»Anouk.« Jemand flüstert meinen Namen.
Wo bin ich? Es ist Nacht. Und dunkel. Aber an den bizarren schwarzen Schatten um mich herum kann ich erkennen, dass ich in einem Wald bin.
»H-hallo?«, rufe ich.
Meine Stimme verschwindet in der Nacht. Es wird unnatürlich still. Kein einziger Laut ist zu hören, kein Windhauch regt sich. Es ist, als wäre ich das einzige lebende Wesen in diesem Wald. Aber ich weiß genau, dass ich nicht allein bin. Der Luftstrom um mich verändert sich kaum spürbar, als würde sich jemand neben mir bewegen.
»W-wer ist da?«, frage ich.
Ein Seufzer entweicht dem Wald. Ganz leise, fast nicht wahrnehmbar, kann ich hören, wie mein Name darin widerhallt. »Aaaaaaanouk.«
Meine Muskeln spannen sich an. Irgendetwas ist mit dieser Stimme, ich vertraue ihr nicht. Ich spähe in die Dunkelheit.
»H-hallo?«, rufe ich noch einmal.
»Anouk!« Die Stimme klingt jetzt lauter, fast ein wenig ungehalten.
Ich drehe mich um meine eigene Achse, um zu verstehen, woher die Laute genau kommen.
»Anouk! Anouk! Anouk!« Mein Name läuft Zickzack zwischen den Bäumen, kommt näher wie eine böse Schlange.
Das ist nicht gut! Meine Füße setzen sich in Bewegung. Erst langsam und zögerlich, dann immer schneller. Zweige schlagen mir ins Gesicht, meine Schulter schrammt gegen einen Baumstamm. Wie blind renne ich durch den pechschwarzen Wald. Ich muss mich in Sicherheit bringen. Diese Stimme …
Mein rechter Fuß bleibt an etwas hängen, und ich schlage mit einem lauten Krachen auf dem Boden auf. Alle Luft wird aus meiner Lunge gepresst. Ein paar Sekunden bleibe ich wie betäubt liegen.
Komm schon. Renn um dein Leben!
Ich rappele mich auf. Ein heftiger, stechender Schmerz schießt durch meinen rechten Fußknöchel. Schwindelig vor Schmerz lehne ich mich an einen Baumstamm.
»ANOUK!«
Ein schwarzer Schemen taucht vor mir auf.
»N-nein.« Ich presse meinen Rücken gegen den Stamm. »G-geh weg.«
Die Gestalt kommt näher. Stolpernd versuche ich wegzurennen, aber alle Kraft ist aus meinem Körper gewichen.
»Anouk!«, flüstert der Schatten fast zärtlich. Seine Hände sind überall auf meinem Körper, kalt und suchend.
»Nein!«, schreie ich.
Ich spüre, wie sich die Kälte überall ausbreitet. Mein Körper wird immer gefühlloser. Ich sterbe. Dieser Gedanke ist viel weniger beängstigend, als ich es mir je ausgemalt hätte. Ich schließe die Augen und lasse mich fallen.
Sekunden, Minuten, vielleicht sogar Stunden später reiße ich die Augen wieder auf. Alles ist verschwommen und trüb, als hätte ich Augentropfen bekommen. Ich blinzele ein paarmal. Der Schleier hebt sich. Autos rauschen an mir vorbei. Was … Wie? Ich versuche zu begreifen, wo ich bin. Ganz langsam sortieren sich die Puzzleteile.
Ich sitze im Bus.
Auf dem Weg zu einem Campingplatz in Frankreich.
Zusammen mit Mabel, Bo und Lilly.
Es ist nichts passiert. Es war nur ein böser Traum.
Auf meiner Armbanduhr sehe ich, dass es sechs Uhr morgens ist. Lilly, Mabel und Bo schlafen noch. Mein Blick wandert nach draußen. Über den Bäumen sehe ich einen schmalen gelben Rand der aufgehenden Sonne. Das Gelb wird zu Orange und ergießt sich über die Baumwipfel. Ein Sonnenstrahl fällt in meine Augen, und ich kneife sie zusammen. Der Waldrand verändert sich in eine seltsame schwarze Silhouette. Wie in meinem Traum.
Gänsehaut überzieht meine Arme bis zum Nacken, wo sich die Haare aufstellen. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass uns etwas oder jemand folgt und dass etwas Schlimmes geschehen wird. Schaudernd lege ich schützend die Arme um mich. Jetzt benimm dich nicht so bescheuert, denke ich. Sonst glaubst du bald noch selbst, dass du übersinnliche Fähigkeiten hast.
Meine Mutter kann wirklich die Zukunft vorhersagen und Kontakt zu Geistern aufnehmen. Menschen aus allen Teilen des Landes kommen für eine Deutung zu ihr. Auf ihrem Fachgebiet ist sie eine der Besten. Und sie ist immer davon ausgegangen, dass ihre Tochter diese Gabe ebenfalls hat. Aber die habe ich nicht. Es ist, als wäre ich ein Radio ohne Antenne. Ein Kind aus einer anderen Familie. Ich habe mich so geschämt, dass ich anfing, mir Sachen über Auren und prophezeiende Träume auszudenken. Manchmal sehe ich in den Augen meiner Mutter einen nachdenklichen Blick, als würde sie meine Vorhersagen bezweifeln. Aber sie hat noch nie etwas dazu gesagt. Ich war schon oft kurz davor, ihr die Wahrheit zu erzählen, doch ich habe mich nie getraut.
Sie würde mich hassen.
Auf der anderen Seite des Fensters steigt die Sonne immer höher. Die Farbe des Himmels verändert sich von grau zu rosa zu blau. Neben mir stöhnt Lilly. Ich habe immer das Gefühl, ich müsse sie vor dem Bösen in der Welt beschützen. Der Bus geht in eine sanfte Rechtskurve, wodurch mein Schatten auf Lilly fällt. Alle Farbe verschwindet aus ihrem Gesicht. Plötzlich sieht sie kalt und tot aus.
Genau wie gestern beim Auralesen. Da dachte ich noch, es wäre Zufall …
Erschrocken stoße ich einen Schrei aus.