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Sabvabaa
bedeutet in der Inuktitut-Sprache sanft fließen
.
Als Anna auf dem Sitz neben Zakariassen saß, hatte sie jedoch eher das Gefühl, dass »langsam holpern« die Fortbewegungsart des Luftkissenbootes treffender umschrieb.
Der Wind hatte aufgefrischt, und Zakariassen fuhr weit unter fünfundzwanzig Knoten, um nicht die Kontrolle über das Boot zu verlieren.
Die Sabvabaa
schwebte auf einem Luftkissen über das Eis, das von starken Gummischürzen an seinem Platz unter dem Rumpf gehalten wurde. Kleinere Hindernisse bereiteten ihr keinerlei Schwierigkeiten, mühelos flog sie über Eisbrocken und klaffende Risse hinweg, doch bei Seitenwind erwies sich die fehlende Bodenhaftung als Problem. Zakariassen musste ständig den Kurs mit dem Steuer korrigieren, das den großen Propeller kontrollierte. Die Sabvabaa
schwankte heftig, und jedes Mal wenn der Professor ruckartig Gas gab oder die Geschwindigkeit abrupt drosselte, machte Annas Magen einen Satz.
Sie atmete tief ein und versuchte, geradeaus zu blicken.
Die Schneeflocken wirbelten im Scheinwerferlicht umher wie weiße Falter in einer lauen Sommernacht. Ein
Bild, das nicht weiter von der Realität hätte entfernt sein können.
Annas Finger waren immer noch eiskalt, und eine Anzeige auf dem Armaturenbrett sagte ihr, dass die Außentemperatur auf fast minus dreißig Grad gesunken war, seit sie die Leuchtrakete gesehen hatte. Sie spürte, wie ihr Sitz schaukelte, hörte das Klirren von Gegenständen, die in der Kabine aneinanderstießen, roch den schwachen Geruch von Diesel. Der Nordpol fegte immer größere Schneemengen gegen die Frontscheibe. Anna versuchte sich zu konzentrieren, indem sie sich vorstellte, was auf der chinesischen Forschungsstation geschehen war, was sie dort bei ihrer Ankunft vorfinden würden, doch das eintönige Brummen des Motors ließ ihre Gedanken abschweifen.
Zu Yanns Foto, das auf dem Eis zurückgeblieben war.
Anna erinnerte sich genau, wann und wo es aufgenommen worden war.
Im syrischen Flüchtlingslager Ain Issa, vor zwei Jahren, sechs Monaten und zweiundzwanzig Tagen.
Yann hatte sie dorthin eingeladen, um den Jungen zu besuchen, der sie zusammengeführt hatte. Als Anna sich über sein Kinderbett beugte, hatte der kleine Sadi gelacht und fröhlich gegurgelt, dem Anschein nach völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass ihm ein Fuß fehlte – die brutale Erinnerung, dass der Bürgerkrieg keine Rücksicht darauf nahm, ob seine Opfer Soldaten oder Kinder waren.
»Sadi wird problemlos laufen lernen. Kinder gewöhnen
sich sehr viel schneller an Prothesen als wir Erwachsene«, sagte Yann, als sie anschließend in einem klimatisierten Zelt gemeinsam zu Mittag aßen. Die Mahlzeit, von der Yann später immer behauptete, sie sei ihr erstes Date gewesen. Anna hatte jedes Mal lautstark protestiert.
»Ich weiß, dass ich nicht der romantischste Mensch der Welt bin, aber zwei Stunden durch eine sengend heiße Wüste zu einem trostlosen Flüchtlingslager zu fahren, um etwas von Papptellern zu essen, das du als Mittagessen bezeichnet hast, während deine Kollegen sich auf Französisch gestritten und ihre Ellenbogen in meinem Essen platziert haben, ist kein Date – selbst in Norwegen nicht, nicht mal in Tromsø.«
Yann hatte immer gelächelt und sie geküsst. »Du weißt gar nicht, wie romantisch du bist, Anna. Du kannst von Glück sagen, dass du mich getroffen hast, denn sonst wärst du nie aufgetaut, meine wunderbare skandinavische Eisfrau.«
Jetzt war Yann tot und sie wieder die Eisfrau, im wahrsten Sinne des Wortes. Anna wusste, dass sie nie wieder jemandem begegnen würde, der an den selbstbewussten, romantischen Franzosen aus den provenzalischen Bergen heranreichte. Diese Gewissheit war in dem Augenblick in jede Faser ihres Körpers eingedrungen, als sie in dem Krankenhaus in Deutschland aus dem Koma erwachte. Ganz gleich, was ihr Vater sagte, womit ihre Kollegen sie trösten wollten, was eine Reihe von Psychologen versucht hatten, damit sie nach vorn blickte, sie sah keinen Sinn mehr im Leben. Nur der Gedanke, ihr Vater könne
derjenige sein, der sie tot auffand, hatte sie bisher noch am Leben gehalten. Anna hatte eingewilligt, an den Nordpol zu fahren, nicht aber, auch wieder zurückzukehren.
»Sind wir auf dem richtigen Kurs?«
Eine seitliche Windböe brachte die Sabvabaa
ins Schlingern und riss Anna aus ihren Gedanken. In letzter Sekunde gelang es ihr, den Laptop auf ihrem Schoß festzuhalten. Die Uhr auf dem Bildschirm zeigte an, dass sie seit fast zwei Stunden unterwegs waren. Auf dem Satellitenbild, das sie aufgerufen hatte, blinkten drei Punkte. Der rote markierte den Standort der chinesischen Forschungsstation, der blaue die Position der Sabvabaa
. Der grüne war das Signal des GPS-Senders an ihrer zurückgelassenen Ausrüstung. Die Sabvabaa
befand sich ungefähr in der Mitte zwischen dem roten und dem grünen Punkt. Die Eisfläche auf dem Satellitenbild war von schwarzen Blutadern durchzogen – vor ihnen liegende Spalten.
»Ja, wir sollten die Basis bald sehen.«
Zakariassen gab Gas.
Das Boot schoss vorwärts. Im Küchenschrank klirrte es. Schneematsch spritzte auf und verklebte die Frontscheibe, als sie über eine breite Rinne fuhren.
»Verflucht!«
Wie aus dem Nichts tauchte eine Eiswand vor ihnen auf. Zakariassen riss das Steuer herum. Das Luftkissenboot krängte, die Eiswand kam immer näher. Weiße Flocken. Schwarze Schatten. Scharfe Konturen.
Auf dem Armaturenbrett blinkten rote Lämpchen, das Kollisionswarnsystem heulte hysterisch, als Zakariassen
den Gashebel noch weiter nach vorn drückte und so in letzter Sekunde einen Zusammenstoß verhinderte.
»Herrgott, Anna, du musst dein Gewicht verlagern!«, schrie er wütend.
Annas Herz schlug bis zum Hals, und ihr Puls rauschte in den Ohren, als sie die scharfen Spitzen sah, die aus der Eiswand ragten wie die Stacheln eines riesigen Igels. Ihr Blick wanderte über das Armaturenbrett. Irgendetwas stimmte nicht.
»Es würde helfen, wenn du das Radar einschaltest«, stellte sie fest und drückte den Knopf, den Zakariassen in der Hektik des Aufbruchs vergessen hatte.
Zakariassen murmelte etwas Unverständliches und beugte sich vor, um besser sehen zu können. Die Sabvabaa
glitt jetzt sanft vorwärts. Die hohe Eiswand bot ihnen Schutz vor dem Wind.
Anna schluckte die aufsteigende Übelkeit hinunter. Auf dem Satellitenbild befanden sich der blaue und der rote Punkt inzwischen auf gleicher Höhe.
»Wir sollten da sein«, sagte sie und versuchte, einen Blick durch den Schnee zu werfen, der sich mittlerweile so schnell auf die Frontscheibe legte, dass die Scheibenwischer nicht mehr hinterherkamen. Im grellen Scheinwerferlicht der Sabvabaa
warf die Wand lange Schatten in die eisige Ödnis. Nach einer Weile sah Anna in der Dunkelheit etwas blinken.
»Halt an!«, rief sie. Zakariassen zog den Gashebel zurück. Das Luftkissenboot kam ruckartig zum Stillstand. Der Professor kniff die Augen zusammen. »Ich kann nichts erkennen.
«
Anna schaltete die Scheinwerfer aus. Diesen Trick hatte ihr Vater ihr beigebracht, als sie ihr erstes Auto bekam, einen Volvo, den er repariert und neu lackiert hatte. »Mach vor jeder Kurve kurz das Licht aus, dann erkennst du, ob dir ein Auto entgegenkommt«, hatte er gesagt und ihr dann besorgt hinterhergewinkt, weil sie bei tiefster Finsternis und auf regennassen Straßen zu einem Konzert in Tromsdalen gefahren war.
Nachdem ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie die glitzernden Lichter auf der anderen Seite der Eiswand. Das musste die chinesische Forschungsstation sein.
Zakariassen entdeckte die Lichter im selben Moment wie sie, gab wieder Gas, und nach kurzer Zeit überlagerten sich der rote und der blaue Punkt auf ihrem Bildschirm.
Doch dann erklang ein Alarmsignal.
Auf dem Armaturenbrett blinkte die Antikollisionswarnleuchte.
Direkt vor ihnen tauchte der Schlund eines riesigen Ungeheuers auf. Zakariassen riss das Steuer abrupt nach links, und das Luftkissenboot entkam im letzten Moment den Fängen des Monsters. In dem grellen Licht entpuppten sich die scharfen Zähne als im Schnee liegende Ölfässer.
Hinter den Fässern stand eine blau gestrichene Baracke.
Zakariassen manövrierte die Sabvabaa
an dem Gebäude vorbei und änderte per Schubumkehr die Drehrichtung des Propellers, sodass sie mitten im Flutlicht
zum Stehen kamen. Anna merkte erst, dass sie die Luft anhielt, als schwarze Flecken am äußeren Rand ihres Blickfelds zu tanzen begannen.
Das gleißende Scheinwerferlicht der Basis schmerzte in ihren Augen. Nach der langen Fahrt durch die dunkle Polarnacht hatte sie das Gefühl, in einem erleuchteten Himmel gelandet zu sein.
Doch wie sich herausstellen sollte, begleicht auch der Teufel seine Stromrechnung.