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Kein Film hatte Anna mehr aufgewühlt als Sieben
. David Finchers Meisterwerk war eine der zahlreichen VHS-Kassetten gewesen, die der Wohlfahrtsverband der norwegischen Streitkräfte der Hercules-Maschine, die einmal im Monat auf dem vom Krieg beschädigten Flughafen von Pristina landete, mit auf den Weg gab. Sieben
wurde in der Kantine von Film City gezeigt, eine Woche bevor der amerikanische GI von der Nato-Streubombe in tausend Stücke gesprengt wurde.
Was sie am meisten schockte, waren nicht die grotesken Morde, sondern der Moment, in dem Kevin Spacey in seiner Rolle als teuflischer Serienmörder ins Polizeipräsidium spazierte und sich Brad Pitt und Morgan Freeman stellte. In dem Augenblick war ihr klargeworden, dass der Regisseur es liebte, mit seinem Publikum zu spielen – bei diesem Film gab es keine Happy-End-Garantie.
Irritierte Gesichter hatten sich ihr zugewandt, als sie Brad Pitt unbewusst entgegenschrie: »Mach den Karton nicht auf!«
Auch für sie kam jegliche Warnung zu spät.
Der Karton war geöffnet.
Die gespreizten Finger gehörten zu einer mit Frost und Raureif überzogenen Gestalt. Die Person lag wie ein
zusammengeklapptes Faltmesser im Schlitten. Die Augen unter den breiten Brauen waren geschlossen. Der Mund ein schmaler Strich über einem breiten Kinn.
Als Anna die steif gefrorene Leiche von Yao Lanpo betrachtete, wich sämtliches Blut aus ihrem Kopf. Der Nordpol drehte sich unter ihr, die Schwerkraft setzte aus. Unten wurde zu oben. Sie musste sich in den Schnee setzen. Die Todesursache war eindeutig. Das Loch in der Stirn ließ keinen Zweifel zu. Lanpo war erschossen worden. Das T-Shirt und die lange Unterhose, die er trug, sagten ihr auch wo. In seinem Bett. Im Schlaf.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
»Beruhig dich, Liebste«, flüsterte Yanns Stimme in ihrem Kopf.
»Wie soll ich mich beruhigen? Ich hab mich austricksen lassen wie ein dummes kleines Kind!«
»Panik hilft dir nicht weiter. Versuch, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen.«
Der Reihe nach ging Anna die Ereignisse durch, die sie hierhergeführt hatten. Lose Fäden fügten sich zu einem deutlichen Muster zusammen, zerklüftete Risse durchzogen eine weiße Landschaft aus Zufällen, aber selbst einer Zynikerin wie ihr fehlte die Kraft, dem Muster, das sich herauskristallisierte, bis zur Lösung zu folgen. Sie war zu grauenvoll. Das konnte nicht stimmen. Irgendetwas musste ihr überanstrengtes und unterkühltes Gehirn übersehen haben.
Aber egal, wie sie es auch drehte und wendete, die Antwort darauf, wie Lanpo in einem Schlitten liegen konnte, der von einem Fallschirm über das Eis getrieben wurde,
war immer dieselbe: Jemand hatte das inszeniert, um sie von der Eisdrachen-Basis wegzulocken.
Anna stand auf, stemmte sich gegen Wind und Schneegestöber und kämpfte sich in den Schutz der Presseiswand zurück. Sie nahm das Satellitentelefon aus ihrem Rucksack und schaltete es an. Diesmal leuchtete die Verbindungsanzeige. Sie ignorierte die Kälte und zog ihre Handschuhe aus, um Boris’ Nummer aufzurufen.
Es klingelte.
Und Boris nahm fast in derselben Sekunde ab.
»Hallo, Anna, beinah hätte ich mir Sorgen um Sie gemacht.«
Wie immer klang der Russe leicht angetrunken. Seine vertraute Stimme hätte sie glücklich machen müssen, doch stattdessen hatte sie das Gefühl, als fielen ihre Eingeweide in einen Abgrund.
»Verarschen Sie mich jetzt nicht, Boris. Sagen Sie mir nur, dass jemand auf dem Weg zur Eisdrachen-Basis ist.«
»Entschuldigung, ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen, Anna. Wer sollte auf dem Weg sein? Soweit ich weiß, ist außer Ihnen und Zakariassen niemand auf dem Eis. Haben Sie die Chinesen gefunden?«
»Haben Sie die Nachricht nicht erhalten?«
Die Stimme des Meteorologen wurde mit einem Mal ernst. »Ich weiß nur, was Sie mir gesagt haben. Dass Sie eine Leuchtrakete gesehen haben, die möglicherweise von der Eisdrachen-Basis aus abgeschossen worden ist. Was ist passiert?«
»Boris, alle sind tot, das ganze Team. Sie müssen Leute herschicken, sofort!
«
»Tot? Wie … Gab es einen Unfall?«
»Nein, sie wurden ermordet … die ganze Mannschaft. Sie müssen Soldaten herschicken!«, schrie Anna. »Der Mörder ist hier. Er ist in der Forschungsstation … jetzt, in diesem Moment.«