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Marco weigerte sich zunächst, die Mappe, die Anna ihm hinhielt, in die Hand zu nehmen.
»Das sind die privaten Unterlagen des Kommandanten«, sagte er nervös, »die sind vertraulich.«
»Ich habe nicht vor, Chinas Staatsgeheimnisse auszuspionieren, ich möchte lediglich wissen, wer hier wer ist«, erwiderte Anna ungehalten und drückte Marco die Mannschaftsliste in die Hände, die sie in der Nachttischschublade des Kommandanten gefunden hatte.
Marco blätterte die Mappe durch, sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Besorgnis und Neugier. Zu jedem Besatzungsmitglied existierte ein eigenes Formblatt mit einem Foto und einem maschinell geschriebenen Text. Auf den Rückseiten hatte der Kommandant handschriftliche Notizen hinzugefügt.
Marco zeigte auf sein Bild auf einer Seite in der Mitte der Mappe. »Zheng He, Marco … das bin ich.« Anna kramte ein weit zurückliegendes Geheimdienstmeeting aus einer verstaubten Ecke ihres Gehirns hervor und erinnerte sich, dass chinesische Nachnamen immer zuerst genannt wurden. Und viele Chinesen nahmen als Erwachsene einen westlichen Rufnamen an, der »Ausländern« ge
läufig war. Marco und Jackie hatten dieser Tradition beide entsprochen.
Zheng He alias Marco wendete das Blatt und las interessiert die Notizen seines verstorbenen Vorgesetzten.
»Der Kommandant war ziemlich … zufrieden mit mir.« Marco hielt Anna das Blatt mit einem dümmlichen Grinsen hin, als bewiese es, dass er ein Mensch war, dem man vertrauen konnte.
»Das ist gut«, sagte sie. »Denn wir beide müssen eine ziemlich schwierige Aufgabe erledigen. Und ich hoffe sehr, dass auch ich mit dir zufrieden sein werde.«
Bevor Anna in die Kantine zurückgekehrt war, hatte sie Marcos Schrank nach einem Hinweis durchsucht, der ihr sagte, ob er der Mörder war. Marco war ein leidenschaftlicher Fußballfan, das hatte sie auf den ersten Blick feststellen können. Fußballzeitschriften bildeten seinen bevorzugten Lesestoff. Am Schrank hingen ein roter Fanschal und ein roter Wimpel mit der Silhouette eines Adlerkopfes. Unter chinesischen Schriftzeichen stand SIPG FC.
Auf dem Boden des Schranks lagen zwei Bücher, auf denen sich mehrere Oraltabakdosen stapelten. Diese skandinavische Unsitte schien bis nach China vorgedrungen zu sein. Bei dem einen Buch handelte es sich offenbar um eine Reparaturanleitung für BMW-Motorräder. Auf dem Umschlag erkannte Anna die legendäre R 12. Der Inhalt des zweiten Buchs erschloss sich ihr dagegen nicht so rasch. Technische Diagramme füllten die Seiten, auf dem Cover war ein Wolkenkratzer abgebildet
.
In einem Plastikkorb entdeckte sie einen Gegenstand, den sie im ersten Moment für eine Spielkonsole hielt. Als sie den Deckel hochklappte, leuchteten Schachfiguren auf dem Bildschirm auf. Marco spielte Computerschach. Unten im Korb lagen einige Geldbündel und ein paar Kartenspiele. Anna zählte die Zehn-Dollar-Noten. Der Mechaniker hatte fast zweitausend Dollar mit an den Nordpol genommen.
Anna hielt einen Sicherheitsabstand zu Marco, während er die erste Leiche auf dem Platz vom Schnee befreite. Die Tasche mit ihrem Jagdmesser war geöffnet. Falls er sie angriff, konnte sie es blitzschnell ziehen. Das Messer war schwer. Sie würde es auch durch den Wind auf ihn schleudern können. Es würde in seiner Brust stecken, noch bevor er einmal blinzeln konnte.
Vorhin hatte sie geglaubt, der Sturm würde abflauen, doch offensichtlich war es nur eine kurze Atempause gewesen. Jetzt fegte der Wind wieder zwischen den Hütten hindurch, rüttelte an den Kunststoff- und Metallbehausungen und spielte auf ihnen eine orkanische Symphonie. Das dissonante Orchester drang in ihren Kopf und zerlegte die wenigen klaren Gedanken, die sie fassen konnte, in ihre Bestandteile, jeder für sich scharf und deutlich, aber zusammengenommen wollten sie einfach keinen Sinn ergeben.
Anna musste sich konzentrieren, um zu verstehen, was Marco sagte. Er stand mit dem Rücken zum Wind und grub den Kopf des Toten aus. Die Leiche lag mit dem Gesicht nach unten im Schnee, und es dauerte einen Moment, bis Marco sie umgedreht hatte
.
Ein schmales Gesicht kam zum Vorschein. »Das ist Young Chun Li.« Marco ließ den Mann los und wich einen Schritt zurück, als wäre er ansteckend.
»Welche Aufgabe hatte er auf der Basis?«, fragte Anna.
»Er war der Sicherheitschef.«
Das erklärte vielleicht den überraschten Ausdruck im Gesicht des Mannes. Ein Schuss in den Rücken hatte auf Chun Lis Liste der möglichen Todesarten am Nordpol bestimmt mit an unterster Stelle rangiert.
Außer der Daunenjacke trug Chun Li nur ein T-Shirt und eine lange Unterhose. Seine steifen Beine steckten in ungeschnürten Schneestiefeln. Irgendetwas hatte ihn geweckt. Der Sicherheitschef hatte sich nur eine Jacke übergeworfen und war nach draußen gelaufen. Mit einer Gefahr hatte er wahrscheinlich nicht gerechnet.
Unter der nächsten Schneewehe kam der Mann mit dem Einschussloch in der Brust zum Vorschein. Marco identifizierte ihn als Deli Denian, einen der beiden Köche der Forschungsstation. Bei der Leiche, die Jackie bei seinem Fluchtversuch überfahren hatte, handelte es sich um den zweiten Koch. Als Marco ihn ausgegraben hatte, wandte er sich rasch ab.
»Das ist Jin Fu«, sagte er so leise, dass Anna ihn kaum verstehen konnte.
Sie machte einen Schritt zur Seite, um den Mann besser zu sehen. Jin Fus Kopf war eine einzige groteske Fleischmasse. Die Monsterreifen des Pick-ups hatten seine Stirn zerquetscht, und sein Gehirn war aus den Ohren gequollen. In dem grauen Brei war das Profil der Reifen deutlich zu erkennen
.
Anna spürte, wie ihr Magen sich umdrehte, aber er war vollkommen leer, sie konnte sich nicht übergeben. Sie atmete tief ein. Die kalte Luft strömte in ihre Lunge und sandte messerscharfe Stiche in ihre Brust. Marco hatte dem Toten den Rücken zugewandt. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen und somit nicht beurteilen, wie er auf den grauenvollen Anblick reagierte. Würde er ihn auch mit Abscheu erfüllen, wenn er der Mörder war? In diesem Moment drehte der Chinese sich wieder zu ihr um.
»Fus Frau ist schwanger. Fu war so glücklich. Er konnte es gar nicht erwarten, Vater zu werden.«
Marco sah sie an. Anna erwiderte seinen Blick, wusste aber nicht, was sie sagen sollte.
»In welcher Hütte haben die Männer gewohnt?«, fragte sie schließlich.
»Fu und Denian haben bei Jackie und mir geschlafen. Li war bei den Wissenschaftlern untergebracht.«
Der nächste Stopp auf ihrem Rundgang war der Tote in der Hütte mit den Computern. Marco musste gar nicht erst an ihn herantreten, um ihn als den Systemanalytiker Qiang zu identifizieren. Er hatte sich um die Computeranlagen der Wissenschaftler gekümmert. Qiang war zum Todeszeitpunkt wach und allein gewesen. Vermutlich hatte der Mörder ihn überrascht. Die anderen Männer hatten kurz vor ihrem Tod in ihren Betten geschlafen, aber etwas oder jemand hatte sie geweckt, und sie waren gleichzeitig nach draußen gegangen, um nachzusehen.
Anna verließ die Hütte.
Die Halle lag ungefähr zwanzig Meter entfernt. Als sie
die Leuchtrakete vor etwas mehr als zwölf Stunden gesehen hatte, war der Sturm noch nicht so stark gewesen. Falls sich der Unfall in der Halle vor Qiangs Ermordung ereignet hätte, hätte er vermutlich etwas gehört und wäre nach draußen gelaufen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Also musste Qiang das erste Opfer gewesen sein.
Und die anderen? Die Männer, die in ihren Betten gelegen hatten, was hatte sie nach draußen gelockt?
Ein Ruf?
Ein Schrei?
Nein, sie waren völlig arglos in Richtung der gelben Halle gegangen.
Unbewaffnet.
Jemand hatte sie gerufen. Der Mörder. Anna betrachtete die Halle. Was war darin vorgegangen, das die Männer so brennend interessiert hatte?