Anouk

Im Licht des Blitzes sehe ich sie. Sie sitzt auf einer Waldlichtung zwischen lauter abgerissenen Blättern und Zweigen. Vor Erleichterung fange ich laut an zu lachen.

»Lilly«, rufe ich noch einmal. »Was machst du da?«

Lilly wendet mir ihr Gesicht zu.

Man sagt manchmal, dass die Welt aufhören kann, sich zu drehen. Dass die Zeit langsamer laufen kann. Dass ein Moment einfrieren kann. Als Lilly mich anschaut, passiert das alles auf einmal. Ich höre weder Wind noch Unwetter. Ich spüre den Regen nicht mehr. Mein Herzschlag und meine Atmung stocken.

Lilly stöhnt.

Schlagartig dreht sich die Welt wieder.

»Lilly, was ist passiert?«, rufe ich und renne auf sie zu. Ihre Augen sind weit aufgerissen, aber sie scheint mich nicht zu sehen.

Ich knie neben ihr und halte ihr Gesicht fest. Die rechte Seite ihrer Stirn ist voller Blut. In der Mitte der Wunde glitzert etwas Weißes, als würde der Knochen durch ihre Haut stechen. Mein Magen zieht sich zusammen, und ich spüre, wie die Galle in meiner Kehle aufsteigt.

»W-was ist passiert?«

Lilly macht den Mund auf und zu, aber es ist kein Laut zu hören. Ich spüre, wie ihre Muskeln unter meinen Händen zittern. Das ist nicht gut. Gar nicht gut.

»Lilly, sag etwas, bitte«, flehe ich.

Sie jammert unverständlich.

Ich versuche Lilly hochzuziehen. »Kannst du aufstehen?«

Wie eine Lumpenpuppe hängt sie an mir. Ich schüttele sie hin und her. »Lilly, bitte.«

Plötzlich habe ich das Gefühl, dass die Dämmerung um uns herum noch dunkler wird. Wir sind nicht allein. Ich weiß nicht, warum ich das denke, aber ich bin ganz sicher, dass es stimmt.

Mit aller Kraft, die ich in mir habe, ziehe ich Lilly hoch. »Stütz dich auf mich«, keuche ich. »Und versuch, dich gut festzu…«

Die Luft über uns explodiert. Ein grellweißer Blitz schießt aus dem Himmel und berührt mit einem ohrenbetäubenden Knall die Erde. Ich kann den Schlag bis ganz tief in meinem Inneren spüren. Das war nah. Zu nah.

Gemeinsam mit Lilly stolpere ich vorwärts. Es ist, als würde ich einen Betonblock mit mir schleppen. Das halte ich nicht mal eine Minute aus! Ich versuche, mir ein paar einfache Ziele zu setzen. Lauf zu diesem Baumstumpf. Geh an dem Busch vorbei. Meine Füße gehorchen den Befehlen. Bei dem schiefen Baum da hinten darfst du dich kurz ausruhen.

Keuchend bleibe ich stehen. Eins ist ganz sicher: Ich brauche Hilfe.

»Mabel! Bo!« Meine Worte werden wie Papierfetzen vom heftigen Wind davongetragen.

Mabel. Bo. Hier sind wir. Kommt uns bitte holen. Im Stillen rufe ich sie und hoffe, dass meine Worte sie telepathisch erreichen.

»Anouk.«

Mein Name! Es dauert ein paar Sekunden, bevor ich begreife, dass es Lilly ist.

»Es … ich … jemand …«

Sie versucht, mir etwas verständlich zu machen. Ich sehe in ihre Augen und versuche, ihre Gedanken zu lesen, aber ich sehe nur Angst.

»Pssst, alles wird gut«, beruhige ich sie. Zum Glück schaut sie wieder weg, sonst könnte sie die Angst in meinem eigenen Blick erkennen.

Ein Blitz verleiht dem Wald für einen Augenblick Konturen. Bäume. Äste. Und … eine Gestalt, versteckt zwischen den Blättern. Ein Schrei entschlüpft meinem Mund.

Siehst du, hier ist wirklich jemand!

Es wird wieder dunkel. Erstarrt vor Angst fixiere ich die Stelle, an der die Gestalt stand. Wie ein Chamäleon ist sie mit der Dämmerung verschmolzen. Mein Kopf schießt von links nach rechts. Sie kann überall sein.

Um mich herum höre ich brechende Zweige. Ich weiche zurück.

»Was …« Lilly klammert sich wie eine Ertrinkende an mich.

Ich kann sie nicht beruhigen.

»Anouk.« Mein Name, geflüstert durch den Wind.

Noch ein Schritt nach hinten. Ich ziehe Lilly mit, bis wir mit dem Rücken an einem Baum stehen.

»Anouk.« Wieder mein Name, jetzt böse und scharf.

Ein schwarzer Schatten löst sich aus dem Dunkel. Ich beuge meinen Oberkörper über Lilly in einem Versuch, sie zu schützen.

Der Schatten fällt über mich. Ich kneife die Augen zu und spüre, wie meinem Körper alle Wärme entzogen wird.

»Was zum Teufel macht ihr hier?«

Der Schatten redet … wie Bo.

Ich öffne die Augen. Einige Sekunden lang starre ich Bo sprachlos an. Plötzlich fühle ich mich sehr dumm.

»Was glotzt du so?«, schnauzt sie.

Ich schüttele den Kopf, und diese kleine Bewegung reicht – mir wird schwindelig.

Ein Blitz. Hinter Bo sehe ich Mabel.

»Zum Glück, da seid ihr ja!«, sagt sie. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht!«

»Was ist mit ihr los?« Bo zeigt auf Lilly, die sich schlaff auf mich stützt.

»Sie ist … Ich habe …«, stammele ich.

»Du blutest!« Mabel sieht mich mit großen Augen an.

»Hä?« Ich schaue nach unten und sehe einen dunkelroten Fleck auf meiner Schulter. Im Regen wirkt es noch schlimmer. Rote Tränen tropfen an meinem Arm hinunter.

»Nein, nein«, sage ich heiser. »Lilly ist verletzt, nicht ich.«

Als wäre das ihr Zeichen gewesen, blickt Lilly uns an. Ich sehe, wie grau und bleich ihr Gesicht ist. Ihre Kopfwunde blutet stärker als vorhin.

»O mein Gott«, schreit Mabel. »Sie stirbt!«

»Komm mal runter«, zischt Bo.

Mabel heult mit langen Schluchzern. »Sie stirbt. Genau wie Emma!«

Es passiert im Bruchteil einer Sekunde. Bo schlägt Mabel mit der flachen Hand ins Gesicht. Ich sehe einen weißen Abdruck auf ihrer Wange, die sich blitzschnell rot färbt.

»Niemand stirbt hier. Stell dich nicht so an.« Bo klingt wie eine Mutter, die ihr Kleinkind zurechtweist.

Mabel starrt auf die Erde.

»Wir müssen so schnell wie möglich zum Campingplatz«, sagt Bo. »Dort können wir einen Arzt rufen.«

Zum ersten Mal bin ich froh, dass sie die Führung übernimmt. »Okay.« Ich nicke. »Kann mir jemand mit Lilly helfen?«

»Ja.« Bo hakt ihren Arm unter den von Lilly. »Stütz dich auch auf mich. Kannst du noch?«

»Ein w-wenig«, stammelt Lilly, aber sie hält Bos T-Shirt so fest, dass ihre Knöchel weiß werden.

»Und dann erzählst du mir endlich, was passiert ist.« Es klingt freundlich, aber Bos Blick ist drängend.

»E … ie … ame«, flüstert Lilly. Ich verstehe kein Wort.

»Bitte?« Bo kneift die Augen zusammen.

»Name … Jemand … rief meinen Namen …« Lilly stöhnt, als würde es sie übermenschliche Anstrengung kosten, das zu sagen.

»Vielleicht sollten wir dieses Gespräch lieber nachher fortsetzen«, sagt Mabel leise. »Lilly muss so schnell wie möglich …«

»Psst«, zischt Bo. Und zu Lilly: »Wie meinst du das, jemand rief deinen Namen?«

»Im Wald …«, keucht Lilly. »Ich sah jemanden laufen … dachte, ihr seid es …«

Eiseskälte breitet sich in meinem Körper aus. Ich habe auch eine Gestalt zwischen den Bäumen gesehen! Das war Bo, sagt der rationale Teil meines Hirns. Oder nicht, flüstert der andere Teil. Ich gebe mir große Mühe, ihn nicht zu beachten.

»Im Regen sieht alles gleich aus«, sagt Bo schulterzuckend, als würde das alles erklären. »Aber wie kommst du an diese Wunde?«

Lillys Kopf fällt wieder vornüber.

»Lilly!« Bos Stimme zittert.

»Ich weiß es nicht«, sagt sie leise.

»Wahrscheinlich bist du gegen einen Baum oder einen tief hängenden Ast gelaufen.« Bo lässt es klingen, als wäre sie selbst dabei gewesen.

»Ja, wahrscheinlich«, flüstert Lilly, noch immer mit niedergeschlagenen Augen.

»Schön, dann wäre das ja geklärt.« Bo lächelt. »Let's go. Anouk, bist du startklar?«

»Äh, ja«, murmele ich.

Lillys Arm fühlt sich verkrampft an in meinem. Ich spüre, wie verzweifelt sie versucht, ihre Tränen zurückzuhalten.

»Links, rechts, links, rechts«, begleitet Bo jeden Schritt, den Lilly macht. »Sehr gut.«

Mabel geht ein paar Meter hinter uns.

»Bei dem großen Baum da vorn biegen wir nach links ab, und dann sind wir fast da.« Bo scheint auf einmal genau zu wissen, wohin wir müssen. Ich bin zu müde für das Stimmchen in mir, dem das komisch vorkommt.

Meine Füße schlurfen durch die nassen Tannennadeln. Ganz weit entfernt grollt es noch, aber so schnell, wie das Unwetter aufkam, ist es auch schon weitergezogen. Schweigend laufen wir weiter. Die Stimmung ist unbehaglich, als wären wir flüchtige Bekannte, die sich nichts zu erzählen haben. Oder gute Freunde, die sich viel zu verschweigen haben.

»So, da sind wir.« Bos Stimme durchbricht meine Gedanken.

Zwischen den Bäumen erkenne ich den Zaun und dahinter unser Zelt. Am Horizont leuchtet der Himmel weiß auf – ein letzter Gewittergruß. Ganz kurz, aber lange genug um zu sehen, dass da jemand neben unserem Zelt steht. Ein junger Mann mit blonden Haaren. Rik! Was um Himmels willen will der an unserem Zelt?

Ich lasse Lilly los und bleibe stehen. Rik scheint verschwunden.

»Lieber Himmel, Anouk, warum hast du Lilly losgelassen?«, höre ich Bo fragen. »Sie ist viel zu schwer für mich allein.«

Ich schaue sie an, sie starrt ärgerlich zurück. Aber ich sehe weder Erstaunen noch Angst in ihrem Blick. Sie hat Rik nicht gesehen. Und Lilly und Mabel auch nicht, glaube ich.

»Ist irgendwas?«, fragt Bo giftig.

»Nein«, sage ich leise. Es gibt Wichtigeres, um das wir uns jetzt kümmern müssen. Um Lilly zum Beispiel.

VOLKSKRANT 07.02.19

Neue Fotos im Fall der vermissten Emma Timmers

Von unserem Korrespondenten

AMSTERDAM – Im Fall der vermissten Emma Timmers (16) aus Amsterdam hat die Polizei zwei Fotos freigegeben.

Es handelt sich um ein Foto eines Tanktops aus Baumwolle (Größe M) der Marke Mango. Emma trug ein ähnliches Top am Abend ihres Verschwindens, der mittlerweile schon rund drei Monate zurückliegt. Auffallend an dem grauen Kleidungsstück sind die Pailletten auf der Vorderseite.

Das andere Foto, das die Polizei veröffentlicht hat, stammt von Emmas Ring. Dieser goldfarbene Ring hat eine markante Rautenform und ist bei der Ladenkette Zara erhältlich.

Die Polizei hofft, dass die Fotos neue Hinweise liefern. »Von Emma fehlt noch immer jede Spur«, so eine Sprecherin.

Wer weitere Informationen hat, wird gebeten, über die Telefonnummer 0900 – 8844 Kontakt mit der Polizei aufzunehmen. Auch über das Hinweisformular auf www.politie.nl können Informationen übermittelt werden.

DAS TOP UND DER RING SIND IDENTISCH MIT DEN SACHEN, DIE ICH GERADE IN DEN HÄNDEN HALTE. SIE HABEN NUR VERGESSEN ZU ERWÄHNEN, DASS DIE PAILLETTEN GOLDFARBEN SIND …