum Rückzug gerufen hat?«

Er nickte wieder.

»War das …?« Sie konnte es nicht aussprechen.

»Ja«, sagte Vincent nach einer Weile. »Es war deine Mutter.«

In Vorbereitung:

Z Revolution

Band 10

Ein Bild, das Objekt enthält. Automatisch generierte Beschreibung

Z Revolution bei Facebook

facebook.com/zrevolution2016