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»Jackie ist weg! Bring Marco nach draußen, bleibt im Schutz der Wand und wartet auf mich.« Anna schob die beiden Männer aus der Hütte und schloss die Tür. Dann zog sie ihr Messer aus der Tasche, wich in eine Zimmerecke zurück und sank auf den Boden. Sie blickte sich aufmerksam um und versuchte zu erkennen, ob sich irgendein Detail im Raum verändert hatte, seit sie ihn vor knapp einer Stunde verlassen hatte. Kurz verweilten ihre Augen auf den Stoffschränken, die von der Decke hingen, doch hinter ihnen war nicht genug Platz, um sich zu verstecken. Anna sah unter sämtliche Kojen. Auch dort war niemand.
Der Infusionsschlauch lag auf der blutgetränkten Matratze von Jackies Bett. Das Klebeband hing noch am Gestell. Das Blut musste es so rutschig gemacht haben, dass es ihm gelungen war, sich loszureißen.
»Wir tun Ihnen nichts, Jackie. Sie müssen sich nicht vor uns verstecken. Wir sind Ihre Freunde!«, rief Anna.
Sie wartete noch einen Moment, dann stand sie auf. Langsam ging sie an der Koje vorbei, in der der tote, mit einem Schlafsack zugedeckte Chinese lag, und trat an Jackies Schrank. Die Daunenjacke und die Thermohose waren von dem Kleiderhaufen auf dem Boden
verschwunden. Jackie hatte die Hütte verlassen, aber weit konnte er nicht gekommen sein. Nicht in diesem Schneesturm. Nicht mit dieser Verletzung.
Anna ging zur Tür und drückte sie auf. Marco und Zakariassen kauerten nebeneinander an der Wand. Sie waren mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Als sie sich auf Anna zubewegten, rieselten Eiskristalle an ihnen herab. Marco starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Hütte.
»Komm rein, Daniel, hier ist niemand«, sagte Anna.
Der Professor stieß Marco das Mausergewehr in den Rücken.
»Sprich nicht mit ihm, sorg nur dafür, dass er die Hütte nicht verlässt. Ich suche Jackie. Mach das Licht aus und verbarrikadier die Tür«, wies sie Zakariassen an, nachdem die beiden Männer den Raum betreten hatten. »Ich klopfe dreimal, wenn ich wieder in die Hütte möchte. Hast du verstanden, Daniel? Wenn es dreimal klopft, bin ich es. Wenn du etwas anderes hörst, schießt du!« Zakariassen nickte und hob das Gewehr vor die Brust.
»Sei um Himmels willen vorsichtig, Anna.«
»Verbarrikadier die Tür und warte, bis ich klopfe.«
Mit gesenktem Kopf entfernte Anna sich von der Hütte. Schon bald entdeckte sie teilweise zugeschneite Fußspuren, die nicht von ihr oder Zakariassen stammten und von der Unterkunft weg über den Platz führten. Sie folgte Jackies Fährte an den vier Baracken auf der Nordseite entlang. Die Spuren endeten vor der Tür der vorletzten Hütte. Dem Generatorraum
.
Anna brauchte beide Hände, um die Tür gegen den Sturm aufzuziehen. Der Boden klang hohl unter ihren Füßen.
»Jackie!« Die metallenen Generatoren warfen das Echo ihrer Stimme zurück. »Ich verstehe, dass Sie Angst haben, aber ich tue Ihnen nichts.« Anna blieb mit dem Rücken zur Tür stehen. Im Fluchtweg, falls es die Situation erforderte. Aber als Antwort erhielt sie nur das gleichmäßige Brummen der Generatoren. Vor ihr glitzerte etwas. Auf dem Boden hatten sich Wasserpfützen gebildet, in denen sich das Deckenlicht spiegelte. Jackie musste gerade erst hier gewesen sein.
»Jackie! Ich komme jetzt rein, und ich bin bewaffnet. Wenn Sie nicht verletzt werden wollen, müssen Sie sich ergeben!« Anna blieb noch einen Moment reglos stehen und zählte die Sekunden. Als sie bei hundertzwanzig angekommen war, hob sie das Messer und machte einen Schritt nach vorn. Ein leises Knarren erklang. Der PVC-Boden des Generatorraums war mit einem Metallgitter verstärkt. Anna hatte das Gefühl, über ein Spinnennetz zu laufen. Langsam ging sie auf die drei Generatoren zu. Hinter einem davon setzten sich die Wasserpfützen fort. Anna spürte, wie das Blut in ihren Ohren rauschte. Sie blieb vor dem Generator stehen und horchte, doch nur das elektrische Summen unterbrach die Stille.
Sie fasste sich ein Herz und umrundete den Generator. Auf der Rückseite befand sich eine Hintertür.
Jackie hatte die Hütte durchquert und sie durch die Hintertür wieder verlassen. Natürlich kannte er die Tür, das war ein Ablenkungsmanöver. Anna drückte die
Klinke nach unten und schob die Tür auf. Die Fußspuren führten an der letzten Hütte vorbei und verschwanden in der Dunkelheit.
In Richtung Sabvabaa
.
»Scheiße!« Anna begann zu rennen. Windböen peitschten in ihren Rücken, und sie musste kämpfen, um nicht ins Straucheln zu geraten. Hinter der letzten Hütte änderten Jackies Fußspuren abrupt die Richtung und führten zurück auf den Platz.
»Jackie!«, brüllte Anna, bevor in dem wirbelnden Schnee plötzlich rote Lichter aufflammten.
Der Wind trug ein Geräusch zu ihr herüber.
Ein startender Motor.