8.

Zwei Tage später

 

Albtraumhaft zerklüftete Grate türmten sich am Horizont.

Rowena saß im Cockpit ihres Militärgleiters. Ihr Blick streifte gleich dem eines Greifvogels über das Land. Wie ein Wall von abgestürzten Asteroiden schirmte das Gonozal-Gebirge Atlantis vor dem Ozean ab.

Es war später Nachmittag. Seit anderthalb Tagen schwebte ihr Gleiter entlang schneebedeckter Gipfel, durch keilförmig in den Stein geschnittene Schluchten und weite Felsentäler. Eisige Gebirgsbäche schlängelten sich durch die verkarstete Landschaft, Pfadfinder, die ihren Weg durch das blaugraue Labyrinth suchten.

»Wo seid ihr, verdammte Talagon-Diebe?« Verbissen behielt Rowena die Orterholos im Blick.

Ausgangspunkt ihrer Suche war der Bauplatz vor der Unterwasserkuppel gewesen. Dort hatte sie eine verlassene Feuerstelle und Spuren einer Übernachtung entdeckt. Im benachbarten Wald jedoch verlor sich die Fährte schon nach kurzer Strecke.

Seither fischte sie im Trüben. Mit jeder verstrichenen Tonta wuchs ihre Wut.

Die Sicht aus der Pilotenkanzel verschlechterte sich. Am Tag war der Himmel wolkenlos geblieben, nun aber, gegen Abend, zog Hochnebel auf. Nieselregen warf seinen Schleier auf die Frontscheibe, sammelte sich zu Tropfen und perlte in dicken Bahnen ab. Rowena schaltete die Orter auf Infraroterfassung.

Tiere bewegten sich in dichtem Tann, das Holo hob sie als rot strahlende Flecken hervor. Unten bahnte sich eine Herde vierbeiniger Pflanzenfresser einen Weg durchs Gehölz. Sie erinnerten an arkonidische Dahondras. Ein Stück voraus lag ein Raubtier mit prachtvoll gestreiftem Fell auf der Lauer.

Insekten, Vögel, Echsen; die Wälder im Nordosten von Atlantis wimmelten von Leben. Aber keiner der aufgefangenen Biowerte deutete auf Wesen von arkonoidem Äußerem hin.

»Wie konnte ich nur so dumm sein? Wie konnte ich glauben, dass mir von drüben niemand folgen und das Talagon einfach auf diese Seite zurückbringen würde?«

Sie führte Selbstgespräche. Es tat gut, jemanden anzuklagen – selbst wenn es nur das eigene Spiegelbild in der Frontscheibe war. Irgendwen musste sie schließlich tadeln!

Der nächste namenlose Gipfel, das nächste verlassene Tal. Fußspuren zogen sich durch den Schnee auf einer Hochebene, doch die Form deutete auf primitives Schuhwerk hin. Eingeborene hatten sie hinterlassen. Zudem führten sie zur Küste, in die falsche Richtung. Der Weg der Fremden musste zwangsläufig landeinwärts führen.

Was, wenn sie es nach Arkonis brachten? Oder, schlimmer – wenn sie es öffneten ? Der Gedanke ließ ihr Herz sinken.

Missmutig blätterte sie durch die Optionen der Sensorphalanx. Die Hyperortung half ihr nicht weiter. Zwar zeigte die frequenzspezifische Erfassung permanent einen vollen Ausschlag – das Talagon war hier , auf Atlantis. Doch mehr als eine grob 1400 Dran durchmessende Blase erfassten die Geräte nicht. Das Artefakt konnte sich überall in diesem Bereich befinden. Niemandem war es bislang gelungen, das Ortungsergebnis zu präzisieren, außer vielleicht dem Irren vom Ondulon. Quartam da Quertamagins Forschungsstation aber lag gut 240 Dran entfernt, ein inakzeptabler Umweg. Mit jeder Dezitonta vergrößerte sich der Suchradius.

Sämtliche Hilfe, die sie beanspruchte, erweiterte außerdem den Kreis der Mitwisser. Um jeden Arkoniden, den sie würde töten müssen, war es schade. Niemand verdiente den Tod, nur, weil ihm jemand ungewollt ein Geheimnis verriet.

Rowena schaltete auf Infrarotortung zurück, suchte die gegenüberliegende Bergflanke ab.

Nichts.

Bei einem Vulkansee machte sie mehrere Feuer aus, doch sie entpuppten sich als das Lager eines abgelegenen Bergstamms. Ähnliche Siedlungen gab es überall in den Atlantischen Alpen, dazu kamen fahrende Händler und nomadische Jäger – nach nächtlichen Flammen zu scannen, würde bestenfalls in eine Schnitzeljagd ausarten. Sie verbot sich, in diese Denkfalle zu tappen.

Vier Stunden später gab Rowena auf. Sie parkte den Gleiter in einer Talaue und gönnte sich einen unruhigen Schlaf.

»Morgen«, murmelte sie, bevor die Albträume sie empfingen. »Morgen werde ich euch stellen, ihr dreckigen Diebe!«

 

*

 

Am dritten Prago entschloss sie sich zu einem systematischeren Vorgehen.

Sie ließ den Gleiter in einem halben Dran Höhe über die Gipfel gleiten und flog ein Garrabobrett-artiges Suchmuster ab.

Das Wetter war schlechter als am Vortag; der Hochnebel hatte sich über Nacht gehalten und senkte sich allmählich dem Boden zu. Feuchtwarme Luft aus den Sümpfen im fernen Norden kondensierte an den Hängen. Auen und Haine versanken unter Bäuschen aus feuchter Watte. Obwohl die Sonne schon hoch am Himmel stand, erreichte ihr Licht kaum den Boden.

Die Infrarotortung war Rowenas einziger Anhaltspunkt. Herden der vierbeinigen Pflanzenfresser leuchteten hellrot in der Panoramaortung.

Wieder verstrichen die Tontas ergebnislos. Rowenas Magen knurrte. Bis auf einen Konzentratriegel und einige Schlucke mit Nährstoffen versetztes Wasser hatte sie nichts gefrühstückt. Proviant führte sie kaum mit sich, denn sie hatte nicht geglaubt, dass die Suche derart ausarten würde. Das Dröhnen des Antigravtriebwerks war das einzige Geräusch.

Die Sonne nahm ihren Weg am Himmel. Aus dem Morgen wurde Vormittag und dann Nachmittag.

Am Vorabend lichtete sich der Nebel ein wenig, doch inzwischen fiel es Rowena schwer, die Augen offen zu halten. Sie rieb sich die Lider, bis sie brannten und nach Erholung flehten. Dennoch gönnte sie sich keine Pause. Zu viel hing davon ab.

Der Gleiter vollendete die 50. Suchschleife. Rowena wendete, zwang das Fahrzeug einen Dran weiter nach Nordwesten. Auf diese Weise hatte sie sich in parallelen Linien schrittweise landeinwärts gearbeitet und fast den Rand der Alpen erreicht. Davor breitete sich das fruchtbare Vorgebirge aus, das die Eingeborenen pathetisch den »Weltenschoß« nannten – die arkonidischen Kartografen hatten einige ihrer Namen übernommen. Damit hatte sie das Suchgebiet fast komplett abgedeckt. Noch immer ohne eine Spur.

Die She'Rantor kamen in Sicht, zwei gigantische Statuen, den Monumentalstandbildern auf Iprasa nachempfunden. Sie flankierten den Einstieg zum Pass über den Orgon-Duul – den nördlichsten der Alpenberge. Abweisend starrten sie auf den Weltenschoß hinaus. Arkon hatte sein Revier markiert.

»Es hat keinen Wert«, murmelte sie. Fast drei Pragos waren verstrichen, die Fremden mochten inzwischen überall sein.

Rowenas einzige Hoffnung war Quartams Station am Ondulon. Der Verrückte musste helfen.

Weit im Nordwesten ragte schattenhaft der Zahn der Götter in den Himmel, ein einzelner Gipfel inmitten bewaldeter, sanfter Hügel. Rowena benutzte ihn als Landmarke und legte einen Kurs zur Dolgai-Ebene fest, zu der das Ondulon-Tal gehörte. Gerade programmierte sie das Steuer und langte nach dem Schubregler, als ihr der Zufall zu Hilfe kam.

Etwas blitzte am Rand ihres Sichtfelds.

Sofort nahm Rowena Fahrt weg, bis der Gleiter schwerelos auf der Stelle schwebte. Hatte sie es sich eingebildet?

Sie fokussierte die Bioerfassung auf den Bereich des Glitzerns, starrte in den Dunst. Der Lichtreflex war aus einer tiefen, keilförmigen Schlucht jenseits der Statuen gekommen.

Da! Ein zweiter Blitz. Diesmal währte er länger, als reflektierte eine Fensterscheibe Sonnenlicht. Sie wendete den Gleiter, sodass dessen Bug exakt in die Richtung des Einschnitts wies.

Die Eingeborenen dieser Region kannten die Metallverarbeitung nicht, doch sie trieben Handel mit den fortgeschrittenen Stämmen aus der Gegend um Arkonis. Zudem stellten sie Gemmen und Schmuck aus Bergkristallen her – kurz, es gab allerhand, was dort unten glitzern konnte. Alles jedoch stammte entweder aus arkonidischer oder atlantischer Hand. Warum also empfingen die Sensoren keine Lebenszeichen?

Einmal mehr scrollte sie durch die Sensoroptionen. Bei der Hyperfrequenzansicht hielt sie inne.

Der Hypertaster des Gleiters war ein leistungsschwaches Gerät und nicht für wissenschaftliche Arbeiten gedacht. Der Fleck, den das Talagon in die Holoansicht zeichnete, hatte sich kaum bewegt. Und doch ...

Sie stöhnte, als es ihr einfiel. Sie hatte nach Biowerten gesucht – aber war es nicht möglich, dass das Talagon die Sensoren störte? Fungierte das Artefakt als Tarnschirm für diejenigen, die es gestohlen hatten?

»Idiotin!«, beschimpfte sie sich selbst. Aber es brachte nichts, sich über vergangene Fehler zu ärgern. Wichtiger war die Zukunft. Sie hatte offenbar gefunden, wonach sie gesucht hatte.

In der Schlucht blitzte es ein drittes Mal.

Vorsichtig gab Rowena dem Antigravmotor einen Vorwärtsimpuls. Gleichzeitig erhöhte sie die Flughöhe. Ein Wolkenausläufer schirmte sie vor eventuellen Blicken ab. Das positronisch aufgewertete Bild im Holo war undeutlich und verrauscht, erlaubte ihr aber einen einigermaßen klaren Einblick.

Die Schlucht war ein landschaftlicher Albtraum. Wie eine Narbe zog sich ein Abgrund nach Süden hin, die Felswände fielen senkrecht ab. Am Grund rauschte mit aberwitziger Geschwindigkeit ein flacher Strom, Wasserfälle stürzten bis zu einem Vierteldran in die Tiefe.

Über eine von beiden Steilwänden zog sich, etwa auf halber Höhe, ein haardünner, waagerechter Strich. Es war ein Felssims, und er stellte den einzig passierbaren, wenn auch gefährlichen Weg durch die Schlucht dar. An einigen Stellen hatten Eingeborene hölzerne Treppen und Stege errichtet, um höher gelegene Teile des Simses erreichbar zu machen oder solche zu überbrücken, die zu schmal für Wanderer waren.

Auf einem dieser Stege bewegte sich eine Reisegruppe.

»Hab ich euch!« Triumphierend vergrößerte Rowena die Bilddarstellung.

Sie waren zu dritt. Aus der Ferne und durch die Wolkenschwaden waren ihre Gesichter nicht zu erkennen, doch die Haut eines der Wanderer schimmerte grünlich. Erst ein Mal hatte Rowena ein solches Wesen gesehen, und das war nur wenige Pragos her. Die athletische Gestalt musste ihr männlicher Begleiter sein. Bei der dritten Person schien es sich um eine weibliche Eingeborene zu handeln, vermutlich eine Fremdenführerin, die sie unterwegs aufgegabelt hatten.

Rowena atmete durch. Das Talagon war da unten, bei dieser Dreiergruppe. Die Lösung ihres Problems war nur einen Angriff entfernt.

Das Gelände war für eine Landung ungeeignet. Sie aktivierte die Waffensysteme und die Zielerfassung, nahm die Gruppe ins Visier. Ihr Finger legte sich auf den Auslöser – dann hielt sie inne.

Durfte sie feuern?

Sie rief sich ins Gedächtnis, was ihr über das Talagon bekannt war.

Der Öffnungsvorgang war an eine bestimmte Energiesignatur gekoppelt, aber wie diese beschaffen war, wusste niemand. Was, wenn sie ihn mit einem Impuls- oder Thermostrahlbeschuss auslöste?

Je länger sie überlegte, desto unlösbarer schien das Problem. Feuerte sie nicht auf das Talagon, sondern auf die Felswand darüber, würde sie einen Steinsturz auslösen und die Fremden am Grund der Schlucht begraben – doch das wäre Mord gewesen. Soweit es sie betraf, hatten sie nichts getan, wodurch sie den Tod verdienten. Bei den She'Huhan , vermutlich wussten sie nicht einmal, was sie mit sich herumschleppten und welches Unrecht sie begingen.

Rowena desaktivierte die Waffensysteme und wendete erneut. Sie brauchte einen Plan, eine Stelle, wo sie den Fremden auflauern konnte. Suchend ließ sie den Gleiter talauswärts schweben.

Nach vier Dran wichen die Steilwände zurück und flachten zu Hängen ab. Der Pass schlängelte sich hinab, entfernte sich vom Strom und verwandelte sich über einem Wiesengrund in einen schlammigen Pfad. Das Gelände wurde offener, bot reichlich Optionen für eine Landung.

Aber auch viele Möglichkeiten, vom Weg abzuweichen und sich in die Wälder zu schlagen, wenn die Gegner ihre Anwesenheit früh bemerkten. Dann wäre Rowena so weit wie zuvor.

Gemächlich glitt sie den Pfad entlang. Nun hatte sie Zeit; die Wanderer würden diese Stelle nicht vor dem Abend erreichen, und die Schlucht bot keine Möglichkeit, auf eine andere Strecke auszuweichen.

Vor ihr lag nun der Weltenschoß, eine scheinbar endlose Aneinanderreihung grün bewachsener Hügel, Flusstäler und ausgedehnter Wälder. Die Nachmittagssonne leckte golden über Wiesen und Auen. Baumwipfel kratzten gegen die Unterseite des Gleiters.

»Schlechtes Nahkampfgebiet«, murmelte sie. »Bäume, Büsche, zu viele Deckungsmöglichkeiten.« Rowena brauchte ein offeneres Gelände – oder eine Möglichkeit, den Gegnern unbemerkt aufzulauern.

Jenseits eines Bachs führte der Weg durch ein Meer hochaufragender Schilfhalme, dahinter stieg er sanft an. Sie zog hoch, zu sehen, was hinter dem Hang lag.

Dächer hoben sich über den Grat des Hügels. Der Pfad führte darauf zu.

»Perfekt!« Ein siegesbewusstes Grinsen stahl sich auf ihre Lippen.

Es war ein Eingeborenendorf – vielleicht ein Dutzend Häuser, von einem windschiefen Palisadenzaun umgeben. Männer und Kinder waren zwischen den Holzbauten unterwegs, die Frauen knieten vor dampfenden Bottichen und tunkten stoffumwickelte Stäbe hinein. Ihre Kleidung bestand aus grob gewebten, pfirsichfarbenen Wickelröcken. Rowena schätzte die Bevölkerung auf 20, vielleicht 25 Personen.

Als der Gleiter über dem Dorf auftauchte, riefen die Atlanter aufgeregt durcheinander. Einige zeigten mit den Fingern in Rowenas Richtung. Eine alte Frau mit einem turmartigen Kopfschmuck fuchtelte mit einem Wurzelstück.

Rowena atmete auf. Wenn die Wanderer nicht vom Weg abwichen, würden sie das Dorf zwangsläufig erreichen – rundum gab es nichts als Meere aus Schilf. Dies also war der Ort, nach dem sie gesucht hatte – und an dem sie ihre Falle stellen würde.

Bald, hoffte sie, war das Talagon wieder in ihrem Besitz. Wie sie es danach endgültig loswurde, stand auf einem anderen Blatt.