9.

Mit einem stetig zunehmenden Gefühl des Unbehagens folgte Iskat Noxi zu den Archiven.

»Weißt du, warum sie mich sehen will?«, fragte sie die Bibliotheksassistentin.

»Meisterin Jocasta wird dir alles selbst erklären. So ist sie – überaus zupackend.« Noxi lächelte aufmunternd. Im Gegensatz zur Chefbibliothekarin mit ihrer strengen Miene war sie heiter und freundlich. Immer schon.

In den Archiven war es nach der ungewöhnlichen Aufregung durch die Ernennungszeremonie sehr still und ruhig. Jocasta Nu wartete nahe der Tür auf sie, die Hände verschränkt und … Iskat anlächelnd? Etwas sehr Seltsames ging hier vor.

»Ihr wolltet mich sehen, Meisterin Nu?«, sagte Iskat, und einmal mehr erwies sich ihre Gabe von Nutzen, nach außen hin gelassener zu wirken, als sie in Wirklichkeit war.

»Glückwunsch zu deiner Berufung zur Ritterin! Ich weiß, dass Sember sich darüber gefreut hätte.« Jocasta senkte kurz den Kopf. »Meister Klefan erwähnte kürzlich, dass du nach neuer Führung und Anleitung suchst, jetzt, da deine Meisterin eins mit der Macht ist.«

Iskat hatte Mühe, ihr Lächeln beizubehalten. Sie ahnte, worauf dieses Gespräch hinauslief, und es gefiel ihr nicht.

»Ja, Meisterin. Seit der Schlacht um Geonosis bin ich der Ansicht, dass ich dort draußen im Einsatz eine wertvolle Bereicherung wäre. Ich möchte unbedingt meinen Teil zu den Kriegsbemühungen beitragen.«

Jocastas Lächeln fiel ein wenig in sich zusammen. Sie neigte den Kopf zur Seite. »Eigentlich sagte man mir, Sember hätte dich darauf vorbereitet, eines Tages ihren Platz einzunehmen. Wir hatten gehofft, dass du dich uns hier in den Archiven anschließt, sofern deine Zeit es erlaubt, um schließlich das Werk deiner Meisterin fortzusetzen und im Namen des Jedi-Ordens seltene Schriften und Artefakte zu beschaffen. Als wir das letzte Mal miteinander sprachen, meinte Sember, du wärst fast so weit.«

Obgleich Iskat erfreut war zu hören, dass Sember trotz allem offenbar doch einiges Vertrauen in sie gehabt hatte, wusste sie nicht recht, was sie darauf erwidern sollte. Sie hatte schlichtweg kein Interesse an den Archiven und auch nicht daran, die Lücke zu füllen, die Sembers Tod gerissen hatte. Iskat hatte sich nie lebendiger gefühlt als im Kampf auf Geonosis, und allein der Gedanke daran, das aufzugeben, um fortan wieder bei einer heißen Tasse Deychin-Tee um verstaubte alte Datacrons zu feilschen, gab ihr das Gefühl, sehenden Auges zuzulassen, dass ihr Leben zu einer Einbahnstraße wurde – mit einer Sackgasse am Ende. »Meisterin Jocasta. Ich danke Euch, dass Ihr mich dieser Aufgabe für würdig haltet«, sagte sie aufrichtig. »Doch ich fürchte, die Macht wünscht, dass ich ihr auf andere Weise diene. Nach dem, was ich auf Geonosis gesehen habe, glaube ich, dass es mir schwerfallen würde …«

Nicht zu töten, dachte sie, doch sie sprach es nicht laut aus.

Nicht zu kämpfen klang immer noch zu brutal.

Und nichts zu tun würde sich wie eine Beleidigung anhören.

»… mich hier niederzulassen, obwohl ich mich insgeheim zu anderem berufen fühle«, beendete sie den Satz.

Jocasta runzelte die Stirn. Noxi neben ihr trat nervös von einem Bein aufs andere.

»Es kommt nicht oft vor, dass eine Jedi eine Aufgabe ablehnt, die man ihr anträgt«, sagte die ältliche Bibliothekarin mit einem unübersehbaren Anflug von Besorgnis. »Sember schien überzeugt zu sein, dass du diesen Weg einschlagen wirst, und ich habe auch bereits mit Meister Klefan darüber gesprochen. Ich weiß nicht, ob dir das bewusst ist, aber auch wenn du diesen Posten übernimmst, hättest du die Möglichkeit, deinen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen zu leisten. Bloß wenn du im Tempel weilst, würdest du deine Zeit hier verbringen, um wertvolle Arbeit zu leisten – Arbeit, für die du eigens ausgebildet wurdest.«

Iskat brachte es nicht über sich, Jocasta in die Augen zu sehen. Einerseits fühlte sie sich, als wäre sie drauf und dran, einen schrecklichen Fehler zu machen, doch andererseits wusste sie, dass sie es an jedem einzelnen Tag ihres künftigen Lebens bereuen würde, wenn sie dieses Angebot annahm. »Ich glaube, Meisterin Sember hat ihre Hoffnungen für mich mit meinen eigentlichen Vorlieben und Stärken verwechselt. Ich bin ihr wirklich dankbar dafür, dass sie dieses Vertrauen in mich gesetzt hat, und Euch, dass Ihr es ebenfalls tut, aber die Macht hat andere Pläne für mich.«

Meisterin Jocasta Nu sah sie eine Zeit lang schweigend an, als würde sie versuchen, in Gedanken ein Puzzle zusammenzufügen, und schüttelte dann den Kopf. »Alles, was wir tun können, ist, uns dem Willen der Macht zu beugen. Falls du deine Meinung änderst, wirst du hier in den Archiven immer willkommen sein.« Sie neigte flüchtig den Kopf, ehe sie in den Tiefen der Bibliothek verschwand und Iskat und Noxi allein zurückließ.

»Nun, zumindest ist es dir gelungen, Jocasta Nu zu überraschen«, sagte Noxi. Jetzt lächelte sie wieder. »Ich glaube nicht, dass irgendwer damit gerechnet hat, dass du dich so entscheiden würdest.«

»Ich bedaure aufrichtig, ein so großzügiges Angebot nicht annehmen zu können«, begann Iskat, so geplagt von Schuldgefühlen, dass sie kaum atmen konnte.

Doch Noxi winkte ab und unterbrach sie: »Wie Meisterin Nu schon sagte: Wir alle müssen auf die Macht vertrauen und uns von ihr leiten lassen. Das ist der einzig wahre, aufrichtige Weg, um sich als Jedi weiterzuentwickeln. Es ist gut, dass du das Selbstvertrauen hast, deinem eigenen Pfad zu folgen.« Sie ließ ihren Blick durch die Archive schweifen, bis hinauf zur hohen Decke. »Für mich war die Bibliothek schon immer mein Zuhause.«

Jetzt, da Jocasta fort und die Archive ansonsten verwaist waren, wurde Iskat mit einem Mal klar, dass sich ihr gerade eine neue Möglichkeit bot, das Rätsel um ihre Herkunft zu lösen. Was geschehen war, war geschehen; sie würde mit ihrer Entscheidung leben. Jetzt stand es ihr wieder frei, ihren eigenen Interessen nachzugehen.

»Noxi, du arbeitest schon ziemlich lange hier, nicht wahr?«

Noxi nickte eifrig. »Natürlich nicht so lange wie Jocasta, aber ich habe das Gefühl, als wäre ich schon immer hier gewesen.«

»Weißt du dann vielleicht etwas über meine Spezies oder meinen Heimatplaneten?«

Das überraschte die Menschenfrau. Sie sah Iskat so durchdringend an, als würde sie sie zum ersten Mal bewusst wahrnehmen, sie von Kopf bis Fuß studieren. »Nein, aber Xenoanthropologie ist auch nicht gerade mein Fachgebiet. Ich bin mir allerdings sicher, dass es irgendwo in den Archiven etwas darüber gibt – hier gibt es eigentlich zu allem etwas. Wir müssen es bloß finden.«

»Aber … bist du jemals jemandem begegnet, der aussah wie ich? Gab es in der Vergangenheit vielleicht einen anderen Jedi von meiner Art? Weißt du, ich … irgendwie scheine ich die Einzige zu sein. Ich würde einfach gern mehr über mich selbst erfahren.«

Bevor Noxi etwas darauf erwidern konnte, kehrte Jocasta Nu so unvermittelt wieder zurück, als würde sie sich aus dem Schatten materialisieren. Ihre Aufgeschlossenheit von vorhin war verschwunden. Sie war wieder dieselbe mürrische Bibliothekarin, die Iskat schon in ihrer Kindheit so gefürchtet hatte. »Du bist nicht der einzige Jedi, der einer Spezies angehört, die man auf Coruscant nur selten sieht. Ich weiß, es ist schwer, Antworten zu wollen und sie nicht zu bekommen. Aber manchmal werfen Antworten ohnehin nur noch mehr Fragen auf. Du bist eine Jedi, Iskat Akaris. Jetzt sogar eine Jedi-Ritterin. Was musst du denn sonst noch über dich wissen?«

Ihre Worte frustrierten Iskat nur noch mehr. »Ich will wissen, warum ich zwei Herzen habe. Ich will wissen, warum meine Sinne anders zu funktionieren scheinen als die anderer Leute. Ich will den Namen meines Heimatplaneten wissen, damit ich, wenn man mich fragt, woher ich komme, eine Antwort darauf geben kann, anstatt ungebildet oder ignorant zu wirken.«

»Sag ihnen, du bist eine Jedi. Das ist das Wichtigste. Alles andere ist ohne Bedeutung. Persönliche Verbindungen sind uns verboten, und das schließt die Verbundenheit zu einem Namen, einem Volk oder einem Ort mit ein. Die Macht hat dich auserwählt, Iskat. Deine Zukunft ist wichtiger als deine Vergangenheit. Mach etwas daraus.«

Iskat wusste, dass das eine Art Rauswurf war. Obwohl die Jedi sich eigentlich Gelassenheit und Gleichmut verschrieben hatten, war Iskat ziemlich sicher, dass sich Jocasta Nu durch ihre Weigerung, ihr Leben den Archiven zu widmen, persönlich beleidigt fühlte. Auf einmal wirkten die Archive nicht mehr so einladend wie zuvor. Hier würde sie die Antworten, die sie suchte, vermutlich nicht finden, schon gar nicht, wenn die Chefbibliothekarin nicht bereit war, ihr dabei zu helfen.

»Habt Dank, Meisterin. Ich werde mein Bestes tun, um Euren Rat zu befolgen.«

Jocasta neigte das Haupt und wandte sich wieder ihrem Tagwerk zu. Noxi folgte ihr, während Iskat frustriert mit den Zähnen knirschte.

Als sie sich in der riesigen Kammer umsah und die vielen Regale betrachtete, die angeblich das gesamte Wissen der Galaxis bargen, stand für sie fest, dass die Antworten, die sie suchte, hier irgendwo sein mussten. Sogar Noxi hatte das gesagt. Iskat wusste, dass es geheime Bereiche in der Bibliothek gab, zu denen nur Befugte Zutritt hatten, aber sie hatte keine Ahnung, wo genau sie sich befanden oder wie man dort hineingelangte. In der Hoffnung, Jocastas scharfem Blick zu entgehen, wagte sie sich weiter vor in das Gewirr der Regale als jemals zuvor, in Teile der Archive, die so alt und überholt waren, dass sie nicht sagen konnte, welchem Zweck sie noch dienten. Sie versuchte, die Macht dazu zu bringen, sie zu den Informationen zu führen, die sie suchte, aber sie spürte nur Leere und dieses seltsame, lästige Gefühl, dass man ihr etwas vorenthielt.

Was für einen Sinn hatte ein Ort wie dieser, wenn jeder einfach Daten aus einer Datei löschen konnte? Warum sollte sie sich die Mühe machen, um Schriften und Datenbänder zu feilschen, wenn es unmöglich war, darin das zu finden, was man suchte? Ihre Finger zuckten, als sie das Verlangen überkam, in ihrer Frustration Tausende Texte und Holobücher aus den Regalen zu reißen. Sie sehnte sich danach, dieses Getöse zu hören, zu spüren, wie sich all die Spannung, die sich in ihr aufgestaut hatte, mit einem Schlag löste. In diesem Säulengang auf Geonosis hatte sich etwas verändert. Als sie sich dem Kampf gefügt und der Gewalt geöffnet hatte, war es, als wären alle Barrieren gefallen, die sie in so mühevoller Arbeit aufgebaut hatte, und jetzt ließen sie sich nicht wieder hochziehen. Ohne Meisterin Vey, die sie leitete und ihren Geist beschäftigt hielt, fiel es ihr wesentlich schwerer, ihre Gefühle zu kontrollieren und ihre Zunge im Zaum zu halten. Iskat hatte genug von Nettigkeiten, Regeln und Vorschriften. Sie war es leid, ihre Neugier zu zügeln. Sie wollte wissen, wer diese Feyra war, und mehr über das Lichtschwert erfahren, das jetzt in der Schublade ihres eigenen Schranks versteckt lag, und allmählich beschlich sie der Verdacht, dass beides irgendwie mit ihrer eigenen mysteriösen Vergangenheit verwoben war.

Ein Name, den ihre Meisterin mit ihrem letzten Atemzug offenbart hatte … das Versprechen, jemandem zu helfen, das Sember Feyra vor langer Zeit gegeben hatte … Die Tatsache, dass Sember sie zum Padawan genommen hatte, obwohl sie einander vorher praktisch gar nicht kannten, um ihr Leben fortan der Aufgabe zu verschreiben, Iskat zu unterweisen, ließ eigentlich nur den Schluss zu, dass sie dieser Jemand war, um den es dabei ging. Und ein Lichtschwert, das eigens für eine Hand von Iskats Größe angefertigt worden war, obwohl sie weit und breit die Einzige ihrer Art war? Das Lichtschwert hatte jemandem gehört, der wie Iskat war.

War es möglich, dass Feyra … ihre Mutter war? Oder irgendeine andere Verwandte?

Nun, zumindest jemand, der derselben Spezies angehörte wie Iskat und einst mit Sember Vey befreundet gewesen war. Wenn dem tatsächlich so war, war es kein Wunder, dass niemand Iskats Fragen beantworten wollte, kein Wunder, dass die Bibliothekarin nicht gewillt gewesen war, ihr dabei zu helfen, in den Archiven das zu finden, wonach sie suchte. Sofern Iskat mit ihrer Vermutung richtiglag, verschwiegen Meister Klefan und Meisterin Jocasta ihr Informationen über jemanden, der ihr sehr nahestand, über jemanden, der vom gleichen Blut war wie sie. Über jemanden, der schon lange nicht mehr im Jedi-Tempel weilte. Und sie würden ihr Wissen nicht freiwillig preisgeben. Schließlich waren Bindungen aller Art verboten, und die meisten Jedi hatten kein Interesse an ihren Heimatplaneten.

Andererseits kannten die meisten Jedi ihre Heimatplaneten. Sie wussten um die Geschichte und die Biologie ihrer Spezies und waren sogar schon anderen begegnet, die aussahen wie sie. Iskats Ausbildung hatte sich vor allem darauf konzentriert, ihre Mitte zu finden und ihre Verbindung zur Macht zu verstehen. Doch manchmal war es, als wüsste sie nicht einmal genau, wer sie selbst war, als Individuum, sondern bloß, wer sie werden sollte, um den Jedi nach besten Kräften dienen zu können. Tief in ihrem Innern hatte sie das Gefühl, für alle Zeiten auf der Suche nach Antworten zu sein, solange sie diese scheinbar grundlegenden Aspekte ihrer selbst nicht kannte. Vielleicht widersprach das dem Weg der Jedi, aber Iskats Neugierde beherrschte ihr ganzes Denken.

Sie musste herausfinden, was es mit Feyra auf sich hatte, ob sie miteinander verwandt waren und warum Feyra nicht mehr zu den Jedi gehörte. Sie musste in Erfahrung bringen, wie Meisterin Vey in den Besitz des Lichtschwerts gelangt war und warum sie beschlossen hatte, es zu verstecken, obwohl auch das gegen den Kodex verstieß.

Bevor sie vollends die Kontrolle über ihre nur mühsam in Schach gehaltene Frustration verlieren konnte, entdeckte Iskat eine in einer Nische verborgene Tür, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, und eilte zwischen den Regalen darauf zu. Sie hatte keine Ahnung, ob die Tür zu einem der abgesperrten Bereiche führte, von denen sie gehört hatte, und ob sie sich überhaupt öffnen ließ. Aber sie brauchte einen Weg hier raus, und zwar jetzt sofort.