Anouk

Wo bin ich? Das ist mein erster Gedanke, als ich die Augen aufschlage. Es ist warm und drückend, und alles um mich ist dämmrig orange. Erst nach ein paar Sekunden wird mir klar, dass ich in unserem Zelt liege und es wahrscheinlich noch sehr früh ist. Irgendwas hat mich geweckt, aber was?

Ich setze mich im Schlafsack auf. Es ist, als hätte die Welt außerhalb unseres Zelts aufgehört zu existieren. Selbst die Vögel sind still. Doch dann höre ich etwas. Ganz leise, aber es gibt keinen Zweifel: knackende Ästchen, Geraschel.

Wer oder was läuft da draußen um unser Zelt? In dem Moment, in dem ich es denke, wird eine schwarze Silhouette auf der Zeltplane sichtbar. Ein Schatten im Morgenlicht. Eine Gestalt ohne Gesicht. Wie erstarrt schaue ich zu, wie der Schemen ein paar Schritte macht und dann stehen bleibt, die Beine ein wenig gespreizt, abwartend.

Ist das ein anderer Campinggast? Aber warum bleibt er dann ausgerechnet vor unserem Zelt stehen? Der Schatten kommt näher. Plötzlich kann ich fast fühlen, wie dünn die Zeltplane ist und wie wenig Schutz sie uns bietet. Reglos starre ich auf den Schatten. Ich stelle mir vor, dass ich durch den Stoff schauen kann. Eine endlose Sekunde sind wir in unserem unsichtbaren Blick gefangen.

Dann bewegt sich der Schemen und entfernt sich von der Plane. Nach ein paar Sekunden ist auch das Geräusch der knackenden Äste nicht mehr zu hören. Es ist, als hätte ich etwas gesehen, was es nie wirklich gegeben hat.

Fröstelnd ziehe ich meinen Schlafsack hoch. Soll ich Mabel, Bo und Lilly wecken und ihnen von diesem seltsamen Schatten erzählen? Oder mache ich mich nur gerade selbst verrückt?

Dann sehe ich etwas aus den Augenwinkeln. Etwas, das nicht stimmt, wie bei den Bildern mit den zehn Unterschieden. Man weiß, dass Dinge fehlen, hat aber noch nicht heraus, welche.

Und plötzlich sehe ich es.

Die Schlafsäcke von Lilly und Bo sind leer! Wie zwei leere Hülsen liegen sie neben mir.

Eine scheußliche, kalte Angst beschleicht mich. Ich spüre sie so stark, als würde sie meinen ganzen Körper in Besitz nehmen: Meine Arme, Hände, Fingerspitzen, alles wird kalt und gefühllos. Dieses Gefühl hatte ich schon einmal: an dem Abend, als Emma verschwand.

Hör auf, Anouk. Sie sind bestimmt zur Toilette oder so was. Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.

Auf der Suche nach einem Beweis für diese Theorie tasten meine Hände ihre Schlafsäcke ab. Doch der Stoff ist klamm und kalt, als hätte nie jemand darin geschlafen.

Das ist nicht gut, flüstert eine Stimme in meinem Unterbewusstsein.

Ich beuge mich vor und rüttele an Mabels Arm.

»Mabel«, sage ich mit rauer Stimme. »Aufwachen!«

Ihre Augenlider zittern, aber sonst zeigt sie keine Reaktion.

»Mabel! Bo und Lilly sind weg!«

»Hä, was?«, murmelt sie. Glasig schaut sie mich an, mit einem Blick voller unfertiger Träume.

»Lilly und Bo sind verschwunden.«

»W-wie meinst du das?«

»Sie … sie sind einfach nicht mehr da.«

Mabel setzt sich abrupt auf. Ich sehe, wie ihr Blick über die leeren Schlafsäcke irrt. »W-wo sind sie?«, stammelt sie.

Ich schüttele den Kopf, eine Bewegung, die mir Schwindel und Übelkeit verursacht.

Wir schauen uns an. Es ist, als würde die Zeit stehen bleiben und dann anfangen, rückwärts zu ticken.

Bo.

Lilly.

Emma.

Sie sind alle weg.

»Wir müssen sie suchen gehen«, sage ich leise. Keine Wahrheit kann so schlimm sein wie die Angst in meinem Kopf.

»J-ja.« Mabels Augen werden feucht. »Bestimmt gibt es eine logische Erklärung, o-oder?«

»Natürlich«, sage ich unsicher. »Mach dir mal keine Sorgen. Wahrscheinlich konnten sie nicht schlafen und machen einen kleinen Spaziergang.«

»Ja, so etwas wird es sein.« Ich höre ihrer Stimme an, dass auch sie nicht glaubt, was sie da sagt – wahrscheinlich, um mir einen Gefallen zu tun.

Ich winde meine Beine aus dem Schlafsack und greife nach meinen Flipflops. »Wir drehen eine Runde über den Campingplatz, okay?«

Mabel nickt und kriecht ebenfalls aus ihrem Schlafsack.

Wir schlüpfen aus dem Zelt. Tau glitzert auf dem Gras. Neben unserem Zelt sehe ich überall Fußabdrücke im nassen Gras, kreuz und quer durcheinander, als hätten dort viele Leute gestanden. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich dorthin gehe.

»W-was machst du?«, fragt Mabel.

»Psst.« Ich lege einen Zeigefinger an meine Lippen.

Ich folge den Fußspuren um unser Zelt und bin so konzentriert, dass ich den Schatten erst sehe, als er hinter unserem Zelt hervorspringt.

Ich stoße einen Schrei aus, der auch Mabel zum Schreien bringt.

»Geht's noch?!« Bos Stimme dringt an mein Ohr. »Seid ihr verrückt geworden?«

»W-was machst du hier?«, stammle ich erschrocken.

Bo sieht mich mit einem seltsamen, unergründlichen Blick an. Nach ein paar Sekunden sagt sie jedoch leichthin: »Oh, ich musste pinkeln. Vielleicht sollte ich lieber fragen, was ihr hier macht?«

»I-ihr wart verschwunden«, sagt Mabel.

Bo lacht nur. »Na, hier bin ich ja wieder. Das nächste Mal hinterlasse ich einen Zettel, wenn ich pinkeln gehe!«

»Aber wo … wo ist dann Lilly?«, fragt Mabel.

Eine Stille tritt ein. Eine, die alles sagt.

»Keine Ahnung«, sagt Bo dann achselzuckend und macht Anstalten, ins Zelt zu schlüpfen.

Mir verschlägt es die Sprache. »Hörst du überhaupt zu? Lilly ist weg. Weg!«

»Ja, hallo, ich bin ja nicht taub.« Sie verschränkt die Arme. »Sie wird schon wieder auftauchen.«

»Das hoffe ich auch.«

Hinter mir höre ich Mabel leise schluchzen. »I-ich mache m-mir solche Sorgen.«

Ich drehe mich um und nehme ihre Hand. »Wir werden sie suchen. Alle zusammen.«