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Der Mechaniker Marco erwies sich als schneller Lerner.
Anna hatte Zakariassen in den Raum neben der großen Halle begleitet und dann Marco doch lieber mitgenommen, um die Leuchtfallen zu holen. Sie zeigte ihm, wie sie funktionierten und wie er sie aufstellen sollte.
Schon bei der zweiten Leuchtfalle hatte sie ihm nichts mehr erklären müssen. Anna wurde bewusst, wie absurd die Situation war. Sie ließ einen möglichen Massenmörder Fallen für einen zweiten möglichen Massenmörder aufstellen.
Systematisch arbeiteten sie sich im Schneesturm um die Basis, bis sie ihre Finger und Zehen nicht mehr spürten. Jetzt erreichten sie das Luftkissenboot, an dessen Rumpf immer noch der demolierte Pick-up emporragte. Das Scheinwerferlicht ließ die Sabvabaa
wie ein klägliches Denkmal erscheinen. Anna beschloss, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Bevor die Batterien leer waren, konnte der Truck ihnen von Nutzen sein.
»Wir wärmen uns in deinem Wagen auf!«, rief sie Marco zu. Sie ging zur Beifahrerseite, kletterte auf das Trittbrett und öffnete die Tür. Marco folgte ihr, blieb aber in der Tür stehen und starrte auf die Leiche auf der Ladefläche
.
»Was sollen wir mit Zhanhai machen?«
»Im Moment können wir nichts tun. Der nächste Bestatter ist achttausend Kilometer weit weg … Er wird schon nicht verwesen.« Als sie Marcos Blick sah, bereute sie ihre Worte. »Tut mir leid, ich bin todmüde. Wir nehmen ihn nachher mit.«
Sie stieß Marcos Fuß an, woraufhin der Chinese ins Wageninnere rutschte und sich auf den Fahrersitz setzte. Anna folgte ihm und zog die Tür zu. Um sie herum wurde es still. Die dicke Schneeschicht auf den Fenstern sperrte das Heulen des Windes aus. Der Widerschein der Scheinwerfer tauchte die Fahrerkabine in graues, kaltes Licht – wie auf den Röntgenbildern, die ihr die Ärzte in dem Krankenhaus in Deutschland gezeigt hatten.
»Einschussloch links des Schlüsselbeins. Die Kugel steckte in der multipel frakturierten linken Hüfte. Schlüsselbein und Hüftknochen sind partiell zersplittert. Starke innere Verletzungen des Gewebes und des Darms, aber die Lunge ist unversehrt … Sie hatte verdammtes Glück.« Nach dem, was Anna den Worten des amerikanischen Arztes entnehmen konnte, waren es schlechte Neuigkeiten, wenn man ein Hochgeschwindigkeitsprojektil quer durch den Körper gejagt bekommen hatte. Sie wünschte sich nur noch, mit Morphium vollgepumpt zu werden. Um zu vergessen. Das zu vergessen, was Yann zugestoßen war.
Anna spürte, dass Marco auf ihr fehlendes Ohrläppchen starrte, als würden ihre Gedanken dort heraussickern.
Auch er hatte seine Kapuze abgesetzt. Durch die Schneeflocken in seinem Gesicht erinnerte er Anna an die weiß geschminkte Geisha, die ihr vor vielen Jahren in einer namenlosen Gasse in Tokio heißen Tee und lauwarmen Sake serviert hatte.
»Lass den Wagen an, Marco.«
Der Chinese drückte einen Knopf neben dem Lenkrad. Der Motor sprang mit einem fast lautlosen Brummen an. Die Scheibenwischer setzten sich in Bewegung und legten in der Schneeschicht auf der Windschutzscheibe zwei perfekte Halbkreise frei. Anna konnte jetzt die Antennen der Sabvabaa
sehen, die wie gefällte Bäume auf dem Dach des Luftkissenbootes lagen.
»Du musst uns von hier runterbringen«, sagte sie. Marco starrte sie verständnislos an. »Das Luftkissenboot … Bekommst du den Pick-up da runter?«
Der Chinese zog den Schalthebel nach hinten. Schwankend rutschte der Truck über den Rumpf der Sabvabaa
, erreichte die Kante und fiel in den Schnee. Die riesigen Reifen federten den Aufprall ab. Anna hatte das Gefühl, in dem kleinen Fischerboot ihres Vaters zu sitzen, das bei Wellengang auf dem Storfjord hin und her schaukelte.
Als Marco zurücksetzte, stellte sie fest, dass das Luftkissenboot die Kollision erstaunlich gut überstanden hatte. Über dem kaputten Kabinenfenster war eine große Beule im Rumpf, aber davon abgesehen schien die Bordwand völlig intakt zu sein. Anna nahm sich vor, Zakariassen zu bitten, in der Werkstatt nach Treibstoffschläuchen zu suchen, die mit dem Motor der Sabvabaa
kompatibel waren. Das Luftkissenboot war immer noch
ihre beste Chance, von hier wegzukommen. Mit einem vollen Tank konnten sie ein paar Tage lang fahren. Das sollte genügen, um sie in die Nähe der grönländischen Küste zu bringen.
Anna schaute auf die Uhr. Kurz vor drei, aber war es Tag oder Nacht? Es spielte keine Rolle, die amerikanischen Rettungshubschrauber hätten längst da sein müssen. Aber selbst mit der besten Navigationsausrüstung der Welt und Nachtsichtgeräten, die die Polarfinsternis in Tageslicht verwandelten, war der Sturm vermutlich unüberwindbar. Sie legte ihre Finger auf die warme Lüftung und genoss den willkommenen Schmerz, als das Blut in ihren Fingerspitzen zu zirkulieren begann.
Marco schaltete in den Leerlauf, legte die Hände in den Schoß und blickte auf die Kunststoffrakete, die am Armaturenbrett klebte. Das Licht in den Kugeln an der Spitze und am unteren Ende schimmerte in Blau- und Grüntönen wie ein Miniaturnordlicht.
»Stört dich dieses Ding nicht beim Fahren?« Eigentlich hatte Anna nicht die geringste Lust auf eine Unterhaltung, aber sie hatte Angst, in der Wärme einzuschlafen.
»Das ist ein Geschenk meines Vaters. Die Perle des Orients soll mir Glück bringen.«
»Interessiert sich dein Vater für die Raumfahrt?«
»Mein Vater ist Fahrstuhlführer. Er arbeitet in der Perle des Orients.«
Anna betrachtete die Rakete genauer. Im Rumpf waren kleine Löcher. Fenster.
»Das ist eine Gebäudenachbildung?«
»Ja, natürlich. Haben Sie noch nie von der Perle des
Orients gehört?« Marco sah sie gekränkt an. »Es ist das dritthöchste Gebäude in Shanghai. Mein Vater hat das Baugerüst errichtet. Nach der Eröffnung wurde er dann als Fahrstuhlführer eingestellt, weil er keine Höhenangst hat.«
Anna verstand zwar nicht, warum es für einen Fahrstuhlführer von Vorteil war, keine Höhenangst zu haben, aber sie hatte nicht die Energie zu fragen.
»Darum habe ich mich freiwillig gemeldet«, fuhr Marco fort und deutete auf den Turm der Forschungsstation. »Ich habe einen höheren Turm als mein Vater gebaut.«
»Ach ja? Dein Turm ist doch bestimmt nicht höher als … zwanzig Meter?«
»Zwanzig Meter und fünfundfünfzig Zentimeter.« Marco lächelte stolz. »Aber die Eisdrachen-Basis steht auf der Spitze der Welt. Über uns ist nur noch der Himmel. Deshalb ist mein Turm höher als alle anderen.« Marco lachte sein seltenes kullerndes Lachen. In seinen runden Wangen bildeten sich zwei Grübchen. Anna spürte, wie Marcos Lachen auf sie abfärbte, und stimmte ein. Es tat gut.
»Tut mir leid, dass ich dich vorhin zu Boden gestoßen habe«, sagte sie. »Das ist normalerweise nicht meine Art.«
Marco zuckte die Schultern. Mit der warmen Luft breitete sich ein Gefühl von Kameradschaft in der Fahrerkabine aus. In ihrem früheren Leben hatte sie viel Zeit auf diese Weise verbracht, hatte in Fahrzeugen gesessen und die Wartezeit mit sinnlosen Gesprächen und
dummen Sprüchen über alles und nichts totgeschlagen. Der echte Krieg ist nicht wie im Film. Neunundneunzig Prozent der Zeit verbringt man mit Warten, aber für einen Soldaten ist das Warten häufig das Schlimmste. Es zermürbt. Da sind Blödeleien eine gute Ablenkung – von dem, was vor einem liegt.
Anna fiel auf, dass aus den Lautsprechern noch immer leise die Klänge von Schwanensee
drangen. »Magst du Tschaikowsky?«
»Was?«
»Die Musik … Schwanensee
.«
Marco lächelte. »Meine Freundin mag klassische Musik. Sie meint, ich müsste meinen Horizont erweitern.«
Anna streckte sich und spürte dabei einen harten Gegenstand in ihrer Brusttasche. Das Buch aus Jackies Schrank.
»Weißt du, was das ist?«, fragte sie und zog das zerfledderte Taschenbuch hervor.
Marco betrachtete das Cover. »Das gehört mir. Jackie hat es sich von mir ausgeliehen.«
»Wovon handelt es?«
»Das ist Die Kunst des Krieges
, es ist in China berühmt. Es wurde vor über tausend Jahren geschrieben.«
Anna schloss die Augen und holte die Worte aus ihrer Erinnerung hervor: »Ein General greift weise an, wenn sein Gegner nicht weiß, was er verteidigen soll, und er ist ein weiser Verteidiger, wenn sein Gegner nicht weiß, was er angreifen soll.«
In Marcos Augen trat ein Anflug von Verwunderung
.
»Die Kunst des Krieges
war Pflichtlektüre an der Militärakademie. Sunzi führte ein mächtiges chinesisches Heer an, aber heutzutage befolgen vor allem Guerillagruppen seine Strategien«, sagte Anna.
»Ja, Meister Sun war seiner Zeit weit voraus«, erwiderte Marco. »Wie ja fast alle modernen Erfindungen aus China stammen.«
»Große Worte! Was ist mit Weltraumraketen und Computern?«
»Wir haben das Feuerwerk und den Rechenschieber erfunden. Das ist fast dasselbe.«
Ein trockenes Lachen zwängte sich durch Annas wunde Kehle.
»Sie können das Buch behalten. Ich kann Krieg nicht mehr leiden.« Anna nahm das Foto heraus, das zwischen den Seiten steckte.
»Weißt du, wer das ist?«
Marco studierte das Gesicht der Frau. »Nein.«
»Hat Jackie mal eine Freundin erwähnt?«
Der Chinese schüttelte den Kopf. Anna steckte Buch und Bild in ihre Brusttasche zurück. Sie spürte die Müdigkeit hinter ihren Augenlidern und biss sich auf die Zunge, um wach zu bleiben.
»Was weißt du über Jackie?«
Marcos Blick bekam etwas Fernes. »Nicht viel … Er ist ein in sich gekehrter Typ, spricht nicht viel. Er ist aus der Mongolei an die Antarctic Administration gekommen. Ich glaube, er hatte dort irgendeinen langweiligen Fabrikjob und wollte unbedingt etwas machen, bei dem er sein Studium anwenden konnte.
«
»Was hat Jackie in den USA studiert?«
»Irgendwas mit Geologie … 3D-Datenerfassung, eine Technik, die Geologen einsetzen, um Öl im Meeresboden zu finden.« Die Antwort entsprach in etwa dem, was Jackie ihr selbst erzählt hatte. Anna aktualisierte ihren mentalen Jackie-Ordner: an Kriegskunst interessiert; einer der wenigen Chinesen, die an einer amerikanischen Universität studieren durften; ein ehrgeiziger Mann.
»Und du, Marco? Was hast du gemacht, bevor du Mechaniker geworden bist?«
»Ist das ein neues Verhör?«
»Ja.«
Marco rutschte auf dem Fahrersitz hin und her und wandte den Blick ab. »Ich bin in einem winzigen Kaff aufgewachsen, drei Autostunden von Shanghai entfernt. Als ich mit der Schule fertig war, bin ich zu meinem Vater nach Shanghai gezogen. Er hat mir einen Job in einer Motorradwerkstatt besorgt, die einem seiner Freunde gehört, also bin ich Mechaniker geworden.«
»Du wolltest nicht studieren?«
Marco lächelte.
»Nein, ich wollte nur raus aus diesem Scheißkaff. Das Leben war da so langweilig, dass die Leute Geld bezahlt haben, um Farbe beim Trocknen zuzusehen.«
»Ich habe in deinem Schrank einen Haufen Dollarscheine gefunden. Hast du für schlechte Zeiten gespart?«
Der Bezug des Sitzes knarzte, als Marco sich ruckartig zu ihr umdrehte. »Sie haben in meinem Schrank rumgeschnüffelt?«
»Natürlich.
«
Marcos Kugelbauch wölbte sich unter dem Überlebensanzug, als er Luft holte: »Fu und ich haben öfter mal gespielt … Poker. Manchmal waren auch noch andere aus dem Team dabei. Der Sieger sollte zu Hause in China für alle eine große Party schmeißen – das war die Abmachung. Ich liege in Führung.« Aus seiner Kehle drang ein bitterer Laut. »Ich lag in Führung …«
»Das ist eine
Erklärung.«
Marco sah ihr in die Augen.
»Ich bin kein Mörder. Ich habe niemanden umgebracht.«
Das rote Licht vom Armaturenbrett fiel auf seine linke Gesichtshälfte und legte einen teuflischen Widerschein darüber. Die andere Hälfte blieb in der Dunkelheit verborgen.