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Sie verließen die Sabvabaa
.
Anna blieb in der Luke des Luftkissenbootes stehen und betrachtete die zerstörte Basis. In nur wenigen Jahrzehnten würde der letzte Eisberg im Wellengang des Arktischen Ozeans zerfallen. Er würde gegen den Bug eines Schiffes geschleudert und am Rumpf entlang in die Gischt einer wirbelnden Schiffsschraube hineingesogen werden, die die Eisklumpen zermahlte. Die Überreste des letzten Eisbergs würden sich im Kielwasser eines mit neuartigen Computern und Smartphones voll beladenen Containerfrachters auflösen, die aus Mineralien produziert worden waren, die man vom Meeresboden heraufgeholt hatte.
Anna strich über das verbeulte Metall der Sabvabaa
, spürte die Schrauben unter der Lackierung, die englische Ingenieure vor vielen Jahren gründlich festgebohrt hatten. Marco wartete unten auf dem Eis mit einem angeschirrten ungeduldigen Sunzi. Sie hatten den Schlitten des Kommandanten auf dem Wasser treibend in einer der Rinnen entdeckt und ihn nur mit den notwendigsten Dingen beladen. Konservendosen. Gefriergetrockneten Mahlzeiten. Einem Zelt. Wechselkleidung. Einem Satellitentelefon. Eispickel. Seilen und Erste-Hilfe-Ausrüstung.
Zum Schluss hatte Anna noch eine Leuchtpistole von der Sabvabaa
eingepackt.
Sie hatte Marco überredet, in die halb versunkene Kantine zu gehen und das Scharfschützengewehr zu holen, das Robert dort zurückgelassen hatte. Sie konnten sich nicht unbewaffnet aufs Eis hinausbegeben. Marco hatte den Kolben erst aus dem gefrorenen Wasser hacken müssen, um das Gewehr mitnehmen zu können. Jetzt legte er es ganz nach oben auf ihr Gepäck und spannte die Abdeckplane über den Schlitten.
Anna warf einen letzten Blick in die Kabine der Sabvabaa
. Der Notfunksender, über den Daniel Zakariassen mit der CIA kommuniziert hatte, lag zertrümmert auf dem Boden. Die programmierten Nachrichten waren mit Sicherheit Codes gewesen. NEED SPARE PARTS: Die Chinesen fördern Mineralien vom Meeresboden
. NEED MEDICAL ASSISTANCE: Schickt Soldaten!
Irgendetwas in dem Gerät summte.
Den Sender zu zerstören war kindisch gewesen, aber befreiend. Das Verschlüsselungsgerät zu zerschmettern war ein Weg gewesen, John Odegard zu bestrafen. Anna hasste es, dass sie den Mann mochte. Hasste es, dass er es gewesen war, der ihr dabei geholfen hatte, Yann zu finden. Hasste es, dass die Millionen der CIA sie ins Eis geführt hatten.
Du lügst, du hasst niemanden außer dir selbst
.
Der Gedanke knisterte, schmerzte im Kopf.
Anna sprang zu Marco aufs Eis hinunter. In der Hand hielt sie den einzigen persönlichen Gegenstand, den sie nicht zurücklassen wollte. Den Samowar. Sie verstaute
den Teekocher auf dem Schlitten, Sunzi legte sich ins Geschirr, und sie setzten sich in Bewegung. Außer dem Knirschen des Schnees unter ihren Stiefeln war kein Laut zu hören.
Kein Wind.
Keine krachend aufeinanderprallenden Eisschollen.
Keine donnernden Geburtswehen des Nordpols, der Eis an die Oberfläche presste.
Kein menschliches Geräusch.
Keine Motoren.
Die Generatorenhütte lag halb versunken in der teilweise zugefrorenen Rinne, die die Werkstatt und um ein Haar auch Marco und sie verschluckt hatte. Ein einsamer Vogel rief in der Ferne. An der Stelle, wo die große Halle gestanden hatte, hatte sich eine zähe Eismasse auf der Wasseroberfläche gebildet. Von Marcos Turm waren nur noch einige verbogene und verrußte Eisenstreben übrig. Die Garage war unversehrt. Ein paar hundert Meter von der Basis entfernt fanden sie ein Stück des Drachenbanners im Schnee. Ein blaues Auge blickte starr in die Ewigkeit. Marco faltete den Stofffetzen vorsichtig zusammen und steckte ihn in die Tasche. Eine letzte Erinnerung.
Anna drehte sich um. Das Licht ihrer Stirnlampe reichte gerade bis zur Sabvabaa
. Ein metallener Käfer in der Eiswüste. Die großen Frontscheiben bildeten die Augen. Die Propellerabdeckung: angelegte Flügel, zum Ausbreiten bereit. Die schlaffe Gummischürze: Beine. Würde dieser hohle Metallkörper je wieder mit Menschen und Leben gefüllt werden? Würde die Sabvabaa
noch einmal dem Namen, den sie von den Inuit bekommen
hatte, Ehre erweisen und sanft fließen
? Das Letzte, was sie von dem Luftkissenboot sah, war das grüne Positionslicht, das schwach in der Polarnacht leuchtete.
Weder Anna noch Marco bemerkten die Gestalt, die die Generatorenhütte verließ und lautlos über den Platz auf die Garage zulief.