Lilly

Von ganz weit weg höre ich ein Geräusch. Lasst mich schlafen, denke ich. Aber es ist, als hätte das Geräusch eine Dominoreihe in Gang gesetzt, die nicht mehr zu stoppen ist. Innerhalb weniger Sekunden bin ich hellwach, öffne die Augen und starre geradewegs in Anouks Gesicht. Unter ihren Augen sind schwarze Mascarastreifen.

»Hallo«, sage ich mit schläfriger Stimme.

Es dauert einen Moment, bis Anouk antwortet. »Guten Morgen.« Sie sieht mich mit großen Augen an, als würde sie einen Geist sehen.

»Ist was?«, frage ich unsicher.

Sie schüttelt den Kopf. »Oh, nein, nein. Ich bin nur ein wenig müde.« Sie lächelt, und ihr Gesicht entspannt sich wieder. »Gut geschlafen?«

»Geht so«, sage ich schulterzuckend.

Ein Knacksen. »Schönen guten Morgen«, erklingt die Stimme des Busfahrers aus den Lautsprechern. »Und willkommen in Frankreich.«

Die Passagiere im Bus fangen an zu stöhnen und sich zu bewegen. Mabel schaut ein wenig verdattert, als könne sie nicht glauben, dass sie in einem Bus wach wird. Bo zieht sich schnaubend ihre Jacke über den Kopf.

»Es ist fast halb acht«, redet der Mann weiter. »Wir sind jetzt auf Höhe von Le Luc. In einer knappen Viertelstunde haben wir unser erstes Ziel erreicht, Camping Le Domaine des Pins. Ich bitte alle Reisenden, die dort aussteigen, schon jetzt ihre persönlichen Sachen einzusammeln. Wir halten höchstens ein paar Minuten.«

Die Jacke über Bos Kopf fängt an sich zu bewegen, und sie ruft etwas Unverständliches.

»Um Himmels willen.« Mabel reißt Bo die Jacke vom Kopf. »So versteht dich doch kein Mensch!«

Bo streckt jubelnd die Arme in die Höhe. »Yes, yes, yes, Camping Le Domaine des Pins, das sind wir!«

Mabel tippt sich mit dem Finger gegen die Stirn. »Du bist echt total verrückt.«

»Nenn es ruhig gestört«, seufzt Anouk. »Wie viele Dosen Wodka-Cola hast du gestern getrunken?«

»Drei.« Bo grinst. »Wieso?«

Irgendwie bin ich neidisch auf ihre Begeisterung. Bei Bo ist immer alles schwarz oder weiß. Etwas macht Spaß, oder es ist langweilig. Jemand ist nett oder ein Nerd. Dazwischen gibt es nichts. Dieser Urlaub steht offenbar unter der Überschrift »nett«.

»Mir ist ein bisschen schlecht«, sagt Bo. »Vielleicht muss ich kotzen.«

»Lass das mal schön sein.« Ich sehe, wie Mabel die Stirn runzelt. Jetzt erst fällt mir auf, dass ihr weißes Seiden-T-Shirt ganz fleckig ist. Ihre Augen wirken stumpf, und ihre Haare hängen ihr struppig ins Gesicht. Sie sieht ein wenig schmuddelig und ungepflegt aus. So kenne ich sie gar nicht.

Der Bus ordnet sich rechts ein und biegt dann ab.

»Oh, guckt doch mal raus, wie schön!«, ruft Anouk.

Wir schauen alle aus dem Fenster. Der Bus fährt durch einen dichten Wald. Die Zweige mit ihren Nadeln sind so dick, dass es dämmrig geworden ist.

»Das ist ein Pinienwald«, erzählt Anouk. »Wusstet ihr, dass manche Pinien gut sechshundert Jahre alt werden können? Und dass man aus den Nadeln ätherische Öle gewinnt?«

»Kannst du bitte mal die Klappe halten?«, seufzt Bo. »Ich kriege Kopfschmerzen von diesem Gelaber über Pinien.«

»Boah, was sind wir wieder schön negativ«, sagt Anouk. »Es ist nicht meine Schuld, dass du einen Kater hast.«

Bo streckt ihr die Zunge raus.

Der Bus wird langsamer und biegt in einen unbefestigten Weg ein. Tannenzweige streifen die Fenster. Am Straßenrand steht ein Holzschild in Form eines Pfeils: CAMPING LE DOMAINE DES PINS 3 km. So unauffällig wie möglich nehme ich mein Handy aus der Jackentasche. Ich öffne WhatsApp und schreibe:

Wir sind fast da xxx

Mit einem Blob wird meine Nachricht verschickt. Ich stelle mir vor, wie sie hochschwebt, hoch über die Pinien hinweg und über Frankreich und Belgien fliegt, geradewegs ins Handy meiner Mutter.

Innerhalb weniger Sekunden kommt eine Nachricht zurück:

Fein, Liebes. Du fehlst mir. Kuss, Mama

Sofort spüre ich einen Kloß im Hals. Ich lese den kurzen Text immer wieder. Du fehlst mir. Meine Finger umklammern mein Handy. Du mir auch, Mama.

»Smile!«

Verwirrt schaue ich auf.

Bo richtet grinsend ihr Handy auf Anouk und mich. »Dieses Foto ist in einer Minute auf Instagram!«

Ich spüre, wie sich Anouks Arm um meine Schulter legt, wie sie ihr Gesicht gegen meins presst. Da kann man nur eins machen: lächeln. Meine Mundwinkel ziehen sich krampfhaft nach oben.

Klick.

Ich lasse die Mundwinkel wieder sinken.

»Wie süß.« Bo hält mir ihr Handy vors Gesicht.

Auf dem Display sehe ich meine krampfhafte Grimasse, als käme ich gerade vom Zahnarzt. Anouk starrt mit großen runden Augen in die Linse, als hätte sie etwas erschreckt. Das Foto hat etwas Seltsames. Bedrohliches.

»Sehr nett«, murmele ich.

Der Bus wird noch langsamer. Holpernd kommen wir an einer Lichtung zum Stehen. Sonnenlicht fällt in den Bus. Der Übergang ist so abrupt, dass ich meine Augen zukneifen muss.

»Yes, wir sind da!« Bo setzt ihre rosa Cap auf.

Ich starre hinaus. Über einer Schranke hängt ein Schild in kräftigen Neonbuchstaben: BIENVENUE À CAMPING LE DOMAINE DES PINS! Auf beiden Seiten der Schranke verläuft ein meterhoher Drahtzaun. Es sieht fast so aus, als würden wir bei einem völlig abgeschotteten Gelände mitten in einem Pinienwald ausgesetzt. Hinter dem Eingang sehe ich eine Mutter mit einem kleinen Mädchen in einem Buggy. Die Tränen schießen hoch. Ich will nach Hause. Ich will nach Hause. Der Satz steckt in meinem Kopf fest.

Bo und Mabel sind schon auf dem Weg aus dem Bus. Mit zitternden Händen packe ich meine Sachen.

»Weinst du?«, fragt Anouk.

»Nein«, sage ich, aber sicher bin ich mir nicht. Ich will nach Hause. Sag einfach: »Ich habe Heimweh und will nach Hause.«

Anouk nimmt meine Hand. »Was dich nicht umbringt, macht dich stärker. Komm schon, Lilly, wir machen was draus, okay?«

Ich nicke.

Hand in Hand steigen wir aus dem Bus. Wärme schlägt mir ins Gesicht. Ich zwinge mich, ruhig zu atmen. Es ist nur eine Woche, denke ich. Die werde ich doch wohl überleben? Oder?