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Die Vulkane ragten wie Schlote vom Meeresboden empor. Pechschwarze Rauchwolken stiegen aus ihnen auf. Anna hatte das Gefühl, über einer endlosen Reihe stinkender, die Luft verpestender Fabrikanlagen zu schweben.
Zakariassen schnalzte mit der Zunge, sein Mund stand offen. Er blinzelte in einem fort, völlig gefangen von der Szenerie, die sich ihm bot.
Ein großer roter Gegenstand mit mechanischen Greifarmen an der Front glitt über die Vulkane hinweg. Noch ein Mini-U-Boot.
»Guck dir das an«, sagte Zakariassen mit Bewunderung in der Stimme. »Das ist einfach genial, das U-Boot steuert sich selbst. Die Chinesen haben es darauf programmiert, nach Mineralien zu suchen.«
Der rotierende Propeller des U-Bootes zerstieß eine aufsteigende Rauchwolke. Einer der Greifarme streckte sich aus. Die Metallklaue brach einen Gesteinsbrocken aus der Vulkanwand und legte ihn in einen Korb, der unter dem U-Boot hing. Der Propeller begann sich wieder zu drehen, das U-Boot änderte den Kurs und entfernte sich von dem Vulkan. Zakariassen ließ sein U-Boot folgen.
Das Licht des roten U-Bootes fiel auf etwas, das Anna
im ersten Moment für einen weiteren Vulkan hielt. Als das Gebilde näher kam, erkannte sie aber, dass es sich um eine große, zigarrenförmige Maschine handelte, die mit Metallstreben im Meeresboden verankert war und auf deren Oberseite rote Lampen leuchteten. Die Maschine ähnelte einer Mondlandefähre, nur war sie viel höher und hatte einen breiten Trichter auf dem Dach.
Das Mini-U-Boot drosselte seine Geschwindigkeit und positionierte sich direkt über dem Trichter. Der Korb sank nach unten und schüttete eine Ladung Vulkangestein in den Trichter.
Im Raum war kein Laut zu hören. Die Kabelbinder änderten nichts an der Tatsache, dass Marco und Jackie das Geschehen auf dem Monitor von ihrer Position an der Wand verfolgen konnten. Jackie zeigte keinerlei Gefühlsregung, aber Marcos Miene drückte Irritation aus.
»Siehst du, das ist der helle Wahnsinn … absolut unglaublich, fantastisch!« Zakariassen schlug mit der Hand auf die Metallkiste. »Weißt du, was das ist?« Der Professor wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. »Das ist ein Bergwerk!«
Seine Augen leuchteten aufgeregt hinter den Brillengläsern.
»Das ist eine Sensation … Verstehst du? Den Chinesen ist etwas gelungen, das zuvor noch niemandem gelungen ist. Sie betreiben ein Bergwerk am Nordpol. In dreitausend Meter Tiefe!«
Annas blasses Gesicht spiegelte sich im Monitor,
während sie die Bergbaumaschine betrachtete. Aus einem Rohr an der Seite stieg eine schwarze Wolke, die schwerelos im Wasser hängen blieb. Auf dem Dach der Maschine flammte ein kraftvoller Scheinwerfer auf, der sich langsam um seine Achse drehte. Fische schwammen durch den Lichtstrahl. Der Scheinwerfer wanderte über Kabel und Kisten auf dem Meeresboden. Nach ein paar Umdrehungen erlosch er. Eine Luke ging auf, und ein Korb wurde zu einem Greifarm an der Seite der Maschine transportiert. Die Klaue öffnete sich und nahm den Korb in Empfang.
Ein surrendes Geräusch ertönte. Ein dickes Drahtseil wurde aus dem Loch im Eis gefiert. Von der Eismasse in der Spitze des Turms rieselten feine Kristallsplitter herab. Ein Geruch von Schwefel und Staub lag in der Luft. Auf dem Monitor verschwand der Korb aus dem Bild.
»Was machst du da?«, fragte Anna.
Zakariassen grinste wie ein Kind in der Süßigkeitenabteilung. »Die Grube ist voll automatisiert. Jackie hat mir gezeigt, wie man sie in Gang setzt.«
Das Wasser in dem Loch brodelte, und die Drähte des dicken Metallseils, an dem der Korb hochgezogen wurde, vibrierten. An dem Seil hing eine Luftblase. Anna folgte ihr mit dem Blick. Als das Seil sich den Heizstrahlern an der Decke näherte, platzte sie.
Anna versuchte, Zakariassens Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Es ist besser, wir fassen diese Geräte nicht an. Wir haben keine Ahnung, wie man sie bedient.« Aber der Professor starrte weiter in das Loch
.
»Daniel … hast du vergessen, dass da draußen irgendwo ein Massenmörder herumläuft?«
Zakariassen sah sie an. Irritiert runzelte er seine buschigen Augenbrauen. »Du hast doch die Leuchtfallen aufgestellt. Sie werden uns warnen, wenn jemand kommt.«
»Theoretisch, aber dieser Lanpo hat zwölf Menschen umgebracht. Er ist bestimmt ziemlich clever.«
Der Professor sog scharf die Luft ein. »Was, wenn er sie wegen des Bergwerks ermordet hat? Wenn das der Grund für diese Hölle ist, sollten wir dann nicht herausfinden, was sich dort unten verbirgt?«
Das Drahtseil stieg weiter aus dem Wasser empor und transportierte noch mehr Luftblasen an die Oberfläche.
»Nichts da unten ist so wertvoll, um dafür Menschen zu töten«, protestierte Anna. »Hör jetzt auf damit.«
»Seltene Mineralien sind unglaublich wertvoll, das …«
»Okay, gut, du hast sicher recht«, erwiderte sie. »Aber ich verstehe nicht, was Lanpos Plan ist. Nur mal als Gedankenexperiment: Angenommen, er hat etwas so Wertvolles entdeckt, für das es sich in seinem kranken Hirn lohnt, zum Massenmörder zu werden. Wie will er es von hier wegbringen?«
»Vielleicht hat er einen Komplizen, der ihn abholt.« Zakariassen war nicht der Typ, der so leicht aufgab, wenn er ein Gedankenkonstrukt gefunden hatte, das ihm logisch erschien.
»Verflucht noch mal, Daniel, wir sind am Nordpol! Wenn ihn jemand abholt, müsste dieser Jemand schon
mit einem Hubschrauber kommen. Und diese Möglichkeit haben nur wir, die Russen und die Amerikaner.«
»Russland ist eines der korruptesten Länder der Welt, da kann man für Geld alles kaufen.«
In dem Loch im Eis brodelte das Wasser immer heftiger um das Drahtseil. Unwillkürlich trat Anna mehrere Schritte zurück.
»Ist das Gas?«
Zakariassen beugte sich vor. Jedes Mal wenn eine Luftblase an der Wasseroberfläche platzte, verzerrte sich sein Spiegelbild.
»Nein, das ist nur warmes Wasser. Die Vulkane, aus denen der Rauch kommt, werden als hydrothermale Raucher oder Schlote bezeichnet. Sie entstehen, wenn Wasser in Risse im Meeresboden sickert und dort auf Magma trifft. Das Wasser beginnt zu kochen, steigt in die Höhe und befördert dabei Mineralien an die Oberfläche … Verstehst du?«
Anna nickte widerwillig.
»Wenn das Wasser abkühlt, sinken die Mineralien wieder in die Tiefe. Dadurch entstehen die hydrothermalen Schlote. Sie sind schon seit Millionen von Jahren aktiv.«
Die Worte des Professors schwirrten durch Annas Kopf, ohne richtig hängen zu bleiben. »Hat Jackie dir das alles erzählt?«
»Nein«, erwiderte Zakariassen mit einem arroganten Schnauben. »Als ich das chinesische Labor gesehen habe, war mir sofort klar, dass hier mehr passiert als normale Experimente zur Mineraliengewinnung.« Der Professor
machte eine ausholende Bewegung, die den ganzen Raum umfasste. »Das hat industrielle Ausmaße.«
Er legte einen Finger an das Drahtseil. Wassertropfen perlten ab und rannen über seine Hand.
»Meine Theorie ist, dass die Chinesen ein großes Vorkommen sehr seltener Mineralien gefunden haben. Deswegen dieses separate Labor. Hier können … Hier konnten die Wissenschaftler die seismischen Daten fortlaufend analysieren. Wenn sie etwas Interessantes entdeckten, holten sie ihren Fund sofort nach oben. Alle Geräte auf dem Meeresboden können ferngesteuert und beliebig bewegt werden. Schon eine halbe Tonne würde auf dem Weltmarkt für extrem seltene Mineralien einen großen Unterschied machen.«
»Warum nehmen sie dieses Risiko auf sich? Wenn das rauskommt, wird man China doch vom Nordpol verbannen?«, fragte Anna.
»Wer sollte sie verbannen? Der Nordpol gehört niemandem, jedenfalls noch nicht. Sieh dir uns an. Norwegen betreibt immer noch Walfang, obwohl der Rest der Welt es verboten hat. Wir nennen es ›Forschungsfang‹, aber in Tromsø gibt es Walfleisch ganz normal zu kaufen, wir exportieren es sogar. Am Nordpol ist noch alles offen, deshalb ist die Fram-X-Expedition ja so wichtig.«
Zakariassen ließ das Drahtseil los und betrachtete seine Fingerspitzen. Ein deutlicher dunkelroter Roststreifen zog sich über seine fahle Haut.
»Norwegen muss seinen Besitzanspruch am Nordpol manifestieren und unsere Rechte sichern, bevor alle
anderen kommen«, fuhr er fort. »Hier gibt es keine Ureinwohner, die ihre Unabhängigkeit verlangen. Wenn wir nicht aufpassen, werden China, Russland und die anderen Länder uns alles, was es hier gibt, vor der Nase wegschnappen, und Amundsens und Nansens Heldentaten wären vergebens gewesen.« Als Anna den fanatischen Glanz in den Augen des Professors sah, drängte sich ihr der Gedanke auf, dass er ein Entdecker vom alten Schlag war, fest von seinem legitimen Recht überzeugt, ein neu entdecktes Gebiet für sich beanspruchen zu dürfen.
Plötzlich wurde ihr Gespräch durch einen Alarm unterbrochen. An der Wand begann eine orangefarbene Lampe zu blinken.
Das Wasser im Loch brodelte nun noch heftiger. Der Haken am Ende des Drahtseils kam zum Vorschein und brachte den Korb an die Oberfläche. Die Drahtseilwinde hielt abrupt an. Der Korb schaukelte in der Luft über dem Loch. Er war größer, als Anna gedacht hatte, ungefähr einen Meter breit.
Der Förderkorb war mit schwarzem Kies gefüllt, unter den sich einige glänzende Klumpen aus einem anderen Material mischten. Die Klumpen klebten aneinander wie die Waben eines Bienenstocks. Zwischen dem Kies und den Klumpen hingen Flocken, die aussahen wie schmutziges Eis.
Schlammiges Wasser floss aus dem Korb zurück ins Loch. Im Raum breitete sich ein fauliger Geruch aus. Anna hörte ein lautes Ticken wie von einer Eieruhr.
Einer der beiden Chinesen sagte etwas, als Zakariassen nach dem Korb fasste. Der Professor zog ihn zu sich
heran, steckte die Hand hinein und brach einen der glänzenden Klumpen aus der Masse.
Ein Knall erklang.
Am Boden des Korbs glühte ein greller Funken auf. Der Professor schrie und zog seine Hand zurück, doch ein flackerndes grünes Monster folgte ihr.