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Anna riss sich den Helm vom Kopf und blickte in Jackies Gesicht, das von einem glühenden Glorienschein umgeben war, als ginge vor dem Fenster die Sonne auf. Sie stürzte aus der Hütte.
Draußen war die Nacht buchstäblich zum Tag geworden. Rings um die Sabvabaa schlugen Flammen empor. Haushohe Feuersäulen stiegen über dem Luftkissenboot auf und wogten wie riesige Bäume im Wind. Der wirbelnde Schnee absorbierte den Feuerschein und trug ihn als stroboskopischen Funkenflug in die Dunkelheit. Anna hatte das seltsame Gefühl stillzustehen, während die Lohen an ihr vorbeirasten.
Am Rumpf der Sabvabaa zeichnete sich die Silhouette eines Mannes ab. Der Feuerschein fiel auf einen rot-gelben Überlebensanzug. Zakariassen war auf dem Weg in die Kabine. Die blaue Baracke, mit der die Sabvabaa kollidiert war, brannte lichterloh.
Kurz darauf kletterte Zakariassen mit einem Feuerlöscher in der Hand wieder aus der Kabine und lief über das Deck.
»Daniel! Komm da weg! Der Treibstoff wird explodieren!«, schrie Anna, aber der Sturm ergriff ihre Warnung und warf sie aufs Eis hinaus. Der Professor verschwand hinter der Kabine, nur sein Oberkörper war zu sehen. Im nächsten Moment umgab ihn eine Wolke aus Löschschaum.
Anna lief geduckt im Zickzackkurs auf den Brand zu. Der Feuerschein glitt über die Frostschicht, die sich auf der Rinne im Eis gebildet hatte. Sie sprang über den Spalt, landete unsanft auf der gegenüberliegenden Seite, verlor das Gleichgewicht, rollte durch den Schnee und nutzte den Schwung, um wieder auf die Beine zu kommen.
Als Zakariassen sie entdeckte, sprang er vom Deck und lief ihr entgegen.
»Runter!«
Anna riss den Professor in den Schnee und warf sich mit dem Kopf in die entgegengesetzte Richtung neben ihn auf den Boden. Sie starrte in die Dunkelheit zwischen den Flammen und der Halle.
»Was machst du? Wir müssen die Sabvabaa löschen!«, rief Zakariassen.
»Als Erstes müssen wir uns selbst retten.«
Der Professor folgte Annas Blick in die Dunkelheit.
»Glaubst du … das war dieser Lanpo?«
»Brände brechen bei minus zwanzig Grad normalerweise nicht von selbst aus. Hast du einen Schuss gehört?«
»Nein, ich habe nichts gehört.«
Anna wischte den Schnee von ihrer Skibrille.
»Das ist ein Ablenkungsmanöver. Lanpo wollte uns aus der Deckung locken. Ich an seiner Stelle hätte mich in der Zwischenzeit auf der anderen Seite vorbeigeschlichen.« Der Mörder könnte die Basis umrundet haben, um ihnen in der Dunkelheit hinter den Hütten aufzulauern. Marcos und Jackies Beschreibung eines untersetzten, ungeschickten Mannes ließ sich nicht länger aufrechterhalten. Dieser Angriff war nicht das Werk einer mental instabilen Person.
»Wir können hier nicht liegen bleiben … Ich muss da raus und ihn überwältigen. Und du musst mir Feuerschutz geben.«
Anna wartete, bis Zakariassen sein Mausergewehr aus dem Schnee gehoben hatte, dann kroch sie langsam auf die Sabvabaa zu. Die Hitze des Feuers versengte die ungeschützte Hautpartie zwischen ihrer Skibrille und der Gesichtsmaske. Verbrennen, Erfrieren – dem Nordpol gingen die Ideen für immer neue Todesarten nicht aus.
Vor dem Luftkissenboot stand Anna auf, sprintete auf die andere Seite des Rumpfs und ging in Deckung. Auf dem Platz war niemand zu sehen. Rasch zog sie sich auf das Deck der Sabvabaa und kletterte durch die offen stehende Luke, die Zakariassen nicht wieder geschlossen hatte, nachdem er den Feuerlöscher geholt hatte. Der Brand hatte die Kabine aufgewärmt. Anna hoffte, dass die dicke Löschschaumschicht genügte, um die Sabvabaa vor den Flammen zu schützen.
Um von außen nicht gesehen zu werden, rutschte sie auf Knien durch die Kabine. Auf ihrem Bett unter dem kaputten Fenster hatte sich ein großer Schneehaufen gebildet, der zu kleinen Rinnsalen schmolz.
Anna schob ihre Hand unter das Bett. Ihre Finger tasteten einen Moment suchend umher, dann zog sie einen Rucksack hervor, in dem sie eine kleine Schaufel, Energydrinks, ein paar Feldrationen und einen Thermoschlafsack aufbewahrte. Eine eiserne Reserve, für den Fall, dass die Sabvabaa einen Totalschaden erlitt und sämtliche Notausrüstung ausfiel.
Sie nahm eines der Satellitentelefone von dem Tisch, auf dem das Funkgerät stand, schaltete es an und versuchte erneut, Boris anzurufen. Doch auch diesmal wurde nichts als statisches Rauschen aus dem All zurückgeworfen.
Als Anna die Sabvabaa verließ, fiel ihr auf, dass am Notsender ein rotes Lämpchen blinkte. Sie öffnete den Deckel und sah auf das Display. Ein Rettungsteam wird um 19:30 Uhr Ortszeit an Ihrem Standort eintreffen . Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass es bis dahin noch ziemlich genau eine Stunde dauerte. Eine Stunde, die sie noch überleben mussten. Eine Stunde, in der sie dafür sorgen musste, dass Lanpo es nicht tat.