01:53 Uhr. Endlich laufen wir zu unserem Zelt zurück. Ich bin schon den ganzen Tag so müde und zittrig, als bekäme ich eine Grippe. Diese Gestalt von gestern Abend hat mich gespalten. Ein Teil von mir ist davon überzeugt, dass es ein Traum war. Eine Wahnvorstellung. Eine idiotische Projektion meines Gehirns. Aber der andere Teil weigert sich, das zu glauben. Stattdessen behauptet er, ich hätte gestern wirklich einen Geist im Wald gesehen. Das spukt ständig durch meinen Kopf.
»Sollten wir nicht auf Bo warten?«, fragt Lilly. »Sonst muss sie das ganze Stück nachher allein laufen.«
»Das hätte sie sich überlegen müssen, bevor sie mit Rik rausging«, sagt Mabel. »Ich werde ganz sicher nicht warten, bis sie fertig ist mit Knutschen.«
»Oh, äh, okay«, sagt Lilly so leise, dass ich sie kaum verstehen kann.
Schon den ganzen Abend über ist sie so verzagt, als hätte sie etwas aus dem Gleichgewicht gebracht. Vielleicht sollte ich ihr ein wenig beruhigendes Patchouli-Öl aufs Kopfkissen sprenkeln. Das hat meine Mutter früher auch immer gemacht, wenn mich etwas beunruhigt hatte. Und vielleicht solltest du den restlichen Inhalt des Fläschchens dann mal auf deinem eigenen Kissen verteilen!
Schweigend gehen wir weiter. Nebel hängt über dem Weg, und es ist fast, als würden wir durch Rauch laufen. Die Erde lässt die Wärme des Tages los, denke ich. Aber es ist etwas Unnatürliches an diesem Nebel. Die Fetzen winden sich um meine Beine, als wollten sie mich umwerfen.
Hör auf, Anouk, du siehst überall Gespenster.
»Sollen wir morgen an den Strand in Fréjus gehen?«, fragt Mabel. »Wir können mit dem Bus fahren. Er fährt am Eingang vom Campingplatz ab.«
»Ja, gute Idee.« Ich schlinge meine Arme um mich. Der Nebel ist jetzt so dicht, dass ich meine eigenen Füße nicht mehr sehen kann. Die feinen Wassertröpfchen sind eiskalt auf meinen nackten Beinen.
Geraschel aus dem Wald. Kaum wahrnehmbar, so leise ist es.
Ich bleibe stehen und spähe ins Dunkel, aber genauso gut könnte ich in einen Eimer mit schwarzer Farbe starren. Bilde ich mir bloß wieder was ein?
Ja, natürlich. Der nüchterne, praktische Teil von mir gibt Antwort. Wahrscheinlich war es einfach der Wind.
Aber dann höre ich es wieder. Geraschel und ein Knacken, als würde jemand durch den Wald laufen. Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr. Ein Schatten, der sich nähert.
Ich mache einen Schritt zurück. Und noch einen. Und dann renne ich plötzlich.
In der Ferne sehe ich Lilly und Mabel. »Wartet auf mich!«, rufe ich, aber sie drehen sich nicht um. Ich höre Zweige hinter mir knacken, als würde mich das Geräusch verfolgen. Meine Füße fliegen über den Asphalt.
Noch drei Meter. Zwei. Einen.
Keuchend greife ich nach Mabels Arm.
Sie schaut mich erschrocken an. »Was ist denn mit dir los?«
Mein Kopf zuckt nach links und rechts und nach hinten. Der Weg ist verlassen. Nichts bewegt sich, nicht mal ein Zweig.
»Hallo?«, fragt Mabel. »Ist alles in Ordnung?«»
»Oh, äh, ja, alles gut …« Ich atme ein paarmal tief ein.
»Mir ist kalt«, sagt Lilly in klagendem Tonfall. »Und ich bin müde.«
»Gehen wir zum Zelt«, sagt Mabel. »In Ruhe schlafen.«
»J-ja.« Ich schaue mich noch einmal ins Dunkel um. Kein Schatten. Keine Gestalt. Werde ich langsam verrückt?
Sogar mein nüchterner, praktischer Teil schweigt dieses Mal.