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Mit einem Pfeil auf der Bogensehne ging Anna auf das rote Licht zu.
Ein plötzlicher Windstoß wirbelte den Schnee zur Seite und enthüllte den Pick-up. Der rote Truck steckte mit der Motorhaube voran im Eis. Das Bremslicht flackerte. Die Ladefläche ragte nach oben. Anna bedeutete Marco, stehen zu bleiben, und rannte zum Wagen, den Bogen schussbereit angelegt.
Der Truck war in eine Rinne gefahren. Wasser und Eis schwappten über den Kühler. Ohne den Griff um den Pfeil zu lockern, drehte Anna sich um. Sie versuchte, durch Dunkelheit und Schneefall etwas zu erkennen, aber weder Jackie noch Zakariassen waren zu sehen.
Ein knirschendes Geräusch. Metall, das über Schnee und Eis schabte. Der Pick-up kippte tiefer in die Rinne. An den Stellen, an denen es die Scheinwerfer unter der Wasseroberfläche anstrahlten, schimmerte das Eis blaugrün. Jetzt konnte sie einen Kopf hinter der Windschutzscheibe ausmachen. Eine spitze Nase. Graues Haar. Zakariassen saß auf dem Fahrersitz des Pick-ups.
Anna winkte Marco zu und deutete auf die andere Seite der Fahrerkabine. Der Chinese hob die Leuchtpistole vor die Brust und näherte sich. Während sie sich weiter heranpirschte, wanderte Annas Blick vom Truck auf das Eis vor ihren Füßen. Unter dem Neuschnee konnten sich weitere Spalten und Risse verbergen. Einen Meter vom Pick-up entfernt blieb sie stehen.
»Siehst du was?«, rief sie Marco zu, der jetzt auf der anderen Wagenseite stand. Er drückte die Pistole ans Fenster und presste die Stirn an die Scheibe.
»Nur den Professor.«
Zakariassens Kopf lag auf dem Lenkrad. Wasser schwappte um ihn herum.
»Daniel, kannst du mich hören?«, rief Anna, doch der alte Mann reagierte nicht. Anna streckte sich nach vorn, kam von ihrer Position auf dem Eis aber nur an die Hintertür des Trucks. »Marco, halt du Wache. Ich muss ihn da rausholen.«
Sie warf ihren Bogen in den Schnee und zog an der Tür. Sie war verschlossen.
»Daniel … Daniel! Hörst du mich? Du musst aufwachen!« Anna hämmerte mit der Hand gegen das Fenster, da entdeckte sie zwei kleine Löcher in der Frontscheibe. Einschusslöcher.
Plötzlich bewegte Zakariassen den Kopf.
»Daniel, ich bin es … Anna! Ich hol dich da raus!«, rief sie und schlug weiter gegen die Scheibe, um Zakariassen auf sich aufmerksam zu machen. Der Professor trug zwar seinen Überlebensanzug, aber sobald er sich mit Wasser vollsog, würde Zakariassen durch Unterkühlung das Bewusstsein verlieren. »Ich hol dich da raus, Daniel, aber du musst mir helfen … Du musst auf die Rückbank klettern, damit ich dich rausziehen kann.« Während sie ve rsuchte, zu Zakariassen durchzudringen, schweifte ihr Blick über die dunkle Landschaft. Falls Jackie sie sah, würde er sich bald zeigen.
Der Professor drehte ihr seinen Oberkörper zu. Er hatte seine Brille verloren und blinzelte verwirrt. Sein Gesicht war kreidebleich, fast so weiß wie der Schnee. Er hustete. »Bist du es, Anna? … Bist du es wirklich?«
»Ja, ich bin es, Daniel. Aber jetzt musst du mir helfen. Klettere auf den Rücksitz und mach die Tür von innen auf, damit ich dich rausholen kann. Glaubst du, du schaffst das?«
»Anna, es tut mir alles so leid … Ich habe einen furchtbaren Schlamassel angerichtet … Aber ich habe versucht, Jackie aufzuhalten. Ich habe versucht, ihm den Pick-up zu entwenden, um zurückzufahren und dich zu retten, Anna … Ich habe es wirklich versucht.« Der Professor machte keine Anstalten, sich zu bewegen.
»Bist du verletzt, Daniel?«, schrie Anna, um sicherzugehen, dass er sie hörte.
»Sag deinem Vater … Sag Johannes, dass ich nichts Unrechtes tun wollte.« Zakariassens Stimme klang fern und gedämpft durch das Fenster. »Ich wollte nur helfen.«
»Das kannst du ihm selbst sagen, Daniel. Du musst jetzt nach hinten klettern.« Ein Knirschen erklang, der Pick-up schaukelte und rutschte nach vorn. Anna ließ den Türgriff los und wich zurück, um nicht mitgezogen zu werden. Die riesigen Hinterreifen des Trucks blieben am Eis hängen. Die Fahrerkabine lag jetzt komplett im Wasser, sie konnte die Türen unmöglich erreichen.
Ohne nachzudenken, kletterte Anna auf die Felge, bekam die Kante der Ladefläche zu fassen und zog sich hoch. Sie kroch nach vorn und hämmerte gegen das Rückfenster der Fahrerkabine.
Zakariassen saß unverändert hinter dem Lenkrad. Das Wasser, das durch die Einschusslöcher ins Wageninnere sprudelte, reichte ihm bereits bis zur Brust. Anna schlug mit der Faust gegen die Scheibe, aber sie gab nicht nach. Sie hob einen Fuß und versuchte, das Fenster einzutreten. Ohne Erfolg. Sie trat ein zweites Mal zu. Der Pick-up schaukelte, aber die Scheibe hielt.
»Scheiße!«
Sie trat mit beiden Füßen gegen das Fenster. Als ihre Stiefel auf das Glas trafen, spürte sie, wie die Scheibe sprang. Anna fiel mit dem Rücken auf die Ladefläche. Rasch richtete sie sich wieder auf. Die Scheibe war zerbrochen, doch die Verbundfolie hielt die Glasscherben weiter zusammen.
»Daniel, ich komme!«, rief sie.
Verzweifelt trat sie gegen das Glas. Die Dichtung, die die Scheibe an Ort und Stelle hielt, gab nach, das Fenster löste sich aus dem Rahmen und fiel in die Fahrerkabine.
Anna fegte die Glasscherben zur Seite, die auf der Einfassung lagen, und streckte Zakariassen die Arme entgegen. Intensiver Salzwassergeruch stieg ihr in die Nase.
»Daniel, hörst du mich? Dreh dich um und klettere zu mir auf die Rückbank.« Als sie sich tiefer ins Wageninnere beugte, neigte sich der Pick-up noch weiter nach vorn. Endlich reagierte Zakariassen. Langsam drehte er sich um .
»Kann ich dich um einen Gefallen bitten, Anna?«, sagte er kaum hörbar.
»Alles, was du willst, Daniel. Gib mir nur deine Hand, bitte.«
»Ich bin nicht an den Nordpol gekommen, um die Eisschmelze zu erforschen oder um Öl oder Mineralien zu finden. Vor Millionen Jahren ist hier ein Meteorit eingeschlagen, den wollte ich finden … Deshalb ist es so leicht, hier auf Mineralien zu stoßen. Der Meteoriteneinschlag hat die geologische Schichtung umgekehrt. Wenn ich ihn gefunden hätte, hätte ich ihn nach Solveig benannt, das hätte ihr gefallen.«
Der alte Mann hustete heftig.
»Eine dumme Idee, die kann ich mir jetzt abschminken.«
»Nein, Daniel. Wir werden deinen Meteoriten finden … Du musst nur nach meiner Hand greifen, dann zieh ich dich raus.« Aber Zakariassen rührte sich nicht.
Er hustete wieder und hob die Stimme. »Solveigs Schwester lebt in London, in Hampstead … Da gibt es einen wunderschönen Park, in dem wir immer spazieren gegangen sind. Die haben dort eine wundervolle Tradition … Du kannst eine Bank für den Park kaufen, die dann ein Schild mit deinem Namen bekommt. Kannst du das für mich tun, Anna? Kannst du in dem Park in Hampstead eine Bank aufstellen lassen – als Erinnerung an Solveig und mich?«
»Das kannst du schön selbst machen. Nimm einfach meine Hand, und in einer Sekunde hab ich dich aus dem Truck gezogen!« Anna streckte sich weiter vor, aber durch die Gewichtsverlagerung glitt der Pick-up noch tiefer in die Rinne. Sie lehnte sich zurück, um die Vorwärtsbewegung zu stoppen, rutschte dabei aber auf der Ladefläche aus und fiel hin.
Der Wagen schaukelte. Die Hinterreifen verloren den Halt, und der Pick-up kippte über die Eiskante.
Anna sprang wieder auf die Beine.
»Daniel! Nimm um Gottes willen meine Hand!«
Das Wasser reichte Zakariassen mittlerweile bis zum Kopf. Er rührte sich nicht. Seine Augen waren geschlossen, als schliefe er.
»Daniel, wach auf!«
Die grauen Haare des Professors verschwanden unter der Wasseroberfläche. Die Ladefläche des Pick-ups neigte sich senkrecht nach oben. Anna verlor das Gleichgewicht, warf sich blindlings zur Seite und fiel aufs Eis. Wie eine Robbe aus Metall tauchte der Truck in die Tiefe. Wasser spritzte über Anna hinweg. Der Truck kam wieder an die Oberfläche und schaukelte auf den wogenden Wellen. Für einen kurzen Moment sah sie Zakariassens Kopf, bevor er erneut unter Wasser sank.
»Daniel!« Anna schrie und schrie, doch der Professor blieb verschwunden. Das Einzige, was sie sah, war ein grüner Turnschuh, der zwischen den aufsteigenden Luftblasen im Wasser schwamm.