In den darauffolgenden Tagen versuchte Iskat, ihr Leben so zu führen, als wäre alles wie immer, obwohl sich in Wahrheit alles verändert hatte. Es gab keine Sember mehr, die mit einer Liste von Kontaktpersonen und Artefakten, die in der ganzen Galaxie verstreut waren, an ihrer Zimmertür auf sie wartete, kein rituelles Packen des T-6, während ihre unnahbare Meisterin sich auf der Jagd nach irgendeiner verstaubten Schrift verlor. Sie aß allein, meditierte beim Teich, las so lange darüber, wie man mit den einheimischen Tieren verschiedener Welten kommunizierte und auf ihnen ritt, bis die Worte irgendwann miteinander verschmolzen, und streifte ziellos durch Flure und Gärten, die stärker widerzuhallen schienen als früher. Und die ganze Zeit über war sie sich der vielen Jedi bewusst, die fehlten, darüber, wie leer der Tempel wirkte.
Tan, Lumas, Galdos … seit der Schlacht hatte sie keinen von ihnen mehr gesehen. Sie hatte gehört, dass der jüngste gefallene Padawan erst vierzehn gewesen war.
Es war eine Sache, zu wissen, dass etwas Schlimmes geschehen war, sogar, wenn man selbst dabei gewesen und alles am eigenen Leib miterlebt hatte. Doch es war etwas völlig anderes, damit klarzukommen, wie viele Leute plötzlich im alltäglichen Leben fehlten.
Nicht lange nach ihrer Rückkehr von Geonosis fand eine Beisetzung statt. Als sie die Glocke läuten hörte, strich sich Iskat die Haare aus dem Gesicht, zog ihr formellstes Gewand an und nahm ihren Platz in der Ritualkammer ein. Es war eine Erleichterung, zu wissen, dass die meisten der gefallenen Jedi von Geonosis geborgen worden waren und ihnen die Ehre zuteilwerden würde, die sie verdienten. Sie blieb allein für sich, abseits der anderen, und als sie auf die sechs mit Tüchern abgedeckten Tragbahren hinabblickte, die sich in der Mitte der Kammer auf dem Boden reihten, wurde sie sich unversehens der Macht des Todes bewusst. Im Tod wurden alle gleich, so verschieden sie im Leben auch gewesen sein mochten. Sember war hier irgendwo, ihr Körper nicht von denen der anderen Krieger zu unterscheiden, bloß ein weiterer Klumpen unter einem bestickten Tuch. Iskat schloss die Augen und suchte in der Macht nach Sembers Geist, doch wie all die vielen Male zuvor war da nichts als Leere.
Arme Sember. Alles, was sie jemals gewollt hatte, war, ihre geliebten Artefakte zu bergen und sie in den Tempel zu bringen, nach Hause, wo sie dazu beitragen würden, ihr Wissen um die Macht zu vergrößern. Sie hatte ihr Lichtschwert bei sich getragen wie jeder andere Jedi auch, aber sie hatte es nur selten benutzt. Wäre sie beim Rückzug aus der Arena doch nur nicht stehen geblieben, um Iskat zur Eile zu ermahnen. Hätte Iskat doch nur ihre Anweisungen befolgt.
Sie hätte Sember tragen können. Sie war stark genug, schnell genug.
Aber Meister Klefan hatte sie daran gehindert.
Er hatte kein Vertrauen in sie.
Er hätte Sember, einst seine eigene Padawan-Schülerin, unter der unbarmherzigen Sonne von Geonosis verrotten lassen.
Iskat ballte die Hände an ihren Seiten zu Fäusten, und es kostete sie große Mühe, ihre Mitte zu finden und sich wieder auf die Zeremonie zu konzentrieren. Mace Windu sprach; seine Stimme erfüllte die Kammer, aber seine feierlichen Worte waren so bedeutungslos wie ein Flüstern im Wind. Die Leichen glitten eine Ebene tiefer, und Iskat wurde klar, dass diese Zeremonie nur symbolisch war, dass die Bahren, die sie mit gewichtiger Andächtigkeit im Boden verschwinden sah, bloß einen kleinen Teil der gefallenen Jedi repräsentierten. Das Ganze war eine Farce, ein Possenspiel. Sie kannten nicht einmal die Namen der sechs, die gerade in die Tiefe hinuntergelassen worden waren. Über zweihundert Jedi waren gestorben.
Die Beisetzung schenkte ihr keinen Trost. Das vermeintlich feierliche Ritual war so aufgesetzt, so gekünstelt, dass sie sich nur noch einsamer fühlte. Als sie die Kammer verließ, hatte sie das Gefühl, in Zeitlupe zu gehen. Sie war wie betäubt.
Die Tage vergingen, und sie wartete, doch ihr wurde kein neuer Meister zugewiesen. Niemand ließ nach ihr rufen. Man hatte sie vergessen.
Ohne einen Mentor, der ihre Ausbildung vorantrieb und dafür sorgte, dass sie beschäftigt war, drehten sich Iskats Gedanken bald vornehmlich um die Geheimnisse von Sembers letzten Worten und ihr verstecktes Lichtschwert. Sie begann ihre Nachforschungen in den Jedi-Archiven, um nach dem Namen »Feyra« zu suchen.
Doch obwohl sie tatsächlich Unterlagen über diese Feyra fand, waren sie seltsam unvollständig. Weder das Alter noch die Spezies oder ein Clan waren angegeben, keinerlei Einzelheiten. Dort stand lediglich: »Hat den Jedi-Orden verlassen«.
Irgendwann tippte Iskat ihren eigenen Namen ein, etwas, das sie noch nie zuvor getan hatte. Und wurde erneut enttäuscht.
Spezies: unbekannt.
Heimatplanet: unbekannt.
Genau wie bei Feyra.
Iskat wusste, dass Sember stets bewundernd zu Chefbibliothekarin Jocasta Nu aufgeschaut hatte, daher streifte sie zwischen den Regalen umher, bis sie die zierliche, grauhaarige Jedi-Meisterin schließlich entdeckte, die gerade einem Jüngling dabei half, an ein Holotape zu gelangen, das zu weit oben lag, als dass er allein herangekommen wäre.
»Meisterin Jocasta«, sagte Iskat, nachdem der Jüngling an seinen Tisch zurückgekehrt war. »Ihr kanntet meine Meisterin Sember Vey, nicht wahr?«
Jocasta hielt inne, das Holotape in der Hand, und für einen flüchtigen Moment lag Kummer in ihren Augen. »Oh, ja. Sember hat die Archive geliebt. Nicht zuletzt dank ihres Engagements stehen viele seltene, nützliche Bände in unseren Regalen. Teilst du ihre Liebe für das Wissen?«
Iskat verzog keine Miene. Eigentlich hatte sie sich im Gegensatz zu Sember nie für diese Aufgabe berufen gefühlt, aber das brauchte niemand zu wissen. »Ich hoffe stets, dem Jedi-Orden so gut zu dienen, wie es mir irgend möglich ist.«
»Nun, ich hoffe, sie hat dich in ihren Methoden unterwiesen. Sember war ein großes Geschenk für den Orden.« Jocasta ließ ihren Blick wehmütig über den schier endlosen Wissensschatz schweifen, der hier ruhte, und lächelte bedächtig. »Aber sie ist jetzt eins mit der Macht.« Sie sah Iskat an. »Hast du vielleicht eine Frage?«
Da war es wieder: eine Jedi, die den wahren Schmerz in ihrem Herzen ignorierte, um zu proklamieren, der Tod sei doch gar nicht so schlimm. Iskat zwang sich, die Flamme der Verärgerung, die in ihr aufloderte, zu ersticken. Sie brauchte Antworten.
»Sember hat etwas gesagt, bevor sie …« Iskats Stimme brach. »Als sie im Sterben lag. Einen Namen. Sie rief nach jemandem namens Feyra. Ich habe in den Archiven nach ihr gesucht, aber ihre Akte scheint unvollständig zu sein.«
Damit hatte sie Jocastas Interesse geweckt. Das Holotape immer noch in der Hand, marschierte sie zur Datenbank hinüber und sagte: »Zeig es mir.«
Iskat führte die gleiche Suchanfrage durch wie zuvor und erhielt die gleiche Antwort. Jocasta bedeutete ihr mit einem Winken, ihr die Tastatur zu überlassen, und tippte mehrere Befehle ein, bevor sie verwirrt zurücktrat.
»Sonderbar«, murmelte sie. »Offenbar hat jemand vorsätzlich Informationen aus diesen Datensätzen gelöscht, und ich kann sie nicht wiederherstellen.«
»Hatte Sember die dafür nötige Systemfreigabe?«
Jocasta schaute sie durchdringend an. »Ja, vor langer Zeit hatte sie die tatsächlich. Sie hat hier gearbeitet, als sie jünger war. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum sie Änderungen in einer Datei vornehmen sollte.«
»Diese Frau … Feyra. Sembers letzte Worte waren eine Entschuldigung an sie. Sie war sehr emotional. Es schien ihr ausgesprochen wichtig zu sein.«
Jocasta blickte zur Decke empor, und ein gedankenverlorener Ausdruck trat auf ihre Züge, so als würde sie in der Zeit zurückreisen. »Sofern ich mich recht entsinne, war Feyra eine Freundin von ihr. Aber dann verschwand sie. In den Unterlagen steht, dass sie den Orden verlassen hat. Mehr kann ich dir darüber allerdings nicht sagen. Kann ich dir sonst noch irgendwie weiterhelfen?«
Wenn diese Informationen so unwiederbringlich verloren waren, dass nicht einmal Jocasta Nu sie finden konnte, steckte Iskat in einer Sackgasse.
»Fällt Euch sonst noch irgendetwas zu Feyra ein? Wie sie aussah, vielleicht?«
Und da war er – der Blick, den Jocasta jenen Jünglingen zuwarf, die ihre Geduld auf die Probe stellten, ihr zu lange die Zeit raubten oder Dreck in die Archive getragen hatten.
»Hätte Sember gewollt, dass du darüber Bescheid weißt, dann hätte sie dir gesagt, was du wissen musst. Deine Meisterin hatte ihre Gründe, dessen bin ich mir gewiss.«
»Mir scheint, als kanntet Ihr sie besser als ich«, sagte Iskat. »Eine letzte Frage: Wisst Ihr, ob sie je mit zwei Lichtschwertern gekämpft hat?«
Jocasta neigte den Kopf zur Seite. »Sember Vey? Oh nein. Es fiel ihr schon schwer genug, eins bei sich tragen zu müssen. Natürlich war sie geschickt im Umgang mit dem Lichtschwert. Sie war immer eine aufmerksame, talentierte Schülerin. Aber wie du weißt, zog sie das Studium dem Kampf vor. Du könntest mit Meister Pong Krell über den Umgang mit mehreren Schwertern reden und ihn bitten, dir jemanden zu empfehlen, der mit dir arbeitet, falls du daran interessiert bist, es zu lernen.«
»Sember hat also nie mit zwei Lichtschwertern trainiert?«
In Jocastas Augen leuchtete wieder dieselbe alte Zuneigung wie zuvor. »Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Anfangs wollte sie ja nicht einmal auf Missionen gehen. Sie liebte die Archive, weißt du? Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie hier gelebt und unter einem der Tische geschlafen.«
Das war Iskat neu. Natürlich wusste sie um die Begeisterung ihrer Meisterin für alte Texte und Schriften, aber bloß im Zusammenhang mit ihren Aufgaben. Sember hatte die Bibliothek nie erwähnt, es sei denn, sie hatte Iskat zum Lernen dorthin geschickt. »Warum hat sie es dann nicht getan? Hier gearbeitet, meine ich.«
Jocasta legte Iskat eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. Diese vermeintlich mitfühlende Geste ging Iskat allmählich gehörig auf die Nerven.
»Wenn die Macht einen Meister und einen Padawan zusammenführt«, sagte Jocasta zu ihr, »ist dieses Band wichtiger als irgendwelche persönlichen Vorlieben. Sie wurde dazu berufen, dich auszubilden. Gut möglich, dass sie hier im Tempel geblieben wäre und irgendwann meinen Platz eingenommen hätte, sobald du deine Prüfungen bestanden hättest.«
Iskat dankte Jocasta für ihre Hilfe und meinte, sie würde mit Meister Krell über das Lichtschwerttraining sprechen, obwohl sie nicht vorhatte, das wirklich zu tun. Denn wenn sie jemandem das Lichtschwert zeigte, das sie in Sembers Schrank gefunden hatte, bestand die Gefahr, dass man es ihr wegnahm, und dann würde sie niemals die Wahrheit erfahren. Nein, sie musste die Antworten, nach denen sie suchte, auf anderem Wege finden. Antworten bezüglich des Lichtschwerts, das Sember offensichtlich nicht selbst verwendet hatte, und über diese mysteriöse Feyra. Iskat hatte nicht die geringste Ahnung, wer sie war, aber zumindest wusste sie jetzt, dass Feyra einst eine Jedi gewesen war.
In dieser Nacht legte Iskat das Lichtschwert vor dem Schlafengehen unter ihr Kopfkissen.
Dies war ihr erstes eigenes Geheimnis.