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Anna blieb auf dem Eis sitzen und starrte auf die Rinne, bis die letzte Luftblase geplatzt war. Marco stand schweigend ein paar Meter von ihr entfernt. Als die Wasseroberfläche wieder ruhig dalag, erhob sie sich langsam und blickte sich um.
Die tiefen Spuren der Monsterreifen verliefen durch den Schnee zum Rand der Rinne. Ölflecken auf dem Eis zeigten, wo der Unterboden des Trucks über das Eis geschleift war. Anna hob ihren Bogen auf und ging im Licht ihrer Stirnlampe in immer größeren Kreisen um die Reifenspuren herum. Marco wartete, während sie den Boden ableuchtete. Schließlich fand sie, wonach sie suchte.
Stiefelabdrücke. Wortlos folgte sie der Fährte. Marco zögerte, doch dann lief er ihr nach. Sie kamen in ein Gebiet, in dem die Meeresströmung zerklüftete Eishügel emporgedrückt hatte. Jackies Fußspuren wurden deutlicher. Er musste erst vor Kurzem hier entlanggelaufen sein.
Ihre Verfolgungsjagd führte sie zwischen zwei große aneinandergelehnte Eisbrocken. Anna blieb vor dem natürlichen Tunnel stehen und horchte, bis sie ganz sicher war, dass Jackie sich nicht darin verbarg. Sie knipste ihre Stirnlampe aus und ging in den Korridor hinein. Das Geräusch ihrer Schritte hallte vom Eis wider. Der Gang wurde schmaler, und Marco musste hinter ihr bleiben. Das Ende des Tunnels öffnete den Blick auf eine dunkle Eislandschaft, doch irgendetwas ließ sie unwillkürlich innehalten.
Ein Geräusch.
Ein Piepen, als würde ein Funkgerät zwischen zwei Frequenzen hin und her springen. Anna legte einen Pfeil an und vergewisserte sich, dass Marco die Leuchtpistole in der Hand hielt, bevor sie sich weiter heranpirschte.
Im Schneegestöber vor dem Tunnel flackerte ein Licht. Der Schein fiel auf Jackies Gesicht. Der Chinese stand draußen auf dem Eis, das Licht kam von einem Gegenstand, den er in der Hand hielt. Es schien tatsächlich ein Funkgerät zu sein. Eine kurze, dicke Antenne ragte in die Luft. Jackie trug eine Eisdrachen-Jacke. Wäre die Kalaschnikow nicht gewesen, die neben ihm im Schnee lag, hätte man ihn für einen verirrten Touristen halten können.
Anna hob langsam ihren Bogen, spannte die Sehne, atmete ruhig und zielte auf eine Stelle unterhalb von Jackies erleuchtetem Gesicht. Auf seine Brust. Der Chinese stand zwanzig Meter von ihr entfernt, und das Schneegestöber erschwerte die Sicht. Plötzlich ertönte ein Grollen, als würde ein Schlagzeuger auf riesigen Becken einen rasanten Trommelwirbel vollführen. Jackie drehte sich genau in dem Moment zu Anna um, als ihre Fingerspitzen die Bogensehne losließen. Der Pfeil verfehlte sein Ziel und verschwand in der Finsternis. Jackie ließ sein Funkgerät fallen und griff nach der Kalaschnikow .
Anna warf sich rückwärts in den Tunnel und riss Marco mit sich zu Boden. Ohne den Lichtschein des Funkgeräts konnte sie Jackie in der Dunkelheit kaum erkennen. Das Geräusch wurde lauter. Ein Hubschrauber näherte sich.
Dann wurde das Dröhnen der Rotoren für den kurzen Moment von Maschinengewehrsalven übertönt, den Jackie benötigte, bis er das Magazin leer geschossen hatte. Kalte Splitter rieselten auf Annas Gesicht, als die Kugeln das Eis über ihr zerfetzten. Das Blitzen des Mündungsfeuers glühte auf ihrer Netzhaut nach.
In derselben Sekunde, in der das Maschinengewehr erstarb, war Anna wieder auf den Beinen. Im Laufen zog sie einen neuen Pfeil aus dem Köcher auf ihrem Rücken und legte ihn an. Mit erhobenem Bogen rannte sie auf Jackie zu.
Das Dröhnen des Hubschraubers wurde immer lauter.
Über die vibrierende Pfeilspitze hinweg sah sie, wie Jackie rückwärts über das Eis kroch. Jetzt hatte sie ihn. Anna spannte den Bogen, so weit es ging, und wollte gerade schießen.
Doch urplötzlich wurde alles weiß. Ein gleißendes Licht blendete sie, und der Pfeil rutschte von der Sehne. Schnee wirbelte ihr ins Gesicht, als der Helikopter zur Landung ansetzte. Im Gegenlicht konnte sie unmöglich erkennen, wo Jackie war. Anna drehte sich um und lief zu Marco zurück, der immer noch auf dem Boden lag.
»Wir müssen hier weg!«, schrie sie, riss Marco auf die Beine und zerrte ihn zwischen die Eisblöcke. Stimmen erklangen in ihrem Rücken. Jemand rief ihnen hinterher .
Anna stieß Marco tiefer in den Eistunnel. Sie waren fast am anderen Ende, als mit einem Mal die ganze Umgebung in Licht badete. Marco stolperte und fiel hin. Anna sprang über ihn hinweg und schlitterte aus dem Tunnel. In dem Moment setzte ein zweiter Hubschrauber auf dem Eis auf. Im Licht der Landescheinwerfer sah sie weiße Gestalten, die aus einer geöffneten Seitentür sprangen. Rote Laserstrahlen huschten über den Boden.
Anna wich in den Tunnel zurück, aber die Strahlen folgten ihr. Wie Leuchtkäfer wanderten sie an ihren Beinen hoch und verharrten erst, als sie ihre Brust erreicht hatten.