Anouk

Die Sonne steht so hoch am Himmel, dass alle Schatten verschwunden sind. Es hat etwas Unwirkliches, als wären alle Perspektiven aus unserer Welt verschwunden.

Trotz der Sonnenwärme ist mir kalt. Ich betrachte meine Gänsehaut. Tausende kleiner Härchen, die kerzengerade stehen, als spürten sie etwas, das ich nicht sehe.

Ich muss mir große Mühe geben, mich davon zu überzeugen, dass es im Augenblick nichts gibt, wovor ich mich fürchten muss. Dass es helllichter Tag ist und überall Menschen herumlaufen. Aber das Gefühl eines näher kommenden Unheils bleibt.

Im Zelt liegt Emmas Top. Wir haben es in eine Plastiktüte gesteckt und sie anschließend mit Klebeband verschlossen, als könnte es sonst weglaufen. »Beweisstück eins«, scherzte Bo, aber niemandem war nach Lachen zumute.

Dieses Oberteil kreist die ganze Zeit in meinem Unterbewusstsein. Lilly hat es in Bos Tasche gefunden … Bo behauptet, von nichts zu wissen, aber in mir hat sich eine Tür geöffnet, die ich nicht mehr schließen kann. Was, wenn Bo lügt?

»Wie spät ist es?«, murmelt Bo vom Boden. Sie liegt auf dem Bauch und glänzt vor lauter Sonnenöl, als wollte sie keine Sekunde der letzten Stunden südfranzösischer Sonne vergeuden.

»Eins«, antworte ich leise.

Mabel ist schon fast anderthalb Stunden weg. Beim Zelt hatte sie schlechten Empfang, weswegen sie von der Rezeption aus anrufen wollte. Aber sie hätte doch längst zurück sein müssen? Vielleicht ist ja doch was passiert. Ich versuche, diesen Gedanken abzustellen, aber er dringt immer wieder in meinen Kopf und sät Unruhe.

»Verdammt, was macht Mabel da bloß? Das dauert echt so lange, ich halte das nicht mehr aus.« Das klingt, als täte sich Bo nur selbst leid.

Gereizt stehe ich auf. Bos Ego ertrage ich momentan wirklich nicht auch noch. »Wer möchte was trinken?«, frage ich.

»Ich, eine Cola light«, sagt Bo. »Mit Trinkhalm.«

Hol sie dir doch selbst, denke ich. Und erzähl dann auch gleich dazu, wie das Top in deine Tasche gekommen ist. Aber ich sage: »Okay. Und was willst du trinken, Lilly?«

»Hä, was?« Lillys Blick ist glasig, als wäre sie der Wirklichkeit wieder entflohen. Sie hat ein Buch vor der Nase, aber in der letzten Stunde hat sie noch keine Seite umgeschlagen.

»Ob du etwas trinken möchtest«, wiederhole ich. »Ich kann Limonade …«

»Ach nee, schau mal, wer da ist!« Bo springt auf. »Endlich!«

Ich drehe mich um. In der Ferne kommt Mabel auf uns zu. Ich fange an zu lächeln, so froh bin ich, sie zu sehen. Während sie näher kommt, sehe ich, dass sie einen kleinen Karton in den Händen hält.

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, sagt Mabel, als sie bei uns ist. »Aber ich hing wirklich tausendmal in der Warteschleife. Was für eine blöde Organisation, diese x-travel.«

Sie ist müde, dass erkenne ich an ihrem blassen Gesicht und den hängenden Schultern.

»Hm«, sagt Bo. »Und was meinten sie?«

»Wir können morgen zurück. Die Umbuchung kostet uns allerdings fünfzig Euro. Und dieser Bus fährt nicht von unserem Campingplatz ab, sondern von einem Platz in Saint-Raphaël.«

»Und wie sollen wir da hinkommen?«, fragt Bo genervt, als wäre das alles Mabels Schuld.

»Mit einem Taxi?«

»Und das bezahlst du?«, höhnt Bo.

»Wenn ich meine Mutter anrufe, holt sie uns bestimmt mit dem Auto ab«, sagt Lilly mit niedergeschlagenen Augen.

Bo verschränkt die Arme. »Dann bezahle ich lieber das Taxi. Ich fahre ganz sicher nicht mit deiner Mutter zurück. Die Frau macht doch aus allem ein Problem.«

»Bo«, sage ich warnend. »Das ist ein sehr nettes Angebot von Lilly.«

»Wir müssen uns nicht jetzt sofort entscheiden«, sagt Mabel. »Wir sollen x-travel vor fünf Uhr wissen lassen, was wir machen.«

Seufzend stellt sie den Karton auf den Tisch.

»Was ist das?«, fragt Bo.

Mabel schaut auf den Tisch, als würde sie den Karton zum ersten Mal sehen. »Oh, ein Päckchen. Das wurde heute Morgen an der Rezeption für uns abgegeben.« Sie zuckt mit den Schultern. »Vielleicht ist es etwas vom Reisebüro?«

»Oder ein Geschenk?« Bo schnappt sich das Päckchen vom Tisch. »Ich mache es einfach auf.«

Mit den Fingernägeln pult sie den Rand des Paketbands los und zieht es mit einem Ruck ab. Der kleine Karton klappt auf.

Plötzlich spüre ich etwas. Ein sanftes Streicheln hinten an meinem Hals, als wäre etwas Unsichtbares aus dem Karton gekommen, das mich jetzt berührt.

»O mein Gott, da ist wirklich ein Geschenk drin!«, ruft Bo. Sie nimmt ein rundes Päckchen in der Größe einer Murmel aus dem Karton. Das Einpackpapier ist fröhlich bunt.

»He, und da ist noch was drin.« Ich höre, wie Bos Fingernägel über den Kartonboden kratzen. »Ein Umschlag! Adressiert an uns alle.« Begierig reißt sie den Umschlag auf.

Während ich Bo beobachte, passiert etwas Verrücktes. Es ist, als entstünde ein feiner Nebel. Farben stumpfen ab, das Bild wird verschwommener.

Auf einmal weiß ich, dass dieser Moment mein Leben für immer verändern wird.

»Von wem wird das wohl sein?«, höre ich Bos Stimme durch den Nebel. »Hm, merkwürdiger Text.« Aber sie wirkt noch immer erfreut, wie ein Kind an seinem Geburtstag.

Ich sehe, wie ihre Hände nach dem Geschenk greifen.

»Tu’s nicht!«, will ich rufen. Doch der graue Nebel lähmt mich.

Papierfetzen trudeln zu Boden. In Zeitlupe heben sich Bos Arme.

O.

Mein.

Gott.

Bo hält ein dunkelblaues Band in den Händen.

Und an diesem Band baumelt ein Ring.

Ein paar Sekunden lang passiert überhaupt nichts. Wir starren alle auf den Ring. Ein goldfarbener Ring in Rautenform.

Es kann keinen Zweifel geben: Das ist Emmas Ring.

Sie hatte ihn letzten Sommer gekauft. Und sie trug ihn jeden Tag um ihren rechten Zeigefinger.

Es ist, als würde uns jemand Emma in Häppchen zurückgeben. Das wird uns allen vermutlich gerade klar.

Bo schreit und lässt den Ring fallen. Lilly beginnt, am ganzen Körper zu zittern, als hätte sie keine Kontrolle mehr über ihre Muskeln. Und Mabel beugt sich vor und übergibt sich.

In diesem Orkan aus Panik werde ich plötzlich ruhig, als befände ich mich im Auge des Sturms. Ich kann den Ring nicht einfach so in der staubigen Erde liegen lassen, zwischen all den Tannennadeln und Insekten. Das hat etwas Respektloses.

Ich hebe ihn vom Boden auf. In meinen Fingern ist das Metall glatt und zart. Verrückt, aber der Ring fühlt sich fast lebendig an. Während ich das denke, hebt sich eine leichte Brise. Mabel, Bo und Lilly werden durchsichtig, als würden sie vom Wind weggeblasen.

Plötzlich halte ich Emma fest. Ich atme scharf ein, so unerwartet ist ihre Nähe.

Was ist los?, flüstere ich tonlos.

Aber sie ist unerreichbar. Sie schaut mich an, als gäbe es mich gar nicht.

Emma? Ich schicke die Botschaft durch meine Finger an den Ring. Bitte, rede mit mir.

Ihre Augen öffnen sich weit, als sähe sie etwas, vor dem sie große Angst hat.

Nur ruhig, Emma. Ich bin es, Anouk. Mit aller Kraft, die ich in mir habe, versuche ich ihr diese Botschaft zu senden.

Vergebens. Die Angst zerfurcht ihr ganzes Gesicht und bricht in einem lautlosen Schrei heraus.

Ich will meine Arme um sie legen, damit sie sich beruhigt, aber sie reißt sich los und flieht. Wie eine Fata Morgana verschwindet sie in der warmen Sommerluft.

Plötzlich ist mir kalt. Das Gefühl des näher kommenden Unheils ist jetzt so stark, dass ich es nicht mehr ignorieren kann.

»Wir müssen die Polizei anrufen«, sage ich heiser. »Sofort.«