Schlange

DIE GÖTTIN Lebt!

Tye wand sich verzweifelt im Griff des Bodyguards. Sie musste sich befreien, musste zu Ramez, musste härter kämpfen …

Und dann ertönte die Stimme.

»Der Junge taugt nicht als Opfer!« Schrill, hoch und markerschütternd hallte das Kreischen durch die Kammer.

Im Kreis brachen Panik und Verwirrung aus. Priester wichen zurück oder klammerten sich voller Angst aneinander fest. Schreie und Keuchen waren zu hören und Honor sprang auf und drehte sich zu der Statue um, das Messer zum Angriff bereit. Ramez stützte sich auf die Ellbogen und blickte sich erschrocken um.

»Große Göttin?«, fragte Traynor vorsichtig und leise. Er stand stocksteif da. »So hast du dich mir beim letzten Mal nicht gezeigt.«

»Verbeuge dich vor mir!«, kam das gebieterische Kreischen. »Auf die Knie! Alle!«

Und durch dicke, zitternde Finger hindurch grinste Tye ungläubig.

Denn egal wie sehr sie sich verstellte, Cons Stimme war unverkennbar.

Um sie herum fielen die Männer auf die Knie und Tye sackte im Griff des Bodyguards in sich zusammen, als sei sie ohnmächtig geworden. Doch der Bodyguard konnte es kaum bemerkt haben, so sehr beeilte er sich, ebenfalls niederzuknien.

»Senkt den Blick eurer unwürdigen Augen!«, tobte Con in bester Göttinnenmanier. »Oder ihr werdet bestraft, klar?«

»Nein!«, rief Traynor plötzlich. »Steht auf, ihr Idioten. Es ist ein Trick!«

»Jetzt!«, rief jemand.

Es war Jonahs Stimme – und auf sein Zeichen hin brach im Allerheiligsten die Hölle los.

Jonah stürmte mit Motti an der Seite durch das rauchige Dämmerlicht in den inneren Kreis. Mit einem bellenden Schrei stürzte Motti sich auf Traynor und warf ihn zu Boden.

Schreie und Kampfgeräusche erfüllten den Tempel und hallten als harsches Echo von den Wänden wider. Die lodernden Fackeln tauchten die allgemeine Verwirrung und das Chaos in blutrotes Licht. Jonah hatte sich Honor vorgenommen und schlug ihr das Messer aus der Hand. Sie fauchte vor Wut, doch dann packte jemand Jonah um die Taille und riss ihn zurück. Jonah wand sich und es gelang ihm, seinen Angreifer krachend gegen einen der Pfeiler zu schleudern. Sofort erschien der nächste Priester, um seinen Platz einzunehmen. Es war ein alter Mann im Umhang. Jonah wich einem nicht besonders kräftigen Schlag aus und legte den Alten dann mit einem Kinnhaken flach.

Doch wo war Honor jetzt? Sie war verschwunden, genau wie Motti und Traynor – versteckte sie sich? Jonah wusste nur zu gut, wie leicht man sich in der eisigen, schier undurchdringlichen Dunkelheit verstecken konnte. Es war schrecklich gewesen, Tye so hilflos zu sehen und keine Möglichkeit zu haben, zu ihr zu gelangen, während er mit den anderen auf eine Chance zum Überraschungsangriff auf die Sechste Sonne gewartet hatte. Da sie den Schutt vor dem Eingang nicht hatten wegräumen können, waren sie außen an der Pyramide hinaufgeklettert und hatten ziemlich weit oben eine Steinplatte gelöst. Sie waren im obersten Stockwerk gelandet und hatten es gerade noch geschafft, die Platte wieder einzusetzen, bevor Traynor seine Truppe aus dem Dschungel herausgeführt hatte. Coldhardt hatte Patch mitgenommen, um die unteren Stockwerke zu erkunden, doch auf Jonahs Bitte hin waren die anderen mit ihm hier oben geblieben. Sie sollten ihm helfen, Tye zu befreien …

Als er sich jetzt durch die dicken Rauchschwaden hindurch das Chaos im Tempel besah, konnte er nicht mehr verstehen, wie er je an einen Sieg hatte glauben können.

Ein weiterer Priester wollte sich auf Jonah stürzen, stolperte jedoch über den alten Mann und krachte in die Statue von Coatlicue. Als er versuchte, sich aufzurichten, kamen manikürte Finger hinter der Statue hervor, packten ihn bei den Ohren und schlugen seinen Kopf ein paarmal gegen den Stein, bis er bewusstlos war.

Als der Priester in sich zusammensackte, kam Con hinter der Statue hervor. »Das ist total verrückt!«, rief sie und als Xavier auf sie zustürmte, versetzte sie ihm einen Highkick unters Kinn, dass er in die Dunkelheit zurücktaumelte und platt auf dem Rücken landete. »Wir sollten runter zu Patch und uns den Schatz greifen!«

»Hast du gesehen, wohin Honor gegangen ist?« Jonah schaute sich um und stellte fest, dass auch das Opfer verschwunden war und mit ihm Cortés’ Schwert. »Wo ist Ramez – bei Tye? Und wo ist überhaupt Tye?« Verwirrt blickte er sich um, doch es war zu dunkel und verraucht, als dass er viel hätte erkennen können. »Und wo ist Motti?«

Der tauchte plötzlich vor ihm auf; seine Brille war verbogen und ein Glas gesprungen, er hatte ein Veilchen und über das Auge lief Blut.

»Wo ist der verdammte Ausgang?«, fragte er schwach, dann sank er auf die Knie. Con stieß einen Schrei aus, als ein Typ mit einem roten Streifen über dem Mund sie zu Fall brachte. Sie rang mit ihm auf dem Tempelboden.

Bevor Jonah ihr zu Hilfe eilen konnte, kam Traynor aus der Dunkelheit – ohne Federschmuck und mit zerrissener Fellrobe und Tunika. »Dafür wirst du bezahlen!« Er kam auf Jonah zu und schwang Cortés’ Schwert wie ein Samurai. »Mit jedem einzelnen Tropfen deines Blutes wirst du dafür bezahlen.«

Und mit einem Wutschrei stürzte sich Traynor auf Jonah.

In der Dunkelheit nahe der Wand stieß Tye ihrem Bodyguard den Ellbogen ins Gesicht, dass es krachte. Dann machte sie einen Satz nach vorn, um sich aus seinem Griff zu befreien. Sie warf sich auf den Rücken und trat ihm mit beiden Beinen gegen den Brustkorb. Er flog nach hinten, krachte donnernd gegen die Wand und schlug eine Steinplatte aus einem der zugemauerten Fenster. Die Sonne lugte schüchtern herein, ihr Lichtgefiltert von einem dichten Baldachin aus Blättern. Doch sie ließ den Qualm praktisch noch undurchsichtiger werden, es war jetzt noch schwerer, etwas zu erkennen.

Tye rappelte sich auf und erkannte Con, die versuchte, obwohl Rotmund sie am Bein festhielt, den verwundeten Motti aus der Gefahrenzone zu schleifen. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie sah, wie Jonah hinter der Statue von Coatlicue verschwand und Traynor das Cortés-Schwert hoch über den Kopf hob.

Erst als sie hinüberlief, um Jonah zu helfen, fiel ihr auf, dass Ramez nicht mehr auf dem Boden lag.

Dann stürzte sich plötzlich der andere Bodyguard auf sie und brachte sie zu Fall; seine großen Hände suchten nach ihrem Hals. Mit dir verschwende ich meine Zeit nicht, dachte sie, packte ihn an den Ohren und drehte seinen Kopf herum. Er brüllte und rollte sich von ihr herunter, wobei er sich an den Nacken griff. Doch dann war Gelbmund da, bekam ihren Arm zu fassen und versuchte, einen Nackenheber bei ihr anzusetzen.

»Willst du mich wohl in Ruhe lassen!«, rief sie und die Wut gab ihr Kraft, ihren Arm freizubekommen. Sie verpasste dem Mann einen Roundhousekick in den Bauch, und als er sich krümmte, schlug sie ihm einmal, zweimal auf sein dummes gelbes Maul, bevor sie ihn mit einem abschließenden Aufwärtshaken in einen der Pfeiler krachen ließ.

Tye schüttelte ihre schmerzende Hand und versuchte im Rauch etwas zu erkennen. In nur wenigen Sekunden schien alles anders geworden zu sein. Motti sah schlimm aus, völlig weggetreten, ein Häufchen Elend auf dem Boden. Con parierte Rotmunds Hiebe, wie er sie austeilte, aber es standen noch andere herum, die nur darauf warteten, dass sie an die Reihe kamen. Jonah spielte Katz und Maus mit Traynor, der inzwischen wild mit seinem wertvollen Schwert herumfuchtelte. Honor war immer noch nirgends zu sehen und Ramez auch nicht. Er war betäubt worden, war somit verletzlich, hilflos.

Tye stand wie erstarrt, völlig hin- und hergerissen. Ihre Freunde brauchten sie alle gleichzeitig. Wem soll ich helfen? Wem, um alles in der Welt, kann ich helfen?

Jonah schwang sich um einen Pfeiler herum und war plötzlich ungeschützt. Traynor hatte dies vorhergesehen, machte einen Satz auf ihn zu, holte mit dem Schwert aus …

Tye stieß mit dem Fuß an etwas – Ramez’ Adlerhelm aus Bronze.

»Jonah, runter!«, rief sie und hob den Helm auf. Er schaute sie mit irrem Blick an, als sie den schweren Helm mit aller Kraft von sich schleuderte. Er segelte durch die Luft, traf Traynor an der Schulter und riss ihm den Schwertarm herunter. Er verlor das Gleichgewicht, schwankte und fiel.

Tye sprintete bereits zu Con, die es inzwischen im unbewaffneten Kampf mit drei Gegnern gleichzeitig aufgenommen hatte. Tye näherte sich Rotmund und verpasste ihm einen Karatetritt in den Rücken. Xavier wirbelte herum. Sie trat ihm gegen die Kehle, er wankte rückwärts und taumelte in Con. Tye trat ihm die Beine weg, bückte sich und rammte ihm den Ellbogen ins Brustbein. Sein ganzer Körper krampfte sich zusammen, dann rührte er sich nicht mehr.

Der dritte von Cons Angreifern drehte sich zu Tye um – gerade als sie – ohne sich um den stechenden Schmerz in ihrer Seite zu kümmern – zu einem weit gesprungenen Kick ansetzte. Die Stahlkappen ihrer Schuhe brachen dem Mann wahrscheinlich ein paar Rippen. Er fiel um wie ein Sack Kartoffeln.

Das musste jetzt aber der letzte echte Gegner gewesen sein – nun konnte sie endlich Jonah helfen. Doch Tye musste feststellen, dass immer noch Priester aus dem Halbdunkel auftauchten und sich ihnen in den Weg stellten. Ihr fiel wieder ein, wie sie beim Auffüllen des Stollens geschuftet und den Eingang zum Tempel freigeschaufelt hatten – Hand in Hand, methodisch und präzise. Ohne Rücksicht auf sich.

Dann ein Schrei: »Das Opfer! Er läuft davon!«

Als Tye zur Tür schaute, sah sie, wie drei kostümierte Gestalten die Verfolgung aufnahmen.

»Los!«, keuchte Con. »Hilf Ramez. Ich schaff das hier schon.« Wie zum Beweis packte sie den am nächsten stehenden Gegner und erledigte ihn mit einem einzigen Handkantenschlag in den Nacken.

Tye hatte Rauch eingeatmet und musste husten. »Und Jonah –«

»Ich helfe ihm. Aber wenn du Ramez jetzt aus den Augen verlierst …«

Wenn ich Ramez jetzt aus den Augen verliere – was dann?, dachte Tye. Und merkte, als sie zum Schlangenmaul-Ausgang stürzte, dass sie keine Antwort darauf hatte.

Völlig erledigt und hustend rappelte sich Jonah von dem feuchten Steinboden auf. Wenn er nur ein paar von der Sechsten Sonne zwischen sich und Traynor bringen könnte, einen menschlichen Schutzschild, damit er nicht mehr mit diesem Schwert –

»Jonah!«, brüllte Con warnend.

Er schaute auf und sprang zur Seite, kurz bevor die Schwertklinge neben ihm in den Boden schlug. Traynor war schon wieder auf den Beinen und sah noch wütender aus als zuvor. Er stocherte mit dem Schwert herum, als wollte er Jonahs Herz aufspießen. Jonah machte einen Satz rückwärts und landete wieder auf dem Boden. Mit beiden Füßen stieß er sich ab, nur weg von Traynor, und rutschte auf die Statue zu.

»So ist’s brav, Junge, geh zur Göttin«, flüsterte Traynor, der das Chaos um sich herum überhaupt nicht wahrzunehmen schien. »Es wird Zeit, dass dein Blut sprudelt. Coatlicue will es bis zum letzten Tropfen schmecken.« Seine Augen glühten dunkel im fahlen Licht der Fackeln und er blinzelte nicht ein einziges Mal. »Was soll ich dir als Erstes abhacken, Junge? Einen Arm oder ein Bein?«

Jonah schrie auf, als er mit dem Hinterkopf gegen eine der riesigen steinernen Klauen der Statue stieß und seine alte Kopfwunde wieder aufplatzte. Er hätte nie geglaubt, dass man so große Angst haben könnte, doch für einen Moment verfiel er in blinde Panik. Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte er eben beim Durchrutschen einige der Glasflaschen mit dem Gift umwerfen müssen, die vor Coatlicue aufgereiht waren, aber er hatte nicht mitbekommen, dass etwas zerbrochen wäre. Also wo zum Teufel waren –?

Jemand stürmte hinter der Statue hervor.

Und plötzlich stolperte Traynor rückwärts. Er befühlte mit den Händen sein Gesicht und Jonah sah, dass es nass war.

Coldhardt stand neben Coatlicue, halb verdeckt von waberndem Rauch. In einer Hand hielt er eine offene Phiole. Sie war leer.

»Danke«, krächzte Jonah.

»Tut mir leid, dass ich mich wieder einmische, Traynor«, sagte Coldhardt. »Aber ich denke, du hast bei dieser Sache schon genug Blut vergossen.«

»Du Dreckskerl!« Traynor wischte sich mit der freien Hand hektisch übers Gesicht. »Was hast du getan?«

»Dich dein eigenes Gift schmecken lassen.« Coldhardt beobachtete ihn ausdruckslos. »Du weißt besser als ich, wie viele Menschen diese Phiole hätte umbringen können, wenn ihr Inhalt in ein Wasserreservoir gekippt worden wäre. Aber ich könnte mir vorstellen, dass bei dieser Konzentration auch der winzigste Tropfen auf deiner Zunge …«

Traynor fiel auf die Knie, spuckte aus und schüttelte verzweifelt den Kopf. Das Schwert entglitt seiner zitternden Hand und fiel scheppernd zu Boden.

»Das nehme ich«, sagte Coldhardt und hob es rasch auf. »Danke.«

Jonah sah, wie sich auf Traynors glattem, kantigem Gesicht Pusteln und Blasen bildeten. Eiter lief ihm über die Wangen wie zähe Tränen. Seine Haut färbte sich schwarz wie verbrannter Karamell. Er kämpfte nicht mehr. Coldhardt setzte einen Fuß auf seine Brust und drückte sacht dagegen.

Traynor fiel auf den Rücken und blieb mitten im inneren Kreis liegen, beide Arme ausgebreitet, sodass sein Leichnam ein Kreuz bildete.

Tye kam im Flur vor dem Allerheiligsten schlitternd zum Stehen. Die Luft war hier besser, doch die öligschwarze Dunkelheit undurchdringlich. Sie hörte Schritte auf der Steintreppe und trat auf die oberste Stufe – und sah gerade noch den letzten Schimmer einer flackernden Fackel hinter der Biegung verschwinden.

Kampfgeräusche drangen zu ihr herauf. Blinzelnd und mit klopfendem Herzen stürmte sie die Treppe hinunter und in den Raum, in dem die toten Krieger lagen.

Sie sah drei Priester, die sich Ramez näherten. Der hatte sich hinter einer der steinernen Totenbahren verschanzt und stand mit offenem Mund da. Der Mann mit der Fackel – Tye sah, dass es Douglas mit dem Kugelbauch war – schwenkte diese drohend in Ramez’ Richtung, während seine beiden Freunde rechts und links um die Bahre herumgingen, um ihn sich gleichzeitig zu schnappen.

Doch dann kam plötzlich Leben in Ramez. Er packte den Mann zu seiner Linken, drückte ihm das Knie in die Eier und stieß ihn dann dem Priester, der von rechts kam, vor die Füße.

Tye tippte Douglas auf die Schulter. Als er herumwirbelte, entriss sie ihm mit einer Hand die Fackel und boxte ihm mit der anderen in den Bauch. Er fiel auf den Rücken, rang nach Luft und lag zappelnd auf den Steinplatten wie ein umgedrehter Käfer.

Sie pfiff erleichtert durch die Zähne und sah Ramez dann mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ich hab gedacht, sie hätten dich ruhiggestellt?«

»Das hab ich auch von dir gedacht«, gab er zurück. »Du hast doch nicht geglaubt, dass ich mich einfach so ergebe, oder? Ich hab die Tablette unter die Zunge geschoben und ausgespuckt, als sie nicht hergeschaut haben.«

»Ich auch!« Sie lief um die Bahre herum und drückte seinen Arm. »Du Mistkerl, du hättest mir wenigstens ein Zeichen geben können.«

Er lächelte, das Lächeln, das er schon immer eingesetzt hatte, wenn er ihr die Sterne vom Himmel versprach, und es ärgerte sie, dass sein altes, prahlerisches Gehabe ihr immer noch dieses ganz besondere Herzflimmern verursachte. »Ich konnt’s nicht riskieren«, sagte er. »Ich hab ihnen was vorgespielt, hab bis zum letzten Moment gewartet, damit ich, wenn sie nicht mehr damit rechnen –«

Tye sah Sterne, als sie einen Schlag auf den Hinterkopf bekam. Sie wirbelte herum und sah Douglas mit der hölzernen Keule eines der toten Krieger vor sich stehen und anzüglich grinsen. Sie hatte nicht gehört, wie er sich angeschlichen hatte.

Dafür hörte sie jetzt das Klingeln in ihren Ohren, bevor sie die Besinnung verlor.

»Fass Traynor nicht an«, warnte Coldhardt mit Nachdruck. Dann hob er die Stimme, damit alle ihn hören konnten: »Hört her, Leute, es gibt nichts mehr, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Euer Anführer ist tot. Eure Träume sind ausgeträumt.«

»Bringt sie um!«, zischte der alte Professor. »Los, wir können immer noch …« Als Con den Priester neben ihm mit ein paar raschen Schlägen außer Gefecht setzte, bemerkte er, dass er der Letzte war, der noch stand.

Ganz ohne Hektik drehte Con sich zu ihm um, packte ihn an seinem gestreiften Umhang und warf ihn gegen den nächsten Pfeiler. Er rutschte daran hinunter und blieb dann reglos davor liegen. Stolz lächelte sie Coldhardt an und wischte sich ein paar Tropfen Blut aus dem Mundwinkel. »Jetzt können sie weiterträumen, oder?«

»Wo ist Tye hin?«, wollte Jonah wissen.

Con wurde fast verlegen. »Sie wollte Ramez helfen.«

»Aber Honor muss doch noch irgendwo sein!«

»Wahrscheinlich ist sie längst auf und davon.«

»Das wissen wir aber nicht.« Jonah versuchte sich aufzurichten, gab es aber auf, als der Tempel sich um ihn zu drehen begann. »Mein blöder Kopf«, murmelte er zwischen zusammengebissenen Zähnen.

»Con, du gehst Tye nach«, sagte Coldhardt, während er das Schwert in seinen Händen untersuchte. »Jonah hat recht, wir können nicht davon ausgehen, dass Miss Albrecht weg ist. Wir müssen den Tempel sichern.«

»Ihn sichern?«, hakte sie nach.

»Stör mich jetzt nicht. Geh schnell. Und dann helft Patch, die Schätze im Erdgeschoss einzusammeln.«

Con lief aus der runden Kammer und Jonah machte einen zweiten, ernsthafteren Versuch aufzustehen. Dieses Mal schaffte er es. »Ich kann’s immer noch nicht glauben, dass du dieses Zeug gegen Traynor eingesetzt hast«, sagte er. »Du hättest uns alle umbringen können.«

»Der Wirkstoff wurde so entwickelt, dass er mit Wasser verdünnt oral aufgenommen wird«, erklärte Coldhardt geistesabwesend. Seine gesamte Konzentration galt immer noch dem Schwert. »Es war unwahrscheinlich, dass das Gift sich über die Luft ausbreiten würde.«

»Wo sind die anderen Fläschchen?«

»Ich habe sie hinter der Statue in Sicherheit gebracht.«

Jonahs Kopf pochte, als er langsam zu Motti hinüberging, der sich wieder regte. »Eigentlich hab ich gedacht, du wärst noch unten«, rief er über die Schulter zurück, »bei Patch.«

»Er ist in dem Raum, in dem die Tempeldiener liegen, und arbeitet an der Tür zur Schatzkammer.« Coldhardt legte das Schwert auf den Boden und kauerte sich vor die Statue. »Ich muss hier noch ein paar Dinge erledigen.«

»Klar.« Jonah merkte, dass er im Augenblick wirklich nicht wissen wollte, was für Dinge das waren. »Mot? Alles in Ordnung?«, fragte er.

Motti nickte und verzog das Gesicht. »Was zum Teufel ist passiert?«

»Traynor hat dich ganz schön durchgeknetet.«

»Kann man wohl sagen. Der Kerl kann kämpfen.«

»Nicht mehr.« Jonah schaute wieder zu Coldhardt hinüber und sah etwas Goldenes in der Hand des alten Herrn. »Was hast du da?«

»Ich habe mir die Leichen der Tempeldiener genauer angeschaut; etwas, das Traynor besser auch getan hätte«, erklärte Coldhardt. »Erinnerst du dich an die Prophezeiung? ›Wenn ihre Diener in ihre Herzen greifen‹?« Er hielt eine goldene Scheibe hoch; sie glich einer großen, dicken Münze mit nur einem eingravierten Symbol. »Wo ihr Herz hätte sein sollen, lag das hier.« Er legte die Scheibe in eine der Vertiefungen. Sie passte haargenau. »Sie müssen sie um den Hals getragen haben wie die Sechste Sonne ihre Amulette, und wenn sie Zwiesprache mit den Göttern gehalten haben, wurden sie in einer bestimmten Reihenfolge hier ausgelegt.«

»Du glaubst allen Ernstes, dass du mit dieser unsäglichen Präsenz reden kannst?«

»Geht zu den anderen. Vielleicht brauchen sie eure Hilfe.« Coldhardt schaute Jonah und Motti ärgerlich an. »Geht.«

»Er hat recht, gehen wir«, sagte Jonah leise. Er half Motti beim Aufstehen und ging voraus zur Tür.

Tye versuchte verzweifelt, bei Bewusstsein zu bleiben. Sie fiel nach vorn in Ramez’ Arme. Die Welt drehte sich um sie, doch seine Arme waren stark und warm. Sie roch seinen vertrauten Duft und während dieser wenigen Sekunden, in denen sich alles drehte, war sie wieder 13 und wunschlos glücklich.

Ganz in der Nähe raschelte es plötzlich und etwas klapperte. »Mist«, flüsterte Ramez. »Warum könnt ihr Schweinepriester nicht unten bleiben?«

»Gib auf, Ramez«, sagte einer der Männer, »du kommst hier nicht mehr raus.«

Nein, dachte Tye verzweifelt. Es muss einen Ausweg geben. Nach allem, was wir durchgestanden haben, lass ich nicht zu, dass sie ihn noch einmal schreiend wegschleifen. Ich muss mir etwas einfallen lassen, wie ich sie ablenken kann …

»Du kannst uns nicht davonlaufen«, sagte Douglas streng. »Wir haben unseren Teil des Abkommens erfüllt und dir alles gegeben, was du dir gewünscht hast.«

»Stimmt, das habt ihr wirklich getan. Aber soll ich euch was sagen?« Er drückte Tye beschützend an seine Brust. »Ihr könnt es direkt wiederhaben.«

Tye schrie auf, als sie heftig weggestoßen wurde. Sie fiel gegen Douglas, der kippte nach hinten auf die anderen beiden Priester und alle miteinander gingen sie zu Boden. In der allgemeinen Verwirrung drängte Ramez sich an ihnen vorbei und lief auf und davon.

Tye öffnete den Mund und wollte ihm nachrufen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Sie blieb stumm und ließ sich von den Männern auf die Füße zerren. Starrte zu der Treppe, über die er hinuntergerannt war, und hoffte und flehte, er möge zu ihr zurückkommen.

Dann musste sie die Augen schließen, als ihr die brennende Fackel vors Gesicht gehalten wurde, und zwar so dicht, dass es an ihrer Stirn knisterte und ihr der stechende Geruch von verbranntem Haar in die Nase stieg.

»Wir hätten so viel Macht haben können«, kam die weinerliche Stimme eines Mannes, »und jetzt ist alles vorbei.«

»Und alles nur wegen ihr und ihren Freunden«, zischte Douglas. »Aber das wird sie büßen …«

Dann hörte man Schritte auf der Treppe. Ramez. Er war zurückgekommen. Natürlich war er –

»Lasst sie in Ruhe!« Cons Schrei hallte von den Wänden der letzten Ruhestätte der Krieger wider, als sie sich zwischen die drei Männer drängte. Tye konnte sich im selben Moment aus Douglas’ Griff befreien, als Con ihn niederstreckte. Die Fackel fiel dicht an Tyes bloßem Bein vorbei und versengte die feinen Härchen.

Und mit dem Hitzeschock stieg noch etwas anderes in ihr hoch.

Während Con sich auf einen der beiden anderen Männer stürzte, schnappte Tye sich den letzten der Männer und stieß ihn zu Boden. Er schlug neben einer Totenbahre auf und blieb auf dem Rücken liegen. »Du glaubst wohl immer noch, du hättest Macht über mich, wie?«, zischte sie, griff nach dem hölzernen Schild des Kriegers auf der Bahre und schlug dem Mann damit ins Gesicht. Er schrie auf. »Bildest dir ein, ich gehöre dir, ja?« Er versuchte sich zu befreien und sie schlug noch einmal zu. Seine Nase begann zu bluten. »Dass ich dir jemals gehören könnte?«

»Hey, hey.« Sie merkte, wie Con ihr den Schild aus der Hand nahm und sich neben sie kniete. »Es ist gut, Süße. Er ist ohnmächtig.« Con schlang die Arme um sie. »Es ist vorbei.«

Tye klammert sich blind an Con und hielt sie ganz fest.

»Wir lassen dich nicht gehen«, murmelte Con.