Montag, 8. Juli 2019

Mabel

»Jetzt spinn nicht rum, wir fahren nicht nach Hause, nur weil Lilly mit dem Kopf gegen einen Ast gelaufen ist.« Bo schiebt ihren Frühstücksteller samt halb aufgegessenem Croissant giftig von sich. »Das ist wirklich die allerblödeste Idee, die mir je untergekommen ist. Hallo, ich habe ein Jahr für diesen Urlaub gespart!«

»Ich sagte ja nicht, dass wir nach Hause müssen. Ich sagte nur, wir müssen diese Option in Betracht ziehen, nach dem, was gestern Abend geschehen ist«, sagt Anouk leise. Ich sehe die Müdigkeit auf ihrem Gesicht, die dunklen Ringe unter ihren Augen. Es ist, als würde ich mich selbst anschauen. Nur Bo sieht aus, als hätte sie wunderbar geschlafen.

Bo.

Sie hat mich gestern geschlagen wie einen Hund. Die ganze Nacht habe ich deswegen wach gelegen. Es ist vor allem die Veränderung in Bo selbst, die ich einfach nicht vergessen kann. In ihre Augen hatte sich ein dunkler Blick geschlichen, als würde das Licht ausgehen. Als wäre die Bo, die ich kannte, verschwunden. Ich habe heute noch kein Wort zu ihr gesagt, aber offensichtlich merkt sie das gar nicht.

»Ich will diese Option durchaus erwägen. Denk, denk, denk.« Bo tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Nein, tut mir leid, wir bleiben.« Feixend lehnt sie sich zurück. »Was machen wir heute? Chillen am Pool oder chillen am Pool?«

»Weißt du … Lilly sagte, sie hätte gestern Abend jemanden im Wald gesehen.« Anouk tut so, als hätte sie Bos Antwort nicht gehört. »Findet ihr das nicht merkwürdig?«

»Mann, du kennst Lilly. Die kriegt ja schon Panik, wenn sie ihre Zahnbürste nicht findet«, sagt Bo. »Wahrscheinlich stimmt kein Fitzelchen von der Geschichte. Die stellt sich nur an.«

»Der Stoff ist sehr dünn«, flüstert Anouk und zeigt auf das Zelt.

»Na und?«, sagt Bo laut. »Dann hört Lilly es eben. Sie hat jetzt auch lang genug im Bett gelegen.« Sie starrt Anouk spöttisch an.

Nach wenigen Sekunden schlägt Anouk die Augen nieder. »Ich finde trotzdem, dass wir ernsthaft erwägen sollten, früher nach Hause zu fahren«, sagt sie. »Vielleicht sollten wir darüber abstimmen.«

Im Zittern von Anouks Stimme höre ich einen unausgesprochenen Ärger.

»Du kannst die Dinge echt kompliziert machen, Mensch«, greift Bo sie an. »Hier ist die erste Stimme: Ich bleibe. Ich werde mir meinen Urlaub nicht durch Lillys Gejammer verderben lassen. Und was willst du eigentlich selbst, Anouk?«, schnauzt sie. Es würde mich nicht wundern, wenn sie es absichtlich so unfreundlich klingen lässt.

»Ich weiß es nicht«, sagt Anouk mit einer vor lauter Zweifel ganz kleinlauten Stimme. »Ich versuche zu spüren, was sich am besten anfühlt, aber ich fühle es nicht, kapiert ihr das?«

»Nein«, sagt Bo. »Aber gut, du enthältst dich also. Mabel?«

Bo dreht ihren Kopf abrupt zu mir. Das ist das erste Mal, dass wir uns heute anschauen. Ihr Blick ist neutral, als hätte sie mich nie geschlagen.

»Na, was wird's, Mabelchen? Hierbleiben oder nach Hause?«

Nach Hause … Zu meinen Eltern. Und Sam. Irgendwie ist das ein noch größerer Albtraum als hierzubleiben.

»Ich bin für bleiben«, sage ich im Versuch, locker zu klingen.

»Yes, dann hätten wir es. Zwei zu Null. Wir bleiben. Ich ziehe meinen Bikini an und …«

»Aber was ist dann mit Lilly?«, unterbricht Anouk sie. »Dieser französische Arzt sagte gestern, sie hätte eine Gehirnerschütterung und müsse langsam machen.«

»Das kann sie hier auch«, sagt Bo. »Können wir jetzt endlich zum Pool?«

»H-hallo.« Lillys Kopf ragt ein Stück aus der Zeltöffnung. Ein großer weißer Mullverband klebt wie eine Fernsehschüssel auf ihrer Stirn. Im Licht des frühen Morgens wirkt er noch heftiger als heute Nacht. Einen Moment bringt er uns alle zum Schweigen.

Ich lächele Lilly zu. Sie scheint froh zu sein über dieses Lächeln, denn ihre Mundwinkel heben sich vorsichtig.

»Wie geht's?«, frage ich noch immer lächelnd, als sähe Lillys Verletzung damit weniger schlimm aus.

Sie zuckt mit den Schultern.

Offenbar fasst Bo das als positive Antwort auf, denn sie sagt: »Schön. Ich hab doch gesagt, dass es schon nicht so schlimm sein wird. Wir gehen zum Pool, kommst du mit?«

Lillys Gesicht verfinstert sich. »Ich … ich bleibe heute, glaube ich, lieber im Zelt.«

»Dann bleibe ich auch hier!«, ruft Anouk sofort. »Sonst bist du ja ganz allein.«

»Wie ihr wollt«, sagt Bo. »Dann gehe ich eben mit Mabel zum Pool.«

Ich bin zu müde zum Widersprechen. »Okay, ich wollte ein Buch lesen, aber das geht dort ja auch.«

»Na toll«, sagt Bo schnippisch. »Das ist das erste und letzte Mal, dass ich mit euch in Urlaub fahre.«