Was für ein gigantisches Teil! Wenn ich gewusst hätte, dass Anouk dieses mittelalterliche Unding mitnehmen würde, hätte ich mich selbst um eins gekümmert. Sogar das Zelttuch riecht nach Anouks Großeltern: muffig und nach Schimmel.
Anouk breitet das orangefarbene Zelt auf dem Boden aus, schaut nach dem Stand der Sonne und umkreist den ausgebreiteten Stoffhaufen ein paarmal.
»Der Eingang muss mehr nach Norden«, murmelt sie, während sie an der Plane zerrt, bis der Eingang direkt zum Wald zeigt. »Sonst schlafen wir mit dem Kopf nach Westen, und das verursacht negative Energien.«
Mit halb geschlossenen Augen betrachtet sie ihr Werk. »Ja, so fühlt es sich gut an. Perfekt!«
»Schön«, sage ich. »Können wir dann endlich anfangen?«
»Bitte?«
»Wo sind die Heringe? Zeltstöcke? Du weißt schon, all die Sachen, mit denen normale Leute ein Zelt aufstellen?« Ich versuche, es in einem neutralen Ton zu sagen, aber es klingt trotzdem gemein. Doch darüber kann ich mir gerade keinen Kopf machen. Vor einer Stunde habe ich meinen Eltern eine Nachricht geschickt, dass wir fast da sind, aber ich habe noch keine Antwort bekommen. So eine Überraschung aber auch. Dann eben nicht.
»Mal schauen.« Anouk dreht den orangenen Sack um. Ein paar verrostete Zeltstangen und Heringe fallen zu Boden. »Ah, da sind sie ja!«
Ich hebe die Heringe auf. »Mabel, steckst du die Bodenplane fest?«
Mabels Gesicht ist so ausdruckslos wie ein Eisklotz. Hat sie mich nicht gehört? Oder ignoriert sie mich einfach? Der letzte Gedanke nervt mich so sehr, dass ich sie anbrülle: »He, Aschenputtel, es gibt was zu tun!« Ich werfe ihr die Heringe vor die Füße.
»Jetzt mach mal halblang.« Mit gereiztem Blick rafft Mabel die Heringe auf. »Ich habe dich schon gehört.«
»Jaja. Lilly, nimmst du die Zeltstangen?«
»Äh, ja.« Langsam schlurft Lilly zu dem kleinen Stapel. Ich muss mich sehr anstrengen, damit ich nichts dazu sage.
»Viel Vergnügen«, sage ich grinsend zu Lilly, während ich eine Spitze der Zeltplane hochziehe. »See you later!«
»O-Okay.« Lilly verschwindet unter der Zeltplane und bewegt sich wie ein Maulwurf unter dem Stoff.
»Es ist hier so dunkel«, höre ich ihr gedämpftes Jammern. »Ich kriege Platzangst.«
»Einfach weiteratmen«, sage ich. »Das klappt super. Noch ein kleines Stück nach links. Ja, dort.«
Die Stangenspitze steckt im Loch. Wenige Sekunden später hebt sich auch die andere Ecke. Ein altmodisches Zelt kommt zum Vorschein, Modell Pfadfinder.
Keuchend kommt Lilly durch den Eingang wieder ins Freie. Ihre Haare stehen in alle Richtungen ab, und ihr Gesicht ist rot angelaufen.
»Applaus für Lilly!« Ich meine es nicht ernst, aber das kapiert Lilly nicht.
»Danke«, murmelt sie verlegen.
»Haben wir eigentlich auch einen Tisch mitgenommen?«, frage ich.
»Ja.« Mabel greift nach dem flachen Karton, den sie schon seit Amsterdam mitschleppt. »Meine Mutter hat einen Leichtgewichttisch im Internet gekauft«, sagt sie und öffnet den Karton. »Mal sehen, das muss hierhin. Und dann muss ich das herausziehen und ausklappen. Ah, schaut!«
Plötzlich steht da ein weißer Tisch mit vier Schemeln, die am Tisch befestigt sind. Wir starren alle vier darauf, als wäre ein Raumschiff gelandet, so spacy und glänzend sieht er aus.
Ich hebe den Karton vom Boden auf. Design Brands lese ich auf dem Etikett. »Ist deine Mutter verrückt geworden?«
Anouk fängt als Erste an zu lachen. »Wenn du mich fragst, war sie das schon vorher.«
Ich sehe wie Mabels Mundwinkel zittern. »Pass bloß auf, du redest über meine Mutter!« Aber dann zieht ein breites Grinsen über ihr Gesicht. »Sie ist total irre!«
Lilly fängt an zu kichern.
Und dann kann ich mein Lachen auch nicht mehr zurückhalten. Es sieht so bescheuert aus. Anouks verschimmeltes Zelt und dann dieser idiotisch teure Designtisch.
Quietschend vor Lachen fallen wir uns in die Arme.
»Gooooo Camping!«, rufe ich. Plötzlich bin ich mir ganz sicher. Das wird ein mega-cooler Urlaub, eine Woche abfeiern, das wird …
»Pssst, es ist halb neun!« Lilly schaut sich ängstlich um. »Die Leute schlafen noch.«
Es ist, als würde ein Stecker aus der Dose gezogen; alle hören auf zu lachen. Ein wenig unbehaglich starren wir uns an.
»Oh, äh, guter Punkt«, sagt Anouk. »Dann pumpen wir eben die Luftmatratzen auf, okay?«
Lilly nickt wie ein eifriges Schulmädchen. »Ich helfe gern.«
Was für eine blöde Kuh! Immer, wenn es lustig ist, schafft sie es, die Stimmung mit irgendeiner dämlichen Bemerkung zu versauen. Von mir aus hätte Lilly zu Hause bleiben können. Aber seit Emmas Verschwinden sind wir sozusagen best friends forever geworden. Manchmal kommt es mir vor wie in einem Theaterstück: Die unverbrüchlichen Freundinnen von Emma Timmers. Und das Schlimmste ist, dass ich meine Rolle am überzeugendsten spielen muss. Ich kann mir keine Fehler erlauben.
»Hilfst du auch mit?«, fragt Lilly.
»Natürlich«, sage ich mit einem breiten Lächeln. »Gib mir ruhig die Pumpe.«