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Anna brauchte keinen GPS-Empfänger, um Jackie und Zakariassen aufzuspüren. Die Reifenspuren des Pick-ups waren im Schnee noch deutlich zu erkennen. Marco holte zwei Schlafsäcke, ein paar Schaufeln, Nudelbecher und drei Thermosflaschen mit einem in der Mikrowelle der Kantine aufgewärmten Schokoladengetränk. Am Nordpol konnte das Wetter so plötzlich umschlagen, dass man fünfzig Meter von der ersehnten Rettung entfernt erfrieren konnte. Anna legte noch einige Leuchtfallen zu ihrem Gepäck.
Während Marco den Schlitten belud, den sie in der Garage entdeckt hatten, ging sie in den Raum unter dem Turm und zog die Leitungen heraus, die den Computer mit der Grube auf dem Meeresboden verbanden. Danach blickte sie sich noch einmal um. Alles drehte sich um diesen Raum, da war sie sich inzwischen hundertprozentig sicher. Die Halle mit den zu Eis erstarrten Menschen nebenan war nicht das Wichtigste gewesen. Die Wissenschaftler hatten sich dort spätabends versammelt, sogar die Teammitglieder, die gerade keine Schicht gehabt hatten, waren in die Halle geeilt und hatten den beiden Männern vor den Computern über die Schultern geschaut, weil irgendetwas Außergewöhnliches geschehen war .
Hier.
In der Tiefe.
Etwas Außergewöhnlicheres als die Vulkane und die Grube.
Anna betrachtete den Computer. Was sollte sie damit machen?
Als sie ins Freie trat, war der Wind zu einer leichten Brise abgeflaut, aber der Schnee fiel wieder dichter. Marco hielt Sunzi fest, der angeschirrt vor dem Schlitten stand und es offensichtlich gar nicht erwarten konnte, sie aufs Eis zu führen.
Das Letzte, was Anna von der Forschungsstation sah, war das Drachenbanner oben auf dem Turm. Bleich und anämisch starrte ihnen das Fabelwesen niedergeschlagen nach.
»Jackie hat das Banner gemalt«, sagte Marco. »Er hat immer gesagt, er sei der Drachenmann.«
»Der Drachenmann … Warum nennt er sich so?«, fragte Anna.
»Ich glaube, das war ein Witz. Er hat auch gesagt, er würde sich nach der Expedition ein Drachentattoo stechen lassen. Als Erinnerung an seinen Vater – den Zusammenhang habe ich aber nie richtig verstanden.«
»Weißt du, was Jackie vor diesem Forschungsprojekt gemacht hat?«, fragte sie.
»Das habe ich Ihnen doch schon erzählt. Er hat in der Inneren Mongolei gearbeitet, in einer Fabrik in Baotou … da wurden Mineralien gefördert. Er hat den Job und die Stadt gehasst.« Marco lachte auf. »Und da s kann ich gut verstehen, Baotou ist die Hölle auf Erden.«
»Ich dachte, in der Mongolei gäbe es nur Kamele und wunderschöne Berge.«
»Mag sein, dass es solche Orte gibt … Ich bin noch nie in der Mongolei gewesen, aber ich habe Bilder von Baotou gesehen. Die Fabrik spritzt lauter giftige Chemikalien in die Erde, um seltene Mineralien zu gewinnen. Und hinterher leiten sie das Zeug in einen See mitten in der Stadt. Alle Tiere sind aus der Umgebung geflohen, und in einem Umkreis von mehreren Kilometern gibt es keine lebenden Pflanzen mehr.«
»Das klingt furchtbar. Wie können Menschen an einem solchen Ort wohnen?«
»Wegen des Geldes. Geld ist das Einzige, was in Baotou wächst.«
»Verstehe … Glaubst du, was Jackie gesagt hat? Dass hier ein Vermögen an seltenen Mineralien unter dem Eis liegt?«
»Vielleicht … Ich weiß es nicht.« Marco zuckte mit den Schultern. »Die Wissenschaftler haben mich wirklich nicht in ihre Arbeit eingeweiht. Sie haben mir nur gesagt, was ich zusammen- oder auseinanderschrauben sollte.«
Der Chinese blieb abrupt stehen und holte tief Luft.
»Ich habe mich für diesen Auftrag gemeldet, weil ich etwas Spannendes erleben wollte. Wenn ich nicht so ein Idiot gewesen wäre, könnte ich jetzt in meiner Werkstatt in Shanghai sitzen, mit meinen Freunden dumme Sprüche reißen und leckere Nudeln essen. Oder mit meiner Freundin ins Kino gehen. «
Marco legte seine Hände an den Kopf.
»Es ist furchtbar … Was soll ich nur Fus Frau sagen? In zwei Monaten wäre er Vater geworden. Sie haben einen Sohn erwartet. Der arme Kerl wird seinen Vater nie kennenlernen.« Marco begann zu weinen. Anna legte ihm eine Hand auf die Schulter und versuchte vergeblich, irgendetwas Tröstliches zu sagen.
Sunzi winselte und zerrte am Schlitten. Marco hob den Kopf und rief einen scharfen chinesischen Befehl. Der Husky verstummte.
Marco ruckte an der Leine, und Sunzi zog den Schlitten vorwärts. Das Eis knisterte, als wäre es durch die Reibung der Kufen elektrisch aufgeladen. Schweigend liefen sie in der Dunkelheit weiter. Kurz darauf stieg Anna Salzwassergeruch in die Nase. Direkt vor ihnen zog sich eine Rinne durch das Eis und versperrte ihnen den Weg. Sie musste sich gerade erst gebildet haben, denn das Wasser war noch nicht wieder zugefroren. Sie verließen die Reifenspuren und gingen an der Rinne entlang, bis sie eine schmale Stelle fanden, die sie überqueren konnten. Zurück auf der Reifenspur, blieb Anna stehen. Im Licht ihrer Stirnlampe sah sie, dass nur eine dünne Schneeschicht das Reifenmuster bedeckte. Der Pick-up musste ganz in der Nähe sein.
Sie streifte ihren Bogen vom Rücken, spannte die Sehne, ließ sie zurückschnellen und spürte, wie der Bogen in ihrer Hand vibrierte. Im Köcher steckten Pfeile mit Stahlspitzen. Marco hielt Sunzi einen der Nudelbecher vor die Schnauze und flüsterte dem Husky etwas ins Ohr. Der Hund winselte, dann verschlang er die Nudeln mit zwei Bissen und verstummte .
Anna zog die Abdeckplane vom Schlitten und deutete auf die Leuchtpistole. Die einzige Waffe, die Jackie zurückgelassen hatte. »Wenn du schießen musst, warte, bis du nahe genug dran bist.« Marco betrachtete die Pistole bekümmert.
»Jackie ist bis an die Zähne bewaffnet. Warum verfolgen wir ihn überhaupt?«
»Weil ich nicht will, dass dieser Bastard ungeschoren davonkommt. Wenn Jackie seine Auftraggeber davon überzeugt, dass du das Forschungsteam ermordet hast, werden sie dich töten, Marco. Oder dich an China ausliefern, was vermutlich auf dasselbe hinausläuft. Den Anwalt, dem es gelingt, einen Freispruch zu erwirken, wenn sämtliche Beweise Tausende Meter tief auf dem Meeresboden liegen, wirst du dir kaum leisten können.«
»Weise Worte, ich bin kein reicher Mann«, erwiderte Marco lakonisch. Dann nahm er die Leuchtpistole vom Schlitten und kontrollierte, dass die einzige Patrone in der Kammer steckte.
»Aber wir haben einen kleinen Vorteil. Jackie glaubt, dass wir in der Werkstatt ertrunken sind. Deshalb ist er so schnell abgehauen. Er muss garantiert zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort sein, wo er abgeholt wird.«
Anna band Sunzis Leine an einem Eisbrocken fest. Der Husky winselte unglücklich, aber sie konnte nicht riskieren, ihn weiter mitzunehmen. Sie streichelte ihm über das Fell, beugte sich zu dem breiten Hundekopf hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Du musst hier warten, aber wir kommen zurück und holen dich, Sunzi.« Der Husky leckte ihr über das Gesicht, dann stand Anna auf und folgte Marco weiter in Richtung Pick-up.
Der senkrecht herabfallende Schnee dämpfte alle Geräusche. Anna hatte das Gefühl, durch ein Land zu wandern, in dem die Lautstärke halbiert worden war. Die Erschöpfung zehrte an ihrem zerschundenen Körper, und sie konzentrierte ihre Gedanken auf Zakariassen. An der Stelle, wo Jackie auf ihn geschossen hatte, war kein Blut gewesen. Also war der Narr noch am Leben. Sie versuchte, Energie zu gewinnen, indem sie sich in eine Wut gegen ihn hineinsteigerte, aber es gelang ihr nicht. Der alte Professor war hinters Licht geführt worden. Er hatte es nur gut gemeint, hatte geglaubt, für den Weltfrieden einzutreten. Anna musste an den einzigen ernsthaften Streit denken, den sie mit ihm gehabt hatte.
Zakariassen hatte ihr erzählt, dass die staatliche Ölgesellschaft Equinor einer der Hauptsponsoren der Fram-X-Expedition war.
»Ich dachte, wir sollen den Nordpol retten, nicht ihn zerstören«, hatte sie erwidert, erhitzt von dem Gläschen Aquavit, das Zakariassen ihnen zur Feier des ersten Wochenendes auf dem Eis eingeschenkt hatte.
»Ja, aber was macht das schon für einen Unterschied?«, entgegnete der Professor. »Wenn es uns … Wenn es Norwegen nicht gelingt, am Nordpol Öl zu entdecken, dann wird es irgendjemand anderes tun. Die Russen, die Kanadier oder auch die Dänen. Als Rache dafür, dass wir ihnen das Öl im Kattegat gestohlen haben.«
»Du bist Wissenschaftler, solltest du die Natur nicht schützen?«, provozierte sie ihn. In dem Moment hatte sie Lust gehabt, einen Streit vom Zaun zu brechen. Eine Diskussion, die sie aus ihrer Benommenheit riss und ihr das Gefühl gab, am Leben zu sein.
»Das Ziel der Fram-X-Expedition ist es, die Veränderungen am Nordpol zu erforschen. Wir können nicht verhindern, dass das Eis schmilzt. Niemand kann das.« Der Professor blickte verdrießlich drein. »Auf der Erde gibt es sieben Milliarden Menschen, die Energie benötigen. Wir Wissenschaftler müssen einen Beitrag leisten. Als erwachsene Menschen müssen wir in der Lage sein, zwei Gedanken gleichzeitig auszuhalten.« Der alte Mann blickte auf das pechschwarze Eis vor dem Fenster hinaus und nickte langsam, als wolle er sich sein eigenes Fazit bestätigen. »Dass der Nordpol schmilzt, ist höchst bedauerlich, aber gleichzeitig eröffnet es auch viele neue Möglichkeiten. Die Seewege verkürzen sich. Ein Frachtschiff benötigt nur noch ein Drittel der Zeit, um von Ostasien einen europäischen Hafen zu erreichen, da es nicht mehr die klassische Route durch den Suezkanal nehmen oder das Horn von Afrika umrunden muss. Die Schifffahrt ist ein größerer Luftverschmutzer als der Autoverkehr.«
»Glaubst du, die Eisbären sind fähig, zwei Gedanken gleichzeitig auszuhalten?«, widersprach Anna. »Meine Jungen verhungern, aber das ist in Ordnung … weil es dem Rest der Welt nützt?«
»Auch viele Menschen verhungern, und zwar deutlich mehr, als es Eisbären auf der Welt gibt. Und auch dagegen kann ich nichts tun. «
Sie hatten sich ein hitziges Wortgefecht geliefert, bis Zakariassen sich schließlich demonstrativ vor die Computer gesetzt hatte, um deutlich zu machen, dass die Diskussion beendet war. Aber die Wut, die in ihr gebrodelt hatte, hatte ihr gutgetan. Für eine Weile. Bis sie nicht mehr länger gegen den Schlaf hatte ankämpfen können. Bis die Albträume zurückgekehrt waren.
Anna blieb unvermittelt stehen. Im ersten Moment wusste sie nicht, weshalb. Dann sah sie, dass Marco ein paar Meter vor ihr mit erhobenem Arm verharrte.
»Da«, flüsterte er.
Ein rotes Licht schimmerte durch das Schneegestöber.