Lilly

Ich habe sie verloren.

Der Regen hat Anouk, Mabel und Bo ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben. Warum habe ich den Abstand auch so groß werden lassen? Im Kopf kenne ich die Antwort. Weil meine Füße wehtaten, weil sie so schnell liefen, weil ich müde war …

Wegen der aufsteigenden Tränen fängt meine Nase an zu kribbeln. Komm schon, Lilly, rede ich mir zittrig zu, gleich hast du sie wieder eingeholt. Schniefend laufe ich weiter. Der Regen hat den Wald in verschwommene graue und braune Flecken verwandelt.

»Anouk? Mabel?« Meine Stimme kann Regen und Wind kaum durchdringen.

»Anouk! Mabel!«, rufe ich, so laut ich kann.

Noch immer keine Antwort.

Langsam, ganz langsam bröckelt meine Selbstbeherrschung. Was, wenn ich sie wirklich verloren habe? Dann bin ich hier ganz allein, während es immer dunkler wird.

Vielleicht gibt es wilde Tiere, die mich … Nein! Ich schiebe die Panik weg und hole tief Luft. Es ist gar kein Problem, ich brauche nur dem Weg zu folgen, und dann finde ich sie ganz von allein. Oder?

Mit wackligen Beinen laufe ich weiter. In der Ferne erklingt ein dumpfes Grollen, wie von einem Bären, der aus dem Winterschlaf erwacht. Schneller, schneller.

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sich der Wald bewegt. Ich bleibe stehen und spähe durch den dichten Regenvorhang. Es ist fast unmöglich, mehr als ein paar Meter nach vorn zu schauen. Habe ich es mir eingebildet? Aber dann sehe ich es wieder. Eine dunkle Silhouette in der Ferne. Ich fange laut an zu lachen. Na bitte, ich habe sie schon gefunden!

»Anouk! Mabel! Bo!«

Die Silhouette bewegt sich von mir weg wie ein Fisch unter Wasser.

Mist, sie hören mich natürlich nicht durch den Regen. Ohne nachzudenken, fange ich an zu laufen.

»Huhu, ich bin hier!«

Ein tief hängender Ast streift meine Wange. Weiterlaufen!, sage ich mir selbst, sonst verliere ich sie gleich wieder. Keuchend renne ich durch den dichten Wald. Ich habe das verzweifelte Gefühl, dass die Gestalt immer wieder an einer anderen Stelle im Regen auftaucht.

Ich sauge Luft in meine Lunge und schreie: »Wartet auf mich!«

Ein Blitz – als ginge das Licht für den Bruchteil einer Sekunde an, lange genug, um alles für einen Moment haargenau zu sehen. Ich bleibe stocksteif stehen. Hier ist überhaupt niemand! Ich bin einem Baum hinterhergelaufen. Oder einem Strauch. Aber keinem Menschen. Wie konnte ich bloß so dumm sein?

Der Donner rollt auf mich zu, lauter als eben.

O mein Gott, das Gewitter kommt näher! Ich muss so schnell wie möglich weg hier. Aber wo ist der Weg geblieben? Panisch blicke ich mich um. Im Regen sieht alles gleich aus!

Ich habe mich verirrt.

Plötzlich muss ich an meine Mutter denken. Als ich sechs war, bin ich einmal am Strand verloren gegangen. Ich war total panisch und dachte, ich würde sie nie wiedersehen. Erst nach einer halben Stunde habe ich sie wiedergefunden. Danach hat sie in großen Ziffern ihre Telefonnummer mit einem Marker auf meinen Arm geschrieben, wie eine Art Brandzeichen. Aber das war eigentlich überflüssig. Ich dachte nicht im Traum daran, mich jemals noch einen Schritt von ihr zu entfernen!

Wieder ein Blitz. Nach ein paar Sekunden folgt brausender Donner. Panisch versuche ich, mich an die Regel zu erinnern. Irgendwas mit der Anzahl der Meter und der Entfernung …

Auf einmal fällt es mir wieder ein: Jede Sekunde steht für dreihundert Meter. Das Gewitter ist nur noch einen Kilometer von mir entfernt! Und ich bin ein laufender Blitzableiter, nass geregnet zwischen den Bäumen.

Jetzt habe ich so große Angst, dass ich kaum noch Luft holen kann. Ich werde hier sterben. In ein paar Wochen werden sie meine Leiche finden. Meine Haut wird schrumpeln und sich ablösen, weswegen ich kaum zu identifizieren sein werde.

Ob es Emma auch so ergangen ist?

Eine Explosion aus weißem Licht. Die Erde bebt unter meinen Füßen.

Ich fange an zu rennen, ohne zu wissen wohin. Regen strömt über meine Wangen. Oder sind es Tränen? Ich kann den Unterschied nicht mehr ausmachen. Mein Fuß bleibt an einer Baumwurzel hängen, und ich falle. Ein heftiger Schmerz schießt durch meine Knie. Betäubt bleibe ich sitzen. Die nasse Kälte der Erde kriecht durch meinen Körper nach oben.

Ein Blitz und ein Schlag zur gleichen Zeit.

Das Gewitter ist jetzt unmittelbar über mir!

Ich fange an zu zittern, und meine Atmung geht mit mir durch.

»Lilly …«

Mein Name. So zart wie ein Flüstern. Bilde ich es mir ein?

»Lillyyyy …«

Die Zweige rauschen im Rhythmus der Buchstaben meines Namens. In meiner Fantasie ist es meine Mutter, die mich ruft.

»Mama.«

Ich rappele mich auf.

»Lilly. Lilly. Lilly.«

Ich höre jetzt überall meinen Namen. Links. Rechts. Hinter mir.

»Hier bin ich«, flüstere ich. Schwankend drehe ich mich um meine eigene Achse. »Lass mich bitte nicht allein, Mama.«

Ich spüre etwas hinter mir und drehe mich um.

Ein dumpfer Schlag. Den Bruchteil einer Sekunde später folgt der Schmerz, als würde mein Schädel in Tausende Stücke zerbrechen. Über meine rechte Schläfe fließt etwas Warmes.

Ich höre Stimmen. Sie alle rufen meinen Namen.

Lilly … Lilie … Todesblume …

Schwindelig falle ich auf meine Knie. Als Letztes sehe ich das weiße Blitzlicht. Es löscht alles aus.