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»Entweder fehlt Lok Yafeng oder Yao Lanpo«, sagte Anna und reichte Zakariassen die Mappe des Kommandanten. Sie zeigte auf die Fotos der beiden Männer.
»Das bedeutet, dass einer von ihnen auch als Mörder infrage kommt.«
Der alte Mann betrachtete die Bilder mit einem gequälten Gesichtsausdruck. »Nimmt das denn nie ein Ende?«
Lok Yafeng wirkte wie ein Aufschneider. Seine Haare waren zurückgekämmt, und unter seinem Schnurrbart umspielte ein schiefes Grinsen seine Lippen. Yao Lanpo war das genaue Gegenteil. Mit seiner groben Kinnpartie, der platten Nase, dem Pottschnitt und den beinah komplett zusammengewachsenen Augenbrauen sah er wie ein Profiboxer aus.
Anna studierte die Fotos, versuchte, die Gesichter zu spalten wie den Kopf des Mannes in der Eishalle, doch es wollte ihr nicht gelingen. Sie blickte zu Marco, der blass und in sich gekehrt auf einem Stuhl hockte und eine Pepsi-Flasche umklammerte, die sie im Kühlschrank gefunden hatte.
»Und du bist dir ganz sicher, Marco, dass du nicht weißt, wer der letzte Tote in der Halle ist?«, fragte sie.
Marco starrte auf den Boden und schüttelte den Kopf
.
»Was war Yafengs Aufgabe?«
»Er war Ingenieur … und Pilot.«
»Und Lanpo?«
»Er hat mit mir zusammengearbeitet.« Jackies Stimme war leise, aber deutlich. »Lanpo war auch Datentechniker.«
Jackie saß jetzt aufrecht am Tisch, und etwas Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt. Die Infusion hatte geholfen. Oder der Schokoriegel, den Zakariassen ihm gegeben hatte, während Anna und Marco die Toten identifiziert hatten. Zakariassen ging nie ohne einen Schokoladenvorrat in der Tasche aufs Eis hinaus. Schokolade half gegen das »Große Zittern«, wie er es nannte, wenn der Blutzuckerspiegel in den Keller sackte. Aus irgendeinem Grund schien er dem Mann, der die Sabvabaa
demoliert hatte, inzwischen freundlicher gesinnt zu sein.
»Hat Lanpo normalerweise in der Halle gearbeitet?«, fragte Anna.
»Ja, er hatte gestern Abend Dienst, wir wechseln uns immer ab.« Jackie sah Marco an, als warte er auf eine Bestätigung. Doch Marco saß nur schweigend da.
Anna wechselte einen Blick mit Zakariassen, in dessen Augen die Frage zu lesen war: »Worauf willst du hinaus, Frau Superdetektivin?«
Sie setzte ihre Befragung fort.
»Ist euch an Lanpo oder Yafeng in den letzten Tagen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Hat sich einer der beiden merkwürdig verhalten?«
Marco sah kurz zu Jackie, doch der starrte nur auf
seine Knie, als läge dort die Antwort auf alle ungelösten Rätsel der Welt.
»Ja«, erwiderte Jackie.
»Lanpo hat gesagt, dass er … den Kommandanten umbringen will.«
Zakariassen zuckte zusammen.
»Er wollte ihn umbringen?« Die Stimme des Professors wurde lauter. »Warum sagst du das erst jetzt?«
Jackie starrte weiter auf seine Knie.
»Was weißt du darüber, Marco?«, fragte Anna.
Der Chinese zuckte mit den Schultern. »Oberst Hong war unzufrieden mit Lanpo. Er sagte, er würde den Forschungsfortschritt verzögern.«
»Aha, und wie hat er das gemacht?«
»Ich habe keine Ahnung … Ich bin nur ein Mechaniker.«
Annas müde und überanstrengte Augen blickten in Marcos schwarze. Durch das Licht, das sich in ihnen spiegelte, wirkten seine Pupillen wie Tunnel, die in eine dunkle Galaxie voller Geheimnisse führten. Ein Mann, der Tschaikowsky hörte, während er sich in einem Pick-up auf lebensgefährliches Polareis hinauswagte, war alles andere als »nur ein Mechaniker«.
»Aber du hast auch gehört, wie Lanpo gesagt hat, dass er den Kommandanten umbringen will?«
Marco blickte wieder zu Jackie, als wollte er seine Erlaubnis einholen, mehr zu sagen.
»Alle haben es gehört … Lanpo war betrunken … Es war ziemlich peinlich.«
»Okay … Lanpo hat also zu tief ins Glas geschaut und ge
droht, den Kommandanten umzubringen, weil der mit seiner Arbeit unzufrieden war?«
»Vielleicht.«
»Vielleicht … was?!«
Annas Stimme stieg wie die des Professors um einige Oktaven. Die Befragung der beiden Chinesen ähnelte dem Versuch, ein Bleilot aus einem Treibsandstrudel aus Entschuldigungen und Ausflüchten zu ziehen. »Sag mir die Wahrheit, was ist zwischen Lanpo und dem Kommandanten vorgefallen?«
»Lanpo war respektlos«, antwortete Marco.
»Er hat sich euch gegenüber respektlos verhalten?«
»Nein, Lanpo war ein netter Kerl … Er hat Jazzlieder für uns gespielt. Sein Vater ist ein berühmter Jazzpianist. Samstags und sonntags tritt er in Shanghai immer im Hotel Fairmont Peace auf, das liegt direkt neben der alten Brücke zu The Bund …«
Anna fiel Marco ins Wort.
»Der Vater ist mir scheißegal. Ich will wissen, weshalb Lanpo gedroht hat, euren Kommandanten umzubringen.«
Marco warf ihr einen verletzten Blick zu. »Er war dem Kommandanten gegenüber respektlos.«
»Inwiefern? Was hat er so Respektloses getan?«
Marco starrte auf seine Stiefelspitzen unter dem Tisch.
»Er hat sich geweigert … den Hund des Kommandanten auszuführen.«