August 2020

Mabel

Es ist ein Samstag im August, so ein schwüler, drückender Sommertag, an dem es selbst im Schatten zu warm ist. Aber die Luft riecht schon nach Herbst, feucht und schwer. In einer Woche ist September, und wir fangen mit dem Studium an. Das war das letzte Mal, dass wir uns in diesem Sommer sehen konnten. Dass wir Lilly sehen konnten.

»Soll ich jetzt …«, fragt Bo zögernd.

Anouk nickt.

Behutsam tritt Bo vor. Ich schaue zu, wie sie sich bückt und ein paar Blätter von Lillys Grab fegt. Eine junge Frau von achtzehn Jahren mit roten wässrigen Augen, die es schon lange nicht mehr schlimm findet, wenn wir sie weinen sehen. Sie hat sich sogar getraut, ihren Eltern ihren Kummer zu zeigen. In diesen Sommerferien ist Bo zum ersten Mal seit Jahren wieder eine Woche mit ihren Eltern und Schwestern in Urlaub gefahren.

»Na los«, ermutigt Anouk sie.

Bo nickt und stellt die Skulptur auf Lillys Grab: fünf Lilien, die miteinander verwachsen sind und zum Himmel zeigen. Die fünf Lilien sind wir: Emma, Lilly, Bo, Anouk und ich. Wir haben die Skulptur speziell für Lilly anfertigen lassen.

Bo stellt sich neben uns. Wir fassen uns an den Händen und schauen auf das Grab.

Lilly Albertine Rijssel

27. Oktober 2002 – 11. Juli 2019

In unseren Herzen blühst Du für immer

Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich Lilly nie wiedersehen werden. Manchmal habe ich das Gefühl, sie zu sehen, wenn ich durch eine volle Einkaufsstraße laufe oder abends im Dunkeln nach Hause radle. In jedem Schatten und in jeder Bewegung entdecke ich dann ihr Gesicht.

Als wir im Juni unsere Abschlusszeugnisse bekamen, war dieses Gefühl am stärksten. Hier hätte auch Lilly stehen müssen.

Aber sie ist nicht mehr da, und sie wird nie mehr da sein.

Dem Pathologen zufolge hatte sie in dieser Nacht eine Überdosis Beruhigungstabletten geschluckt. Deren Nebenwirkungen sind eine starke Bewusstseinstrübung, Verwirrtheit, Koordinationsstörungen und ein Verlust von Muskelkraft. Aber das ist alles nicht tödlich. Wäre sie nicht ins Wasser gefallen, würde sie wahrscheinlich noch leben.

Manchmal rede ich in Gedanken mit Lilly. Dann sage ich ihr, wie besonders sie war und wie sehr ich sie vermisse. Ich hoffe, dass sie es hört.

»Lilly findet die Skulptur sehr schön«, sagt Anouk und wischt sich eine Träne von der Wange.

Ich lächele. Es ist nicht seltsam, diesen Satz aus Anouks Mund zu hören. Lilly wäre bestimmt sehr stolz auf Anouk, wenn sie wüsste, dass sie Psychologie studieren wird. Anouks Mutter hatte ihr dazu geraten. Ein Studium mit Gefühl, ohne zu nebulös zu werden.

Anouk sieht auf ihre Armbanduhr. »Wann holt Sam dich ab?«

»In ein paar Minuten«, sage ich. »Wir müssen noch ein paar Kartons packen. Morgen ziehen wir unsere Sachen um.«

Ich werde Jura studieren in Leiden. Und ich ziehe mit Sam zusammen. Meine Eltern waren nicht begeistert, als ich ihnen Sam vorgestellt habe. Aber ich konnte sie nicht länger belügen. Ich konnte mich nicht länger belügen.

In den vergangenen zwei Jahren hat sich so viel verändert. Manchmal scheint es, als wären wir an diesem Tag im Juli allesamt erwachsen geworden. Vielleicht muss man erst etwas verlieren, bevor man versteht, was wirklich wichtig ist.

Ich spüre, wie sich ein Kribbeln über meinen Rücken ausbreitet. Schnell werfe ich einen Blick über die Schulter.

Niemand.

Wie immer.

Die Polizei hat monatelang nach dem Mädchen von den Überwachungsbildern gesucht. Dass es Emma war, haben sie nicht geglaubt. Das Bild war zu verschwommen, zu schlecht erkennbar. Auf dem Film war auch nicht eindeutig zu sehen, ob das Mädchen Lilly geschubst oder versucht hatte, sie festzuhalten. Die offizielle Erklärung lautete schließlich: Unfall mit Todesfolge.

Lillys Mutter ist einmal zu uns gekommen, um sich für die frischen Lilien zu bedanken, die jede Woche auf dem Grab liegen. Wir haben ihr gesagt, dass die Blumen nicht von uns sind. »Aber von wem dann?«, fragte sie.

Das werden wir nie herausfinden, denke ich.

»Hallo«, höre ich eine leise Stimme neben mir.

Sam! Ich drehe mich um und küsse sie auf den Mund. Ich bin so froh, dass sie mir noch eine zweite Chance gegeben hat. Dass sie uns eine zweite Chance gegeben hat. Ein paar Wochen nach Lillys Begräbnis habe ich Anouk und Bo erzählt, dass ich lesbisch bin. Sie waren erstaunt, aber auch verständnisvoll. »Ich habe so etwas schon gespürt«, sagte Anouk. »Warum hast du es uns nicht früher erzählt? Wir sind deine Freundinnen.«

Meine Eltern hatten anfangs mehr Probleme damit. Mit kleinen, mühsamen Schritten mussten sie sich an die Vorstellung gewöhnen. Aber jetzt, ein Jahr später, lassen sie nichts auf Sam kommen.

Ich muss noch oft an jenen ersten Kuss denken, damals in der Gasse. Was bin ich in Panik geraten, als sich herausstellte, dass Emma uns zufällig beobachtet hatte. Ich hatte so große Angst, dass sie es allen erzählen würde. Aber jetzt tut es mir unendlich leid, dass ich sie nicht ins Vertrauen gezogen habe. Ich hatte einfach genug mit mir selbst zu tun. Aber sie auch. Wir hätten uns vielleicht gegenseitig helfen können.

»Sollen wir gehen?« Anouks Stimme holt mich in die Wirklichkeit zurück. »Es ist fast vier Uhr.«

Ich nicke und schaue noch einmal zum Grab. Es ist, als stünden wir an einer Kreuzung zwischen unserem alten und unserem neuen Leben. Ab jetzt wird die Distanz mit jedem Jahr größer werden. Wir werden unser Leben fortsetzen, studieren, arbeiten, vielleicht irgendwann Kinder kriegen. Lilly und Emma werden immer sechzehn bleiben. Aber vergessen werden wir sie nie. Durch sie wurden wir, wer wir sind. Die Entscheidungen, die wir treffen, treffen wir, weil wir sie gekannt haben.

»Adieu«, murmelt Bo.

Wir drehen uns um und gehen zurück – in unser Leben.

Brand legt Haus in Schutt und Asche

Amsterdam – Vergangenen Freitag wütete ein großer Brand in Amsterdam Ost. Das Feuer war in einer Wohnung am Middenweg ausgebrochen.

Der Brand wurde am Morgen von den Nachbarn gemeldet. Erst gegen Mittag konnte die Feuerwehr den Brand unter Kontrolle bringen. Umliegende Häuser haben große Rauchschäden davongetragen.

Die Brandursache ist noch nicht geklärt. Außerdem ist unklar, ob sich zum Zeitpunkt des Brandes Personen in der Wohnung aufhielten. Den Anwohnern zufolge stand das Gebäude schon seit geraumer Zeit leer.