35.

Ihre Familie zu verlassen, war eine der schwersten Entscheidungen, die Iskat in ihrem ganzen Leben getroffen hatte. Es brach ihr die Herzen, dem einen Ort den Rücken zu kehren, wo sie Liebe und Akzeptanz haben könnte, aber gleichzeitig wusste sie, dass es keine Alternative gab. Auch wenn sie diese Leute kaum kannte, empfand sie doch die gleiche Zuneigung für sie, die sie ihr gegenüber an den Tag legten, und der Gedanke, dass sie zu Schaden kommen könnten, war unerträglich. Sie musste den Planeten verlassen und nach Coruscant zurückkehren, bevor jemand ihre Abwesenheit bemerkte und Nachforschungen anstellte. Die anderen Inquisitoren hatten bereits bewiesen, dass sie vor nichts zurückschreckten, um eine Rivalin zu schwächen. Sie durften niemals von ihrer Familie oder ihrer Heimat erfahren.

Denn Iskats Liebe für diese Leute … würde sie stärker machen.

Sie würde ihre Familie in ihren Herzen tragen, während sie ihre Pflichten als Inquisitorin erfüllte. Sie würde sie nicht ignorieren oder die Erinnerung an sie verbannen, so wie die Jedi es einst von ihr verlangt hatten. Nein, ihre Familie war jetzt ein Teil von ihr, so wie es schon von Anfang an hätte sein sollen.

Aber sie musste sie beschützen. Sollte ihrer Großmutter oder den anderen Gefahr drohen, wären sie vollkommen hilflos; Iskat hatte während ihres gesamten Aufenthalts auf dem Planeten keine einzige Waffe gesehen. Die Pkorianer führten ein wunderschönes, farbenfrohes Leben … aber sie waren verwundbar. Und Iskat hatte gelernt, dass es so etwas wie wahren Frieden nicht gab. Nur weil ihre Heimatwelt noch nicht in den Blick einer Minengesellschaft oder eines landhungrigen Kriegsfürsten gerückt war, hieß das nicht, dass Pkori ewig sicher sein würde. Es sei denn, jemand sorgte dafür.

Das war ein weiterer Grund, warum Iskat nicht bleiben konnte. Denn falls sie nachgab und es doch versuchte, würde sie jeden Tag darauf warten, dass der dunkle Schatten eines Sternzerstörers den Himmel verdunkelte. Auf Pkori gäbe es keine Möglichkeit, sich über die Entwicklungen innerhalb des Imperiums auf dem Laufenden zu halten. Nein, sie könnte den Planeten besser beschützen, wenn sie weiter an ihren Fähigkeiten arbeitete und in den Rängen der Inquisition aufstieg.

Also würde sie gehen. Aber sie würde nicht vergessen.

Ihre Familie gab ihr eine geflochtene Tasche voller Früchte, Körnerkekse und Teebeutel mit, Feyras Armreife hingegen blieben auf Iskats Drängen hin in Beamalas Obhut – etwas so Schönes, Wertvolles und Einzigartiges könnte sich zu ihrer Kultur zurückverfolgen lassen, falls es die Neugier eines Inquisitors erregte.

Auch wenn die Reise letztlich in einer Sackgasse geendet hatte, war sie doch zufrieden mit dem, was sie hier gelernt hatte. Feyra war ihre Mutter, das rätselhafte Lichtschwert hatte ihr gehört, und der Traum hatte ihr die Wahrheit gezeigt. Nur ein Teil des Puzzles fehlte noch, nämlich Feyras aktueller Aufenthaltsort. Falls sie noch immer auf Pkori war, hielt sie sich seit Jahren verborgen, und Iskat konnte nicht den gesamten Planeten nach einer einzigen Person durchkämmen – vor allem, falls Feyra noch ein paar ihrer Jedi-Fähigkeiten behalten hatte. Und falls sie Pkori verlassen hatte … nun, dann konnte sie überall in der Galaxis sein.

Iskat musste sich also mit dem zufriedengeben, was sie hatte: Antworten auf die Fragen, die die Jedi stets abgeblockt hatten.

Während die Scythe in den klaren blauen Himmel emporstieg, ergriffen blökende Cochukka-Schafe die Flucht, und der Schäfer wedelte einmal mehr mit seinem Stab, nun aber zum Abschied, nicht aus Empörung – oder zumindest hoffte Iskat das. Aus der Luft betrachtet, wirkte die Stadt winzig. Sie mochte schon seit Tausenden Jahren existieren, doch sie war schrecklich zerbrechlich. Für jemanden, der auf Coruscant aufgewachsen war, würden sich handgefertigte Baumaterialien und gewobene Stoffe niemals so sicher anfühlen wie Plastahl und Rüstungen aus verstärktem Leder.

Nein, dieser Ort, dieses Leben … das war zu weich für Iskat Akaris.

Sie würde nicht versuchen, sich auszumalen, wie ihr Leben ausgesehen hätte, wäre sie nicht machtempfänglich gewesen. Sie würde nicht all den Dingen nachtrauern, die sie verpasst oder verloren hatte, weil man sie den Jedi gegeben hatte – Dinge wie eine Familie, Liebe, Verständnis, Akzeptanz. Und sie würde ganz sicher nicht darüber nachgrübeln, dass sie ohne die Jedi bei ihrer Mutter aufgewachsen wäre, bei Feyra, und dass ihr so womöglich eine Kindheit voller Zweifel und Einsamkeit erspart geblieben wäre. Ihr Schicksal wäre sicher ein völlig anderes – und deutlich friedlicheres – gewesen, wäre sie bei diesen starken, liebevollen Frauen groß geworden.

Der blaue Himmel machte dem vertrauten Schwarz des Weltalls Platz. Pkori war von zahllosen Sternen umgeben, und in vielen dieser Systeme gab es bewohnte Planeten. Die Galaxis war unendlich viel größer, als ihre Familie sich auch nur vorstellen konnte. Groß genug, dass es zwischen all diesen Sternen Platz für beides gab: für Orte wie Coruscant und Orte wie Pkori. Es gab Platz für kleine grüne Monde wie Olgothon 3, für Wüstenplaneten wie Geonosis und für dunkle, unheimliche Orte wie Thule. Eines Tages, wenn die Jedi ausgelöscht und sämtliche Spuren des Ordens weggewischt waren, der Iskat – und ihre Mutter – so viel Kummer beschert hatte, würde sie vielleicht wirklich wieder hierherkommen.

Ja, entschied sie. Sie würde zurückkehren.

Es fühlte sich richtig an. Ihre Reise hatte hier begonnen, und nachdem sie ihre Ziele erreicht hatte und wirklich Frieden in der Galaxis eingekehrt war, würde sie den Kreis schließen, indem sie eine Matriarchin wie Beamala wurde. Sie würde die Sprache ihrer Familie lernen, ihre bunten Kleider tragen und die Armreife ihrer Mutter überstreifen, bevor sie ihre eigenen hinzufügte. Aber sie würde ihre Waffen mitbringen, um vorbereitet zu sein, falls die Gewalt ihren Weg nach Pkori fand. Vielleicht würde sie sogar die Anführerin ihres Volkes werden, um es vor einer Bedrohung von jenseits seiner Welt zu beschützen, die es nicht einmal ansatzweise begreifen konnte.

Iskat lächelte, während sie den ersten Sprung ihres Rückflugs nach Coruscant einprogrammierte. Sie kannte ihre Berufung, und nun hatte sie auch ein Schicksal.

Die Reise zum Hauptquartier der Inquisition war ereignislos, abgesehen von einem kleinen und geplanten Zwischenstopp. Auf Coruscant schien sich auch nichts verändert zu haben; alles war noch immer genauso wie bei ihrem Abflug. 6-RA-7 folgte ihr die Rampe hinab und erklärte, dass seine speziellen Fähigkeiten in Zukunft nur für Angelegenheiten von galaktischer Bedeutung – oder Mordanschläge – genutzt werden sollten, bevor er in Richtung der Bibliothek davonstakste.

Wie erwartet rief der Großinquisitor sie fast sofort zu sich, und Iskat gratulierte sich zu ihrer Verschlagenheit, als sie, nun wieder in ihrer Uniform und mit einem Sicherheitsbehälter in den Händen, vor seinem Gemach erschien.

»Und, was hast du bei deinem kleinen« – eine bedeutsame Pause, während er sie von Kopf bis Fuß musterte – »Ausflug in Erfahrung gebracht?«

Sie neigte den Kopf. »Dass meine Mutter den Orden verließ und auf ihre Heimatwelt zurückkehrte. Aber niemand weiß, wo sie danach hinging.«

Er tippte mit dem Finger auf die Armlehne seines Sessels und betrachtete sie mit selbstgefälliger Überheblichkeit. »Es war töricht von den Jedi, dieses Wissen vor dir geheim zu halten, obwohl doch offensichtlich war, dass es deine Neugier wecken würde. Und was hast du mir da mitgebracht? Ein Relikt aus deiner Heimat?«

Iskat stellte den Sicherheitsbehälter zwischen ihnen auf den Boden. »Ich habe mir erlaubt, einen Abstecher nach Takodana zu machen, wo Sember sich oft mit einer Händlerin traf, die sie Morgest nannte.« Sie öffnete die Verschlüsse, woraufhin die Seitenplatten nach außen klappten und den Blick auf ein Lichtschwert freigaben. »Morgest wusste nicht, wem die Waffe ursprünglich gehörte, aber sie überließ sie mir ohne Gegenwehr. Es war das einzige Artefakt, das sich in ihrem Besitz befand – ich konnte sonst nichts in der Macht spüren.«

Die Finger des Großinquisitors zuckten, und schon flog der Schwertgriff in seine Hand, damit er ihn genauer in Augenschein nehmen konnte. Iskat hatte die Waffe bereits begutachtet und nichts Besonderes daran finden können; nichts, was darauf hindeutete, wem sie einmal gehört hatte, ob sie nun fünf oder fünfhundert Jahre alt war. Der Großinquisitor aktivierte einen Moment lang die Klinge, dann nickte er zufrieden.

»Wenn du schon Zeit vergeuden musst, ist es nie verkehrt, zumindest mit einem Fundstück zurückzukehren. Du kannst gehen.«

Iskat ließ den Behälter auf dem Boden stehen und ging zu ihrer Kammer. Sie hatte gewusst, dass es eine gute Idee war, nicht mit leeren Händen von ihrer Reise zurückzukehren. Ohne die drohende Präsenz des Großinquisitors und ihre einschüchternde Rüstung war es ein Leichtes gewesen, die gütige Händlerin zu beschwatzen und das Lichtschwert gewaltlos an sich zu bringen. Iskat hatte geahnt, dass es sich noch bezahlt machen würde, an ihrer Überzeugungskraft und ihren Gedankentricks zu feilen.

Das Leben nahm wieder seinen normalen Gang – oder was immer man in der Festung der Inquisition auf Coruscant als normal bezeichnen konnte. Iskat trainierte weiter, während sie ungeduldig auf ihre erste Mission wartete. Sie kämpfte mit jedem, den sie gerade in der Grube vorfand; die Neunte Schwester erwies sich als bereitwillige Trainingspartnerin, wohingegen der Achte Bruder offensichtlich nur nach einem Vorwand suchte, um zu töten, und der Fünfte Bruder … nun, Iskat wusste, dass sie ihm niemals den Rücken zudrehen durfte. Der Zehnte Bruder wahrte stets Distanz zu ihr; Iskat erkannte ihn aus ihrer Zeit als Padawan wieder, und er schien ebenso wenig gegen sie kämpfen zu wollen wie sie gegen ihn. Die Zweite Schwester sah in den anderen Inquisitoren nur potenzielle Beute, während die Vierte Schwester ständig in Gedanken vertieft zu sein schien. Die Siebte Schwester indes liebte es, schmutzige Tricks anzuwenden, weswegen Iskat schon bald begann, einen Bogen um sie zu machen. Es war wirklich eine Schande: Da waren sie alle vom Einfluss der Jedi befreit worden, aber anstatt ihre Vergangenheit mit anderen aufzuarbeiten, die ebenfalls als Kinder vom Orden einer Gehirnwäsche unterzogen worden waren, blieb ihnen in ihrer gegenwärtigen Situation nichts anderes übrig, als einander zu bekämpfen.

Eines Tages, als Iskat gerade auf dem Weg zur Grube war, um nach einer neuen Herausforderung zu suchen, spürte sie, dass ihr jemand auf dem Korridor entgegenkam. Die Präsenz war seltsam vertraut, ließ sich aber nicht einordnen. Automatisch senkte sie die Hand zu ihrem neuen Lichtschwert, das sie nun in beiden Formen so mühelos einsetzen konnte, als wäre es eine Erweiterung ihres Körpers. So war das Leben in der Inquisition nun einmal: Man musste ständig auf einen Kampf gefasst sein – oder zumindest auf einen giftgetränkten Dolch.

Iskat wartete, bis die Gestalt schließlich um die Ecke kam  ... und ein eisiger Schauer rann über ihren Nacken.

»Tualon?«