Lieber Martin,
ich habe in der letzten Zeit wieder einmal Deine Briefe der letzten Jahre durchgelesen und dann meine Reaktionen darauf, und es fiel mir auf, wie sehr ich das, was Du mir vorwirfst, ablehne und abwehre, aus Angst, Du könntest recht haben. Dabei hast Du recht. Wie auch immer ein Mensch seine Mutter erlebt und empfindet – sie hat ihm Gründe gegeben. Ich wollte es lange nicht wahrhaben, dass dieser Satz auch für unsere Beziehung zutrifft, versuchte meine Schuld auf Deinen Vater abzuschieben, aber es geht nicht. Du hast nicht nur in Deiner Kindheit und Jugend wegen mir gelitten, sondern bist, wie Du sagst, an den letzten Rand der Verzweiflung getrieben worden durch die Therapie bei E. und die Manipulationen des Gurus. Und ich kann es doch nicht bestreiten, dass ich höchstpersönlich Dich in dieses Elend gebracht habe. Dass ich Gutes wollte, ändert nichts an den Fakten, dass es ein Gift war. Ich habe es lange nicht voll zulassen können, weil es so ungeheuerlich ist; es ist so schrecklich, dass ich die daraus entstandenen Gefahren nicht im Geringsten ahnte.
Du hast mir in Zürich im Auto erzählt, in welchen Zustand Du in München (Ort der Therapie, MM) gekommen bist, und ich bin so daran erschrocken, dass ich den Schreck vermutlich abwehren musste. Ich wollte meine Schuld nicht anerkennen, weil sie so groß war. In den darauffolgenden Wochen hatte ich den Eindruck, Du seist für mich nicht erreichbar, und habe darum Euren Besuch gescheut, dabei habe ich mich unerreichbar gemacht. Jetzt sehe ich es viel klarer. Ich habe Deine Vorwürfe gefürchtet, weil ich Angst hatte vor dem Gewicht der Schuld Dir gegenüber, die ich mir nicht eingestehen wollte. Nun muss ich es tun. Solange wollte ich es nicht wahrhaben, dass ich für Dich offensichtlich diese Mutter war, die Du mir schilderst. Ich habe Deine Schilderungen als Lügen bezeichnet oder sie belächelt, habe versucht, Deine Wahrnehmungen umzubiegen, um besser dazustehen. Aber es gibt kein Mittel, um das Geschehene ungeschehen zu machen. Alles, was Du mit mir erlebt hast, gehört zu Deiner Wahrheit, und ich habe kein Recht, darin etwas zu korrigieren, nur weil das Bild, das Du von mir hast, für mich so schwer zu ertragen ist: eine verfolgende, besitzergreifende, hasserfüllte, gefährliche, destruktive Mutter – das alles wollte ich nicht sein. Also habe ich mich verteidigt. Doch meine Briefe, die Du mir vorlegst, in denen du mir die Verletzungen aufzeigst, zeigen nur die Fakten. Es sind Angriffe auf Deine Integrität. Ich kann dies nicht länger bestreiten.
Bevor ich sterbe, wollte ich es Dir sagen. Wenn ich eine einigermaßen gute Mutter für Dich gewesen wäre, hättest Du niemals ein so schlechtes Bild von mir. Also war ich so, wie Du mich siehst. Das ist ganz logisch für mich. Ich kann diese Wahrheit nicht länger abschütteln oder umgehen. Ich will meinem Sohn nicht länger ausweichen, weil ich ihn nun nicht mehr fürchte. Er hat mir nur die Wahrheit gesagt, die ich nicht hören wollte. Doch ich will ihr nicht länger entfliehen.
Ich habe Dich so oft in der Kindheit im Stich gelassen, anderen Leuten überlassen, Deine Bedürfnisse, Ängste und Verzweiflung nicht richtig verstanden, und statt mich in Dich einzufühlen, Dich zur Tante Alice geschickt. Statt Dich zu verstehen, weil ich es nicht konnte, habe ich Dich in die Therapie getrieben, die nicht nur nichts nützte, sondern lebensgefährlich für Dich war. Das hätte ich eigentlich noch begreifen müssen, als ich das Foto bei euch sah, Dein Gewicht und das Gesicht voller Verzweiflung. Statt mich damit endlich zu konfrontieren, habe ich Dir am Telefon 2 Wochen später zu sagen versucht, Dir ginge es jetzt besser als je zuvor. Ja, aber trotz dieser Therapie, nicht wegen ihr. Die einzelnen Schritte der Heilung aus der Bulimie, der Beziehungslosigkeit und der Blindheit Deiner Mutter gegenüber, hast Du nur Dir selber zu verdanken.
Auch mein Brief an Manuela (meine Lebensgefährtin, MM) war von der Angst und Abwehr getragen. Ich war noch nicht reif für eine Begegnung, weil ich das, was Du mir in Zürich über München sagtest, und die Aussage des Fotos, nicht so schnell verarbeiten konnte, auch noch gar nicht zulassen konnte, dass Du im Recht warst. Es ist eine große Kränkung, wenn man vom eigenen Kind erfährt, wie herzlos, blind und dumm man mit ihm umging. Man will es vergessen und verziehen haben. Aber woher soll ein Kind Barmherzigkeit üben mit Menschen, die ihm lebensgefährlich geschadet haben und ihn noch zum Vergessen zwingen wollen?
Ich habe mich in viele Menschen einfühlen können, nur in meinen Sohn konnte ich es nicht. Als er mir das sagte, habe ich es bestritten. Ich? Gibt es nicht Beweise, dass andere sich von mir verstanden fühlten? Und das sollte mir da nicht möglich sein, wo es mir so darum ging? Wo ich mich so darum bemühte? Ja, genauso war es. Gerade bei ihm fehlte mir die Empathie. Nicht ohne Gründe. Hätte ich mich in seine Lage einfühlen können, dann hätte ich mich so erkennen müssen, wie ich zu ihm war: ahnungslos, kalt, hart, kritisierend, korrigierend, erzieherisch und nie wirklich so, wie ich hätte sein wollen, wie ich es mir einbildete zu sein. Dieses falsche Wunschbild von mir habe ich ihm noch aufgezwungen und damit seine Wahrnehmungen verwirrt. Als er sich nicht länger verwirren ließ, musste ich endlich in den Spiegel schauen. Ich musste sehen, dass ich mit meinem ersten Kind fast genauso war wie meine Mutter mit mir. Trotz meiner Ausbildung ist es mir nicht gelungen, diesem Schicksal zu entgehen. Nun will ich es zumindest nicht länger leugnen. Am ersten Schultag habe ich ihn nicht in die Schule begleitet und mir nichts dabei gedacht. Es kam mir nicht in den Sinn, auf die Au zu fahren. Wie war das möglich? Ich weiß es nicht. Erst als er mir sagte, was dieses für ihn bedeutete, fing ich an zu begreifen. Doch ich fuhr fort, mir und ihm die Wahrheit ausreden zu wollen, um nicht zu leiden, um nicht den Vergleich mit meiner Mutter aushalten zu müssen. Nun gib es kein Entrinnen. Ich bin jetzt auch alt genug, um die Wahrheit auszuhalten und nicht länger davonzulaufen. Wohin? Wozu? Ein verpfuschtes Leben lässt sich nicht mit Lügen aufpolieren. Eine verlorene Mutterschaft auch nicht.«
Beim Schreiben dieses Buches nahm ich auch Kontakt mit einer ehemaligen Freundin meiner Mutter, der Therapeutin Barbara Rogers, auf. Sie lebt heute in Mexiko und arbeitete etwa zwischen 1999 und 2007 eng mit meiner Mutter zusammen, war ihr auch eine therapeutische Begleiterin – wenn auch nur telefonisch. Doch auch zu ihr brach meine Mutter den Kontakt nach einem Konflikt ab. Als ich Frau Rogers fragte, ob meine Mutter im Zusammenhang mit der Stettbacher-Krise je von mir gesprochen hätte, reagierte sie sehr erstaunt: »Ihre Mutter hat Sie nie erwähnt. Jetzt, wenn Sie mich fragen, fällt mir auf, dass Ihre Mutter Sie totgeschwiegen hat. Eigentlich existierten Sie überhaupt nicht. Und wenn überhaupt, sprach sie sehr schlecht von Ihnen. Grundsätzlich verweigerte Ihre Mutter jedes Gespräch über ihre Erfahrungen mit Stettbacher. Ich wagte dann nicht mehr, näher auf die Hintergründe dieser Geschichte einzugehen.«
Barbara Rogers war kein Einzelfall. Nach dem Tode meiner Mutter musste ich nach diversen Gesprächen zur Kenntnis nehmen, dass meine Mutter mich gegenüber anderen Personen nach diesem peinlichen und beschämenden Vorfall komplett verleugnet hatte. In ihrem öffentlichen Diskurs existierte ich nicht mehr.
Es ist schwer in Worte zu fassen, wie sehr mich dieser Sachverhalt, den Frau Rogers auf den Punkt bringt, irritiert hat. Auch ihr scheinbar gut gemeinter Brief vom Mai 1998 verlor im Grunde seinen Wert. Ich fühlte mich belogen. Was sollte dieses doppelte Kommunikationsverhalten: Mir gegenüber ein Schuldeingeständnis und gegenüber ihrer therapeutischen Freundin Schweigen oder Beschimpfung?
Zuerst konnte ich mir auf dieses widersprüchliche Verhalten meiner Mutter gar keinen Reim machen, aber in den vergangenen Monaten, parallel zu meinen Recherchen, habe ich eine Theorie entwickelt, die mir plausibel zu sein scheint: Am Anfang des Dramas rund um Stettbacher stand die Enttäuschung meiner Mutter darüber, dass ich ihren Erwartungen nicht entsprechen wollte. Ich wollte ja zunächst keine Therapie bei ihrem Guru machen, was sie als unglaubliche Katastrophe erlebte. Sie hatte einen Ausbruch ohnegleichen. Damals fand ich sie schlicht hysterisch, heute vermute ich, dass mein Nein bei meiner Mutter verdrängte Gefühle getriggert haben muss, die in den Kontext des nie verarbeiteten Kriegstraumas gehören. Ich wurde das Opfer einer Projektion, gegen die ich mich nicht wehren konnte.
Ihre Empfehlung, eine Therapie bei Stettbacher zu machen, besser: die Motive, die zu dieser Verhaltensweise geführt hatten, waren mir damals und bis vor Kurzem nicht klar. Ich erinnere mich gut daran, dass ich mich von meiner Mutter in diesem Zusammenhang überhaupt nie wahrgenommen fühlte. Es war, als ob sie mit einer anderen Person sprechen würde. Mir fiel nur immer wieder auf, mit welcher emotionalen Inbrunst sie mir diesen Schritt nahelegte – als ginge es um Leben und Tod – und wie zutiefst verletzt sie war, als ich ihre »Hilfe« ablehnte und meine Haltung klar begründete. Je mehr ich mich weigerte, desto aggressiver wurde meine Mutter.
Heute denke ich: Es ging für sie wirklich um Leben und Tod, und sie sprach tatsächlich mit einer anderen Person – mit ihrem Vater. Ich sehe also heute in dieser Geschichte nicht nur einen moralisch abstoßenden und verletzenden Übergriff seitens meiner Mutter, sondern kann dank meines erweiterten Verständnisses über Kriegstraumata in ihrem Verhalten auch ein Aufbrechen von emotionalen, traumatischen Erfahrungen während des Krieges erkennen. Im Sinne einer Intrusion, einer emotionalen Überschwemmung, verlor meine Mutter den Bezug zur Realität.
Worum ging es eigentlich? Heute weiß ich, dass der Vater meiner Mutter im Getto von Piotrków gestorben ist. Mein Großvater Meylech konnte wegen seiner kränklichen Konstitution, aber vor allem wegen seines traditionellen jüdischen Aussehens und seiner schlechten Polnischkenntnisse nicht gerettet werden. Er starb im Getto, weil er sich nicht verstellen konnte und wollte. Man kann auch sagen: Er gab seine jüdische Identität nicht auf, auch nicht, um zu überleben. Ich vermute heute, dass meine Mutter zu ihrem Vater eine viel engere und intensivere Beziehung hatte, als sie das je zugeben konnte. Dass sie ihn nicht retten konnte, muss ihr schwere Schuldgefühle bereitet haben. Dazu würde auch – als Rückseite der Medaille – passen, dass sie gelegentlich äußerte, sie bereue die Rettung von Schwester und Mutter. Weiter frage ich mich, was es für sie bedeutet haben mag, dass ihr eigenes Überleben nur durch Verrat ihrer jüdischen Identität möglich war, wohingegen ihr Vater sterben musste, weil er seiner Identität treu blieb. Ich denke, dass diese Gefühle der Scham, der Schuld und der Wut, dass sie ihrem Vater gegenüber »versagt« hatte, mir gegenüber aufkamen und sie deswegen so hasserfüllt auf mich losging, als ich mich von ihr nicht »retten lassen« wollte. Wollte sie – unbewusst – an mir etwas gutmachen, was ihr beim Vater nicht gelungen war? Jedenfalls erntete ich mit meiner Weigerung ihren Hass.
Als ich dann Jahre später, nach diesem unsäglichen Albtraum, Stettbachers System durchschaut und meine Mutter mit seinem betrügerischen Verhalten konfrontiert hatte, triggerte ich eine andere Kriegserfahrung und wurde Opfer einer weiteren Projektion: Die größte Angst meiner Mutter während des Krieges bestand darin, entdeckt, enttarnt zu werden. Genau in diese emotionale Befindlichkeit traf ich, als ich sie mit der Wahrheit über Stettbacher konfrontierte: Ich enttarnte sie. Ich deckte ein Geheimnis auf. Ich zerstörte die Geschichte, einen Teil ihrer Geschichte als erfolgreiche Kindheitsforscherin. Die alte Angst kehrte zurück, und ich wurde – ich wusste es natürlich nicht – ein Verfolger.
Es ist interessant, wie meine Mutter reagierte, als ich sie 1994 mit der Wahrheit konfrontierte. Es gab, anders als sonst, keinen Ausbruch. Sie blieb vielmehr ruhig und beherrscht. In meiner Aufregung bemerkte ich das nicht. Erst heute in meiner Erinnerung fällt mir dieses Verhalten auf. Die Überlebensmechanismen meiner Mutter wurden wieder aktiviert. Sie musste einen Weg finden, mich als Verfolger abzuschütteln. Der Brief von 1998, so sehe ich es heute, gehört zu ihrer Strategie. Sie stellte mich ruhig und wendete so die größte Gefahr ab. Nach außen begann sie, mich totzuschweigen und die ganze Geschichte um Stettbacher überhaupt zu verdrängen und zu verleugnen.
Die Macht des nie bearbeiteten Kriegstraumas war ungeheuerlich: Ich wurde in ihren Augen der Verfolger und Erpresser, eine Figur aus dem Zweiten Weltkrieg, und meine Mutter vergaß in ihrer Verblendung, dass ich ihr Sohn war.
Warum ich 2009 wieder Kontakt aufnahm, habe ich im II. Kapitel geschildert. Wie gesagt, die Entfremdung konnte auf meiner Seite nicht wirklich überwunden werden. Meine Mutter schrieb mir aber zu meinem 60. Geburtstag, drei Tage vor ihrem bereits beschlossenen Tod, einen sehr freundlichen Brief, aus dem hervorgeht, dass sie ihren Frieden mit mir gemacht habe: »Es ist schade, dass wir erst jetzt freier miteinander reden konnten, aber ich bin sehr froh und dankbar für das, was du mir in den letzten Gesprächen sagen konntest, so offen und so wahr.« Mir fällt es schwer, das stehen zu lassen. Ihre Angriffe gegen mich in den Achtziger- und Neunzigerjahren waren so massiv. Ihre Vergleiche mit meinem Vater, auch das ist mir nach den Recherchen über ihre Kriegserfahrungen viel klarer, haben eine abgründige Dimension, die noch einmal ein anderes Licht auf unser schwieriges Verhältnis wirft. Wenn sie mir vorwarf, ich ähnele ihm immer mehr, habe ich heute im Ohr, dass sie meinen Vater wiederum mit ihrem Erpresser aus der Verfolgungszeit identifizierte. Sie identifizierte mich in ihren Angriffen also mit dem verfolgenden Nazi. Auch wenn sie selbst, in der Verdrängung ihres Kriegsschicksals, diesen direkten Zusammenhang nie herstellte.
Während der Recherchen für dieses Buch lernte ich den Berliner Traumatherapeuten Oliver Schubbe kennen. Er hat meine Mutter im Jahr 2000 in St. Rémy einige Male besucht, um mit ihr therapeutisch zu arbeiten. Meine Mutter entband ihn nach ihrem Ableben von der Schweigepflicht. Auf meine Frage, was sie dazu bewogen hatte, nochmals einen therapeutischen Versuch zu unternehmen, entgegnete Oliver Schubbe: »Deine Mutter nahm mit mir Kontakt auf, weil sie am ganzen Körper immer wieder starke Schmerzen hatte, für die niemand eine körperliche Ursache finden konnte. Sie wollte herausfinden, warum sie diese Schmerzen hatte. Von ihrem Selbstverständnis her war ihr klar, dass sie einen seelischen Hintergrund haben mussten. Für sie war klar: Der Körper vergisst nie, der Körper speichert Erinnerungen, die aufgelöst werden müssen, damit die Schmerzen vergehen können. Sehr bald gestand deine Mutter noch eine andere Absicht dieser Selbstfindung: Sie leide unter großen Schuldgefühlen, da ihre Beziehung zu dir so schwierig und belastend sei. Sie wünschte sich endlich eine authentische und ehrliche, eine lockere und konfliktfreie Beziehung zu dir. Sie schilderte mir die Ängste, die sie habe, wenn sie mit dir in Kontakt komme. Wenn du sie anriefst oder ihr schriebst, träten die Schmerzen seit einiger Zeit überfallartig auf. Einerseits spüre sie dir gegenüber tiefe Schuldgefühle, andererseits auch Wut und akute Angst vor den Schmerzen. Sie fürchtete sich vor jedem Kontakt mit dir und davor, von dir emotional verfolgt und finanziell ausgenutzt zu werden. Die Kontakte mit dir erinnerten sie an deinen Vater und die Nazis. In der therapeutischen Arbeit mit mir wollte sie herausfinden, in welcher Art diese Übertragung dir gegenüber ablaufe.«
Ich fragte erstaunt nach, ob meine Mutter einen Bezug zu ihren Kriegserfahrungen hergestellt habe. Er bejahte dies. Sie habe insbesondere an ihren Warschauer Kriegserinnerungen gearbeitet, die sie 1998 in »Wege des Lebens« in dem Kapitel über Margot und Lilka anonymisiert veröffentlicht habe. Die Zeit dieser Therapie sei auf zwei Wochen begrenzt gewesen, weil die Schmerzen dann zurückgegangen seien. Sie sei aber viel zu kurz gewesen, um den schwerwiegenden Kriegserfahrungen gerecht zu werden.
Ich komme hier noch einmal auf das weiter oben schon erwähnte Buch von Erwin Leiser »Leben nach dem Überleben« zurück. Für mich liegt heute, drei Jahre nach ihrem Tod, nach Jahrzehnten der Ahnungslosigkeit auf der Hand, wie sehr sich das nicht bearbeitete Trauma im Alltagsleben meiner Mutter abbildete. Nicht nur im Kontext der Stettbacher-Geschichte. Ihr Kontrollzwang, einst überlebensnotwendig, ihre nie erlöschende Angst vor Verfolgung, die sich auch im totalen Rückzug in ihre provencalische Festung ausdrückte und nicht zuletzt die Projektion des Verfolgers auf mich geben beredtes Zeugnis. Je mehr sich meine Mutter anstrengte, den quälenden Geistern des Krieges zu entkommen, umso mehr manifestierte sich die Vergangenheit als gelebte Gegenwart. Und in den letzten Jahren ihres Lebens richtete sich diese Vergangenheit immer mehr gegen den eigenen Sohn. Erwin Leiser meint dazu: »Wer seelisch und körperlich mit dem Tod in Berührung gekommen ist, wird von dieser Begegnung gezeichnet. Oft ist ihm nicht bewusst, dass dieses Erlebnis auf spätere Aktionen und Reaktionen, Ängste und Wünsche abfärbt … sie alle haben als Entronnene ähnliche Schwierigkeiten mit einer Welt, in die sie hineinfinden müssen. Der Bruch in der Existenz des Überlebenden, der gleichzeitig in zwei Welten lebt, weil die Vergangenheit auch in seinen gegenwärtigen Alltag eindringt, ist für die Überlebenden des Holocaust typisch … ihre Vergangenheit wirkt sich auch auf das Dasein ihrer Kinder aus.« (S. 21, 22)
Und die Traumatherapeutin Katharina Drexler schreibt in ihrem Aufsatz »Transgenerational weitergegebene Traumata und EMDR – eine Fallvignette« (2005):
»Unbewältigte Traumata können in gravierendem Ausmaß auf die Folgegeneration übertragen werden. Dies wissen wir spätestens seit den Untersuchungen an Kindern und Enkeln Holocaustüberlebender. Diese Übertragung auf die Kinder vollzieht sich durch Introjektion des traumatisierten Elternteils.«