12
Der Schnee deckte ihren Mageninhalt zu. Sie hatte sich gerade noch aus dem Wind drehen und ihre Maske vom Gesicht zerren können, bevor sie sich übergab. Der Schleim um ihren Mund fror so schnell fest, dass sie ihn abkratzen musste. Die eisige Kälte biss ihr in die Haut. Anna blieb vornübergebeugt stehen und atmete rhythmisch ein und aus, bis sie sicher war, dass nichts mehr kam. Dann streifte sie die Gesichtsmaske wieder über und drehte sich um. Zakariassen starrte sie ängstlich an. Er blinzelte heftig und presste sein Gewehr an die Brust.
»Ist alles in Ordnung?«
»Jaja.«
»Was ist passiert? … Du warst plötzlich wie weggetreten.«
Anna sah zur Halle mit den Eismenschen und ließ ihren Blick an dem grellen Lichtkegel vorbei zu dem auf dem Turm im Wind flatternden Drachen emporwandern. Die Scheinwerfer blendeten sie.
Anna drehte sich aus dem gleißenden Licht und merkte, dass sie in einem weißen Raum lag. Unter einem weißen Laken. Weiß gekleidete Gestalten standen um sie herum. Sie versuchte etwas zu sagen, doch irgendetwas in ihrem
Mund erstickte die Worte. Eine der weißen Gestalten kam auf sie zu. Ein Mann. Seine Haare waren unter einer weißen Kopfbedeckung verborgen, rotes Blut lief über seine Stirn. Der Mann nahm seinen weißen Mundschutz ab. Es war Yann.
»Wie geht es dir, Anna?«
Sie versuchte zu antworten, doch der Gegenstand in ihrem Rachen hinderte sie daran. Sie hob die Hand an den Mund, umfasste den Schlauch, durch den Luft in ihre Lunge gepumpt wurde, und zog ihn heraus. Jetzt konnte sie endlich sprechen.
»Wie kannst du am Leben sein? Ich habe dich doch getötet.«
»Es ist zu früh für dich, Anna. Du hast noch ein paar Dinge auf dieser Welt zu erledigen.« Yann küsste sie auf die Stirn. Seine Lippen fühlten sich kalt an. Dann nahm er die weiße Kopfbedeckung ab. Schwarzes Blut floss aus einem Loch in seiner Stirn.
Anna blinzelte. Sie zwang sich, die Augen von dem gleißenden Licht abzuwenden und Zakariassen anzusehen. »Ich … ich hab nur einen Moment die Fassung verloren … Mir geht’s gut, ganz sicher.«
Ihr Herz pochte wild. Zakariassen blickte auf den toten Mann, dessen Gesicht schon wieder von einer dünnen Schneeschicht bedeckt war. Das Einschussloch hatte sich gräulich verfärbt.
»Ist er ermordet worden?«
Anna blickte sich um. Hinter den Fenstern der roten Hütten war nach wie vor keine Bewegung zu sehen. Sie
spuckte in den Schnee, um den Geschmack des Erbrochenen loszuwerden, und atmete tief ein.
»Hör zu, Daniel … du darfst nicht in Panik geraten …«
»Was?«
Falsch. Die Worte waren an sie gerichtet. Ruhig atmen. Ein Schritt nach dem anderen. Anna deutete auf Zakariassens altes Mausergewehr.
»Du musst mir Deckung geben.«
Der Professor streckte die Flinte so abrupt vom Körper weg, als hätte sie sich plötzlich in eine Giftschlange verwandelt. Anna packte ihn am Arm und drehte ihn, bis er freie Sicht auf die roten Hütten hatte.
»Wenn du etwas siehst, schießt du. Ruf nicht erst, schieß sofort!«, brüllte sie gegen den Wind an. »Ich muss den Mann untersuchen.«
Ihre tauben Finger tasteten den leblosen Körper und den umliegenden Schnee ab, während sie versuchte, nicht auf den Kopf des Mannes zu sehen. Sie entdeckte keine Waffe.
Anna ging zur nächsten Wehe und schob ein wenig Schnee zur Seite. Ein weiterer Mann kam zum Vorschein. Der Tote lag mit dem Gesicht nach unten. Ein kleines Loch in seiner Daunenjacke verriet, dass ihm in den Rücken geschossen worden war.
Bevor sie an die letzte Schneewehe trat, sah sie zu Zakariassen hinüber. Der alte Mann stemmte sich mit vorgehaltenem Gewehr gegen den Wind. Falls sich in einer der Hütten eine bewaffnete Person versteckte, bot er ein leichtes Ziel. Doch dagegen konnte sie gerade nichts tun
.
Das dritte Opfer lag auf dem Rücken und starrte blicklos in den Himmel. Die Augen des Chinesen wirkten seltsam gläsern in dem blassen Gesicht. Anna streifte einen Handschuh ab und legte einen Finger an den nackten Hals des Mannes. Sie spürte keinen Puls, und als sie ihren Finger wegzog, blieb er einen kurzen Moment an der Haut haften.
Der Mann war tot, daran bestand kein Zweifel.
Seine Daunenjacke war an der Stelle, an der ihn die Kugel mitten in die Brust getroffen hatte, zerfetzt. Die Arme hatte er zur Seite gestreckt wie ein Schneeengel.
Außer der Jacke trug er nur eine dünne Jogginghose, seine Füße steckten in Fellpantoffeln. Er war unbewaffnet. Anna hatte gehofft, einer der drei Männer würde sich als Mörder entpuppen. Dass sich ein geistesgestörter Mensch am Ende eines Massakers selbst hinrichtete, war nicht ungewöhnlich. Doch nichts an der Art, wie die Chinesen ums Leben gekommen waren, deutete auf Selbstmord hin. Und auch die Tatwaffe fehlte. Die Indizien ließen nur eine mögliche Schlussfolgerung zu. Das Forschungsteam der Eisdrachen-Basis war ermordet worden – und der Mörder lief immer noch frei herum.
Anna drehte sich um. Ihr langer Schatten reichte bis zur nächsten roten Baracke. Obwohl hinter keinem der Fenster eine Gefahr zu erkennen war, zitterte sie am ganzen Körper. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie lief durch den Schnee zu Zakariassen.
»Die Männer sind tot. Jemand hat sie umgebracht, Daniel!«, schrie sie ihm ins Gesicht, um den Wind zu
übertönen. »Wir müssen auf der Stelle von hier weg!« Anna griff nach seiner Hand und führte den Professor wie ein Kind durch das Schneegestöber zurück zur Sabvabaa
.