Auf einmal ist man tot.
Und plötzlich lebt man wieder.
Wenn mir jemand diese Geschichte erzählt hätte, dann hätte ich wahrscheinlich gesagt: »Das kann nicht sein.« Oder: »Das denkst du dir aus.« Oder: »Du siehst Gespenster.« Aber glaub mir, es ist wirklich wahr. Und es ging überraschend einfach.
Eines Morgens bin ich ganz normal aufgestanden und habe meine Kleider angezogen. Ich hatte sie ordentlich gefaltet und im Badezimmerschränkchen aufbewahrt, damit sie nicht schmutzig werden. Denn ich wusste, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Mit einem großen Eimer Putzwasser habe ich die Hütte gesäubert. Den Tisch gerade gestellt, den Stuhl wieder an seinen Platz, das Bett so gemacht, wie es damals war, als ich hier ankam. Es sollte so aussehen, als wäre nie jemand hier gewesen.
Als Letztes habe ich mein Tagebuch in die Hand genommen und durch die Seiten mit den herausgerissenen Zeitungsartikeln geblättert. Ich hatte alles aufbewahrt und kommentiert, was über mich geschrieben worden war. Aber es waren immer weniger Artikel erschienen. Und sie wurden immer kürzer. Nach sechs Monaten hatten die Leute bereits vergessen, dass es mich je gegeben hatte.
Ich schlug das Tagebuch zu und steckte es in die Mülltüte. Fertig. Das Mädchen aus den Zeitungsartikeln existierte nicht mehr.
Mit Mülltüte und Rucksack ging ich zur Tür und sah mich noch einmal um. Nach diesem halben Jahr fühlte sich die Hütte sicher und vertraut an. Aber ich musste weg. Immer häufiger hörte ich draußen Stimmen von Wanderern und Tagesausflüglern. In ein paar Tagen würden die Sommerferien anfangen, und dann würde es im Park voller werden. Das Risiko, entdeckt zu werden, wurde zu groß.
Ich holte tief Luft und ging hinaus. Es war ein schöner Tag. Der Himmel war tiefblau, und es war warm. In der Sonne wirkte die Szenerie richtig schnuckelig: ein weiß gestrichenes Häuschen mit grünen Läden und einem rosa blühenden Baum im Garten. Die anderen Ferienhäuser waren zwischen den Bäumen kaum zu sehen.
Es war Zeit zu gehen, sonst würde ich den Bus verpassen. Ich ging aus dem Garten, den Weg hinunter, an der Ablagestelle für den Müll vorbei zur Straße. Ein Radfahrer sah mich nicht einmal, als ich die Straße überquerte. Die Buslinie 327 kam pünktlich. Ich habe ein Ticket zum Bahnhof Amstel gelöst und mich hingesetzt.
Natürlich wusste ich, wo ich hinfuhr. Das hatte ich mir schon vor Langem überlegt: in unser altes Haus. Das Haus, in dem ich mit meinen Eltern gelebt hatte. Es stand schon rund zwei Jahre leer. Am Bahnhof Amstel stieg ich aus und streifte die Kapuze meiner Jacke über. Bei einem Telefonladen kaufte ich ein Prepaid-Handy mit Datenguthaben. Ganz ruhig bin ich danach in den Middenweg gegangen, mitten durch unser altes Viertel. Verrückt, aber keiner nahm Notiz von mir. Es gab mich wirklich nicht mehr.
Das Haus wirkte dunkel und verlassen. Zögernd klopfte ich an die Haustür. Irgendwie hoffte ich, sie ginge auf und meine Mutter würde lächelnd in der Türöffnung stehen. »Da bist du ja endlich«, würde sie erleichtert sagen. »Wir haben dich so vermisst. Komm schnell rein, Papa ist auch da.«
Aber die Tür ging nicht auf. Ich klopfte noch einmal und lauschte, ob ich Schritte oder Stimmen hörte. Nichts. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss, drückte die Klinke hinunter, schluckte und trat ein.
Endlich zu Hause.
Ich bin schon ein paarmal gestorben. Das erste Mal, als mich die Polizei in der Schule abholte, um mir zu erzählen, dass meine Eltern verunglückt waren. Ein Lastwagen hatte den Stau übersehen, in dem sie standen. Das zweite Mal letztes Jahr im September, als meine Tante mir sagte, wir würden nach Rotterdam umziehen. Es war keine Frage, sondern eine Mitteilung. Und weil ich noch keine achtzehn war, musste ich mit. Sie schaute mich mit ihrem kühlen, verärgerten Blick an, den sie immer in den Augen hatte, wenn sie mich ansah. Ich glaube, wir fanden es beide schrecklich, dass sie mein Vormund war. Doch meine Mutter hatte nur eine Schwester, und mein Vater war Einzelkind gewesen.
Lieber würde ich sterben, als nach Rotterdam umzuziehen. Seltsamerweise ging mir diese Idee nicht mehr aus dem Kopf. Sie wurde täglich größer, bis ich an nichts anderes mehr denken konnte: Vielleicht wäre ich tatsächlich besser tot. Wer würde mich vermissen? Keiner wahrscheinlich.
Ich hatte keine Eltern mehr.
Meine Tante hasste mich.
Und meine Freundinnen hatten vergessen, wer ich war.
Die immer fröhliche Emma, die sich oft vor Lachen nicht mehr einkriegte, die jedem half und für ihre Freundinnen durchs Feuer ging. Dieses Mädchen war nach dem Unfall ihrer Eltern verschwunden. Statt ihrer gab es ein anderes. Ein Mädchen, das sehr viel weinte, Angst hatte, Streit anfing. Die frühere Emma gab es zwar noch, doch sie hatte sich so hoffnungslos verirrt, dass sie keinen Ausweg mehr sah.
Statt meine Hand zu nehmen und mir den Weg zurück zu zeigen, ließen Bo, Mabel, Anouk und Lilly mich los. Das tat am meisten weh.
Mein Leben hatte keinerlei Sinn mehr. Ich wollte nicht länger Emma Timmers sein.
Und da las ich zufällig den Bericht über Annelies Wilson in der Zeitung. Ein Mädchen aus Rotterdam, das nach einem Schulfest einfach so verschwunden war. Nur ihr Fahrrad, ihr Handy und ihre blutige Jacke waren gefunden worden. Die meisten Leute zweifelten nicht daran, dass sie tot war.
Plötzlich wusste ich, wie ich mein altes Leben loswerden konnte. Ich musste Annelies Wilson werden – aber ohne wirklich zu sterben. Mir blieben noch zwei Monate bis zur Weihnachtsfeier der Schule.
Als Erstes habe ich den Schlüssel vom Ferienhaus meiner Tante in Muiden nachmachen lassen. Ich wusste, dass sie nie dorthin ging und dass es in einem abgelegenen Ferienpark für Naturfreunde stand. Es gab nicht mal eine Rezeption, so klein war der Ferienpark. Und im Winter war es dort nahezu wie ausgestorben. Das schien mir perfekt.
Danach habe ich alle Sachen zusammengesucht, von denen ich dachte, ich könnte sie brauchen: ein Taschenmesser, ein Verbandspäckchen, eine Schachtel Schmerztabletten, Stift, Papier, T-Shirt, saubere Unterwäsche, ein Handtuch, Bettwäsche und einen Rucksack, um alles zu transportieren. Und ich habe eine Bestellung beim Supermarkt Albert Heijn über seine Website aufgegeben, die am Tag der Weihnachtsfeier an der Seite des Häuschens abgestellt werden würde. Kisten voller haltbarer Produkte. Wasser konnte ich aus dem Haus nutzen. In den Unterlagen meiner Tante hatte ich gesehen, dass sie die Kosten für Gas, Wasser und Strom über Einzugsermächtigungen bezahlte. Es würde ihr vermutlich nicht auffallen, wenn der Betrag mal etwas höher ausfiele. Wie praktisch.
Als Letztes habe ich unter falschem Namen ein Halbjahresabo auf die Tageszeitung De Volkskrant abgeschlossen.
Und dann war es auf einmal der 20. Dezember. Hätte ich noch Zweifel an meinem Plan gehabt, wären sie an diesem Abend ausgeräumt worden. Mabel, Bo, Anouk und Lilly ließen mich komplett links liegen. Überall wurde getanzt. Gelacht. Aber ich fühlte mich so allein, so einsam. Eigentlich gab es mich schon nicht mehr. Ich musste meinen Plan nur noch in die Tat umsetzen.
Ich habe meine Jacke genommen und bin nach draußen gegangen. Da war niemand … dachte ich. Ich erschrak furchtbar, als ich Bo an der Straßenecke begegnete. Sie lehnte an einer Mauer und nahm einen großen Schluck aus einem schwarzen Flachmann. «Was machst du denn hier?«, fragte sie und sah mich sonderbar an.
Plötzlich hatte ich eine irre Angst, mein Plan könnte schon an dieser Straßenecke enden. Mir fiel nur eine einzige Taktik ein: der Angriff.
»Schauen, ob du dich auch an die Regeln hältst, zum Beispiel nicht trinken unter achtzehn. Vielleicht sollte ich das einfach schnell der Schulleitung melden.«
Ich drehte mich um und tat, als würde ich wieder reingehen. Bo schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht.
»Das lässt du schön bleiben«, zischte sie. »Ich entscheide selbst, was ich tue.«
Arme Bo, auch so allein.
Verrückt, dass mir diese Worte durch den Kopf schossen, während ich dastand. Aber ich konnte ihr nicht helfen. Ich musste mir selbst helfen. Dank Bos Ohrfeige hatte ich eine gute Entschuldigung, weinend davonzufahren. Das ist das Letzte, was sie von mir gesehen hat.
Bei der Nieuwe Achtergracht bin ich vom Rad gestiegen. Das war der Teil meines Plans, vor dem es mir am meisten graute. Ich zog meine Winterjacke aus, klappte mein Taschenmesser auf und setzte die Schneide an meinem linken Oberarm an. Das Metall war kalt auf meiner warmen Haut. Ich schloss die Augen und sagte mir: Einfach weiteratmen. Nicht zögern. Es ist gleich vorbei.
Mit einer einzigen schnellen Bewegung zog ich einen tiefen Schnitt in meine Haut. Es tat unglaublich weh. Ein paar Sekunden lang hatte ich Angst, ich würde in Ohnmacht fallen. Aber dann verging der Schmerz, und aus der Wunde quoll Blut. Ich ließ es auf meine Jacke tropfen, bis ein dunkelroter, fast schwarzer Fleck im Stoff sichtbar wurde. Danach legte ich meine Jacke auf den Bürgersteig, dicht ans Ufer.
Keiner würde jetzt noch daran zweifeln, dass mir etwas Schlimmes zugestoßen war.
Ich biss die Zähne zusammen und wickelte den Verband aus meiner Fahrradtasche um meinen Oberarm. Die Wunde klopfte und bohrte, aber ich musste weiter.
Vom Indische Buurt aus radelte ich aus der Stadt hinaus, über den Diemerpolderweg zum Diemerbos. Mir war klar, wohin ich musste: zum kleinen See an der Ostseite. Von dort aus konnte ich die Wanderstrecke nach Muiden nehmen. Zum Glück hatte ich eine Ersatzjacke mitgenommen, denn es war eisig kalt. Ich habe meinen Rucksack mit den Sachen aus meiner Fahrradtasche genommen und mein Rad in einem Schilfgürtel versteckt – der Vorderreifen war absichtlich noch ein Stück zu sehen. Anschließend habe ich mein Handy ausgeschaltet und im hohen Bogen in den See geworfen.
Ich war sicher, dass mein Fahrrad innerhalb weniger Tage gefunden werden würde. Tagsüber wimmelte es hier nur so vor Leuten, die ihren Hund ausführten. Mein Handy würde wahrscheinlich von Tauchern aus dem Wasser gefischt werden. Arme Emma Timmers. Entführt, niedergestochen und ermordet.
Alles verlief perfekt nach Plan.
Aber dann ging es doch beinahe schief. Natürlich hatte ich die Strecke vom Diemerbos zum Ferienhaus auf Google Maps herausgesucht und auswendig gelernt. Es waren höchstens vier Kilometer. Doch im Dunkeln sahen alle Bäume gleich aus, und ich hatte kein Handy mehr, um meinen Standort zu bestimmen. Um die Katastrophe perfekt zu machen, fing es auch noch an zu schneien. Die Schneeflocken klebten an meiner Jacke, blieben in meinen Haaren hängen und verschmolzen langsam zu einem nassen Schneematsch. Nach einer Stunde war mir so kalt, dass ich nur noch zitterte. Nach anderthalb Stunden wurden meine Gedanken träge und schwammig, und nach zwei Stunden war es mir völlig egal, ob ich vor Kälte sterben würde.
Ich glaube, dass ich ungefähr zu diesem Zeitpunkt mein Armband mit den Anhängern verloren habe. Wahrscheinlich bin ich an irgendeinem Zweig hängen geblieben, und dann ist das Armband am Kanaaldijk West in den Schlamm gefallen, ohne dass ich es merkte.
Wie durch ein Wunder habe ich schließlich den Ferienpark in Muiden gefunden. Völlig erschöpft und unterkühlt bin ich ins Häuschen meiner Tante gestolpert. Das Licht funktionierte nicht, aber ich war zu müde, um den Sicherungskasten zu suchen. Ich habe nur noch meine nasse Kleidung ausgezogen und mich aufs Bett gelegt.
Dort fiel ich in eine Art Koma und hatte seltsame Träume: Von meinen Eltern, die neben mir saßen und meine Hand festhielten. Von einem stickigen Raum, in dem ich eingeschlossen war. Von einem Schemen, der mich berührte.
Das wirkte alles so echt, dass ich aufgeschreckt bin. Es war pechschwarz, und für einen Moment wusste ich nicht, wo ich war. Ich hatte die Hütte noch nie bei Tageslicht gesehen. Ich tastete mich durch das Zimmer. Es war eine kleine Einpersonenhütte mit ein paar Möbeln und einem Schlafsofa. Hinter einer Kassettentür befand sich das winzige Badezimmer, aber dort traute ich mich ohne Licht nicht hinein. Es fühlte sich an, als wäre ich in einem dunklen Schrank eingeschlossen. Was hatte ich getan? O mein Gott, was hatte ich getan? Ich geriet in Panik und kroch weinend zurück ins Bett.
Die Tage danach waren einfach nur schrecklich. Die Schnittwunde am Oberarm entzündete sich immer mehr. Meine Schachtel mit den Schmerztabletten war schon nach zwei Tagen aufgebraucht, und im Badezimmer konnte ich keine Medikamente finden. Das Fieber stieg so hoch, dass ich glaubte, ich würde es nicht überleben. Aber offenbar war es für mich wirklich noch nicht an der Zeit.
Und dann stand eines Tages plötzlich jemand vor der Tür. Ein Einbrecher? Ein zufälliger Passant? Wer es auch war, er durfte nicht reinkommen. Ich sah die Schlagzeile schon vor mir: VERMISSTE EMMA TIMMERS IN FERIENPARK GEFUNDEN!
Zitternd vor Angst bin ich unters Bett gekrochen. Nach einer Weile gab die Person auf der anderen Türseite auf. Ich war mit knapper Not davongekommen.
So nahe wie dieses eine Mal ist nie wieder jemand gekommen. Manchmal hörte ich Stimmen, oder ein Kind schrie und weinte. Wie bei dem einen Mal mit dem Mädchen. Wahrscheinlich war es hingefallen. Da hatte ich ziemlich Schiss. Was, wenn sie wegen sauberem Wasser und einem Pflaster bei mir angeklopft hätten?
Nachts schlüpfte ich manchmal aus dem Haus, um die Zeitung aus dem Briefkasten am Zaun zu holen oder den Müll wegzubringen. Zum Glück bin ich dabei nie jemandem begegnet.
Die Tage reihten sich aneinander, wurden zu Wochen und dann zu Monaten. Die Bücher aus dem Regal meiner Tante hatte ich schon nach ein paar Wochen ausgelesen. Und die Nachrichten in der Zeitung interessierten mich immer weniger. Es war, als wäre ich nicht mehr Teil dieser Welt. Die Einsamkeit und die Stille lasteten immer schwerer auf mir. Ich verlor mich selbst immer mehr. Eines Tages wagte ich es, mich endlich loszulassen. Emma Timmers war Vergangenheit.
Hier hätte die Geschichte enden sollen. Ich wäre ein paar Wochen in unserem alten Haus geblieben, um mich zu erholen und wieder zu Kräften zu kommen. Bei geschlossenen Vorhängen würde niemand mein Versteck entdecken. Und im Vorratsschrank gab es noch ausreichend Lebensmittel in Konserven, sodass man es gut noch eine Weile aushalten konnte. Zum Glück hatte meine Tante sich nie die Mühe gemacht, das Haus aufzuräumen. Nach ein paar Wochen wollte ich dann in ein anderes Land ziehen und mir dort eine neue Existenz aufbauen.
So hatte ich mir das überlegt.
Leider habe ich mich nicht an meine eigenen Spielregeln gehalten. Ich war gerade erst ein paar Tage im Haus am Middenweg, als ich auf meinem Handy eine Nachricht auf Facebook las, die Bo gepostet hatte (ja, ganz schlimm, ich checkte immer noch die Chroniken von Bo, Anouk, Mabel und Lilly. Dafür hatte ich sogar einen Fake-Account eingerichtet).
Yes, Sommerferien! Morgen nach Frankreich! Jetzt neuen Bikini kaufen #bestholidayever
Mabel, Anouk und Lilly hatten den Post geliked. Ich wusste genau, von welchem Urlaub sie redeten. Unserem Urlaub. Ich war so sehr davon ausgegangen, dass sie diesen Urlaub storniert hatten …
Also nicht.
Ich war kaum ein halbes Jahr tot, und sie hatten mich jetzt schon vergessen! Blitzartig wurde mir klar, dass ich wütend war. Und enttäuscht. Es fühlte sich an, als hätten sie mich zum zweiten Mal fallen gelassen. Ich starrte auf den kleinen Bildschirm, bis ich Flecken sah. Ein Gedanke stieg auf und schob alle anderen zur Seite, bis ich an nichts anderes mehr denken konnte: Ich würde auch nach Frankreich fahren! Heimlich.
In dem Moment schien es mir eine so logische Entscheidung zu sein, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was ich dort machen sollte.
Ich habe ein paar Kleidungsstücke in einen Koffer geworfen, unter anderem das Oberteil von der Weihnachtsfeier, und bin per Anhalter nach Südfrankreich. Dort habe ich mir ein billiges Hotel in Campingplatznähe gesucht. Am nächsten Morgen bin ich früh aufgestanden und zum Campingplatz gelaufen. Kurz vor acht fuhr der Bus auf den Parkplatz.
Ich stand ein paar Meter entfernt hinter einem Auto, aber sie sahen mich nicht. Ich war Luft für sie. Ein Geist. Ich folgte ihnen am Zaun des Campingplatzes entlang zu ihrem Stellplatz und sah zu, wie sie ihr Zelt aufbauten. Ich sah, wie sie zum Pool gingen, in der Sonne abhingen, Einkäufe erledigten, zusammen aßen, ein Spiel spielten.
Es war the best holiday ever, wie Bo schon geschrieben hatte. Ohne Emma Timmers.
Nach dem Essen bin ich zu meinem Hotel zurückgegangen. Ich konnte nicht länger mitansehen, wie schön sie es zusammen hatten. Erst Stunden später konnte ich einschlafen – mit vom Weinen dick verquollenen Augen. An den nächsten Tagen wurde es fast zu einer Besessenheit, ihnen zu folgen.
Einmal wäre es fast schiefgegangen, als sie vom Strand zum Campingplatz zurückliefen. Es gab ein Gewitter, und plötzlich lief Lilly hinter mir. Sie sah mich, aber doch wiederum nicht wirklich wegen des dichten Regenvorhangs. Und dann rannte sie gegen den Ast … Ich bin ihnen zum Campingplatz gefolgt, um sicher zu sein, dass es Lilly gut ging. Das wurde mir fast zum Verhängnis. Beim Zelt stand plötzlich der Typ, mit dem Bo vorher rumgemacht hatte. Wahrscheinlich suchte er sie. Zum Glück konnte ich mich gerade noch rechtzeitig wegducken.
Und manchmal hatte ich das Gefühl, Anouk könnte meine Anwesenheit spüren. Als würde sie mitten durch alle Bäume schauen, hinter denen ich mich versteckte. Das war natürlich Unsinn. Ich habe nie an ihre sogenannte paranormale Gabe geglaubt – und sie selbst meiner Ansicht nach auch nicht.
In meinem Kopf füllte sich ein Fotoalbum mit allen fröhlichen Augenblicken ihres Urlaubs. Es tat weh. Sehr weh. Es fühlte sich an, als verlöre mein altes Leben dadurch völlig an Bedeutung. Als würde nichts, was ich je getan hatte, noch irgendwie zählen.
Emma Timmers, wer war das noch? War das nicht dieses Mädchen von der Schule? Oder vom Hockey? Sie hatte blonde Haare, oder? Und o ja, damals verschwand sie auf einmal!
Plötzlich wollte ich so gern, dass sie wieder an mich dachten. Dass ich wieder spüren würde, dass es mich sehr wohl gegeben hatte. Aber ich konnte ja schlecht auf sie zugehen und sagen: »Hallo, hier bin ich!« Also habe ich das getan, was dem am nächsten kam: Ich habe dafür gesorgt, dass sie meine Sachen bekamen.
Erst stopfte ich mein Top in Bos Tasche. Das ging so leicht! Auf einem Campingplatz achtet niemand auf ein Mädchen in Sommerkleid und Flipflops. Und dann der Karton mit meinem Ring.
Einen Mann, den ich schon öfter in der Nähe des Campingplatzes hatte herumlungern sehen, habe ich gefragt, ob er das Päckchen für einen Zwanziger an der Rezeption abgeben würde. Anschließend habe ich mich neben einen Baum gesetzt und gewartet. Es dauerte Stunden, bevor Mabel mit dem Karton ankam. Und noch einmal eine Viertelstunde, bis Bo ihn endlich öffnete.
Sogar jetzt noch schäme ich mich, wenn ich daran denke. Vor meinen Augen sah ich, wie sie zerbrachen! Hatte ich das wirklich gewollt?
Und plötzlich verstand ich es: Sie setzten ihr Leben nicht fort, weil sie mich vergessen hatten – sie taten es, weil sie sonst selbst kein Leben mehr hätten.
Mit einem ganz abscheulichen Gefühl bin ich ins Hotel zurückgelaufen und habe meine Sachen gepackt. Es reichte. Am nächsten Tag würde ich nach Hause trampen. Und ich würde nie wieder Emma Timmers sein.
In dieser Nacht bin ich zum allerletzten Mal zum Campingplatz zurückgegangen, um mich zu verabschieden. In der Sicherheit der Nacht habe ich mich neben das Zelt gekauert und mein Ohr an das Tuch gelegt. Durch den dünnen Stoff hörte ich, wie sie atmeten. Ein wunderliches, fast intimes Geräusch. Wenn ich die Augen schloss, war es fast, als würde ich neben ihnen im Zelt liegen. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich wieder wie ein Teil von ihnen. Wie hatte ich sie vermisst.
»Es tut mir leid«, flüsterte ich.
Und da passierte es.
Der Reißverschluss des Zelts wurde aufgezogen.
Und Lilly stolperte hinaus. Sie sah mich an, als wäre ich ein Geist.
»Lilly!«, rief ich erschrocken aus.
Ich hörte das Pochen meines Bluts, laut und vorwurfsvoll. Es gibt nur eine Sache, die schlimmer ist als tot zu sein: So zu tun, als wäre man tot. Und das würde die ganze Welt jetzt erfahren.
Aber es geschah nichts. Lilly fing nicht an zu schreien, sie weinte nicht, und sie fiel auch nicht in Ohnmacht. Sie starrte mich nur weiterhin an, als wäre sie betrunken. Oder bekifft.
Vielleicht hatte ich ja noch eine Chance. Vielleicht würde sie es verstehen.
»Wir müssen reden«, flüsterte ich heiser. Doch sie hörte mich nicht, sah durch mich hindurch.
»Hab keine Angst, Lilly«, flehte ich.
Sie zitterte am ganzen Körper.
»Kommst du mit?« Ich habe ihre Hand genommen und bin mit ihr zum Pool gegangen. Das war der einzige Ort, der mir einfiel, wo wir in aller Ruhe reden könnten.
Im Schatten der Bäume habe ich Lillys Hand losgelassen. »Bitte lass es mich dir erklären«, bat ich inständig.
Ihr Gesicht war wie aus Stein.
»Ich … ich konnte nicht anders.« Ich schloss die Augen und biss mir auf die Lippe. »Verstehst du das?«
Keine Antwort.
Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich, wie sie in den Pool fiel. Mit ausgestreckten Armen schwebte sie kurz über dem Wasser. Wie ein Engel im Licht der Sterne und des Mondes.
Ich wollte sie festhalten, aber der Stoff ihres Nachthemds rutschte mir durch die Finger.
Das Wasser verschluckte sie. Langsam sank sie zu Boden. Ich sah, wie sie mich mit großen Augen ansah. Nicht wütend oder beschuldigend. Nein, eher verständnisvoll und voller Zuneigung.
Innerhalb einer Sekunde habe ich eine Entscheidung getroffen. Ich habe mich umgedreht und bin weggerannt. Bei jedem Schritt sagte ich mir: Lilly ist zum Rand geschwommen und hinausgeklettert. Sie wird allen erzählen, dass sie mich gesehen hat, aber niemand wird ihr glauben. »Das war ein Traum«, werden sie sagen, »du bist geschlafwandelt.« Und irgendwann wird Lilly das auch selbst glauben.
Ja, so würde es laufen.
Wenige Tage später las ich in der Zeitung, dass sie ertrunken war.
Warum geschehen Dinge?
Warum wollte ich tot sein, aber schlussendlich starb Lilly?
Warum habe ich mich für mich entschieden und nicht für sie?
Warum?
Ich kann niemandem einen Vorwurf machen, nur mir selbst. Und das mache ich jeden Tag.
Es ist an der Zeit, jetzt wirklich zu gehen. Abschied zu nehmen von diesem Leben.
Vergebt mir.