Gleich darauf
Der Kampf war vorbei. Rowena ruhte im Gras, zusammengesunken und inmitten betäubter Dorfbewohner.
Keuchend erhob sich Perry Rhodan vom Boden, beugte sich über die Arkonidin. Bang fühlte er nach ihrem Puls. Der Strahler lag noch immer in seiner Rechten. Hatte sein Schuss sie verletzt? Paralysatoren galten als der Inbegriff nicht tödlicher Kampfmittel, doch aus direkter Nähe konnte auch eine solche Waffe irreparable Schäden an Nervenbahnen anrichten. Was ein von ihm verursachter Tod in der Zeitlinie auslösen mochte, daran wollte er gar nicht denken – von der Last auf seinem Gewissen ganz zu schweigen.
Rhodan spürte Sichus Hand an der Schulter. Die Ator war hinter ihn getreten.
»Geht es ihr gut?« Caysey kniete weiter vor der Bewusstlosen, daneben hielt sich Ututna an ihrem Wurzelzepter fest. Ängstliches Weinen drang aus einer der umliegenden Hütten, kämpfte mit dem Bachplätschern um Aufmerksamkeit.
Sanft pochte Rowenas Schlagader unter Rhodans Fingerkuppen. Die Haut der Arkonidin war weich und warm und sie atmete. Ihr fingerlanges, weißblondes Haar leuchtete matt im Nachmittagslicht.
»Anscheinend ist sie unverletzt.« Rhodan ließ das Handgelenk der Arkonidin los und plumpste rücklings ins Gras. Mit dem Rücken lehnte er gegen Sichus Knie.
Kopfschüttelnd sah er zu der Schwangeren auf. »Was war das gerade?« Es gelang ihm nicht, den Ärger aus der Stimme zu bannen. »Du bist ein unverhältnismäßiges Risiko eingegangen, als du dich ihr so entgegengestellt hast. Rowena hätte dich und dein Kind hiermit leicht verletzen können.« Demonstrativ hob er den Strahler.
»Hätte sie.« Caysey nickte heftig. »Wenn sie das gewollt hätte. Aber es ist Gutes in ihr. Außerdem kann sie ja nix dafür, dass der Vrouhtou beschlossen hat, uns zu Gegnern zu machen. Das verstehst du, Perry, oder?« Ihr Tonfall war ungewohnt ernst.
»Hm.« Nachdenklich suchte Rhodan in ihrem Gesicht nach Spuren der Unsicherheit, doch da waren keine. Die Atlanterin glaubte , was sie sagte. Wie verlässlich war ihr Instinkt?
Der Terraner ließ sich von Sichu aufhelfen. Gemeinsam drehten sie die Arkonidin auf den Rücken, obwohl der Kampf und der tagelange Marsch sie beide verausgabt hatte. Während das Brennen in den Muskeln langsam abebbte, strich Rhodan der Bewusstlosen das Haar aus der Stirn und musterte sie.
Waren es ihre strengen Augen? Der harte Zug um die Mundwinkel? Sein Gefühl sagte Rhodan, dass die Arkonidin nicht mit Worten auf ihre Seite zu ziehen war – falls das überhaupt zur Debatte stand. Ihre Züge jedenfalls waren nicht die einer Diplomatin, wenn das Aussehen einen Schluss auf den Charakter erlaubte. Was Caysey an ihr zu erkennen glaubte, begriff Rhodan nicht.
Wer war diese Frau und warum stellte sie ihnen nach?
Ututna erholte sich von ihrem Schock. Während Rhodan und seine Begleiter sich um Rowena kümmerten, irrte sie von einem ohnmächtig daliegenden Dorfbewohner zum nächsten, prüfte ihren Atem und murmelte ihnen mit aufgelegten Händen Beschwörungen zu.
Nach einer Weile kehrte sie zur Reisegruppe zurück.
»Ich bitte euch um Verzeihung, Fremde.« Gram machte ihre Worte zittrig. Cayseys Blick mied sie. Ihre Augen waren rot geädert. »Die Göttin erschien vor Stunden in einer fliegenden Kutsche und drohte, unser Dorf niederzubrennen, falls wir euch und die Totgebärerin nicht ausliefern. Sie behauptete, von Vrouhtou zu kommen, doch der kämpft nie mit Feuer. Daher wussten wir, dass sie lügt.«
Rhodan deutete eine Verbeugung an. »Wir sind es, die um Verzeihung zu bitten haben, Ututna. Unsere Ankunft hat Unruhe und Schrecken in dieses Dorf gebracht.«
Er wies auf die bewusstlose Frau, über die Sichu gestolpert war. Der Färberbottich lag umgestülpt neben ihrem Bein. »Ich versichere dir, dass niemand zu Schaden gekommen ist. Deine Freunde werden in Kürze erwachen und außer leichten Kopfschmerzen nichts spüren.«
»Dasselbe gilt allerdings auch für unsere Freundin hier«, mischte sich Sichu ein. Abfällig stieß sie mit der Ferse gegen Rowenas Unterarm. »Ich kenne die Leistungsfähigkeit altarkonidischer Paralysatoren nicht, aber wenn sie mit unseren vergleichbar sind, wird Rowena in einer, bestenfalls zwei Stunden zu sich kommen. Wir haben also keine Zeit zu verlieren.«
Rhodan bückte sich und nestelte an dem Holster, das Rowena über dem Kampfanzug trug. Den Strahler klemmte er dabei zwischen die Oberschenkel.
»Könnt ihr sie irgendwie aufhalten?«, fragte er die Schamanin. »Nur so lange, bis wir genügend Vorsprung haben.« Er löste den Verschluss, zog der Arkonidin mit einem Ruck das Holster aus und schnallte es sich selbst um.
»Wird sie uns nicht zürnen?« Ututna hob den Wurzelstab vor sich, wie um sich damit vor einem Angriff zu schützen. Die Knöchel der kaffeebraunen, wettergegerbten Hände traten weiß hervor.
Rhodan steckte die Waffe in das Futteral. »Rowena ist keine Göttin und keine Zauberin, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut. Ohne den Kombistrahler kann sie euch nicht gefährlich werden.« Immerhin verfügten er und seine Begleiter nun über eine Möglichkeit, sich zu verteidigen.
»Sie kann kämpfen«, ergänzte Caysey, »und sie wird euch drohen. Aber sie wird keine Unschuldigen angreifen. Glaub mir!«
Rhodan grübelte. Da war er wieder, dieser Tonfall absoluter Sicherheit. Woher glaubte sie, das zu wissen? Hatten er und Sichu es womöglich mit einer schwachen Mutantin zu tun, etwa einer Empathin oder latenten Telepathin? Der Gedanke kam ihm nicht zum ersten Mal.
»Ich glaube dir, Fremder.« Ututna sprach weiterhin direkt zu Rhodan. Der Stab in ihren Händen zitterte leicht. »Wir werden Rowena fesseln und hierbehalten. Aber was euch betrifft – da spielt es keine Rolle. Selbst wenn die Weißhaarige eine Betrügerin ist, dürfen wir die echten Götter nicht herausfordern. Caysey darf nicht länger bleiben. Ihr müsst gehen!«
»Natürlich, Ututna.« Die Atlanterin postierte sich so, dass die Schamanin nicht anders konnte, als ihr ins Gesicht zu schauen. »Weist du uns den Weg zur Silbernen Stadt?«
Ututna zögerte.
»Kommt!«, sagte sie dann und machte eine auffordernde Geste. »Ich bringe euch zur Kutsche der Göttin. Vielleicht trägt diese euch zu ihresgleichen. Der Vrouhtou hat Caysey verflucht, aber er kann uns nicht verübeln, einer von uns zu helfen.« Ihren Sinneswandel erklärte sie nicht.
Eilig führte sie die Wanderer vom Dorfplatz.
*
Etwa 100 Meter hinter der Siedlung säumte ein Hain aus dicht stehenden Nadelbäumen das Schilfmeer. Auf dessen anderer Seite parkte Rowenas Gleiter unter einem Bett aus Ästen und altem Laub. Die Tarnung war gut. Hätte Rhodan es nicht besser gewusst, er hätte das Fahrzeug für einen seltsam regelmäßig geformten, moosbewachsenen Felsen gehalten.
Mit Ututnas Hilfe befreiten sie die »Kutsche« von ihrer Verhüllung und ließen die Tür zur Führerkabine aufgleiten. Drinnen berührte Rhodan die Steuerkontrollen, doch die Automatik reagierte nicht. Die Bedienfelder blieben schwarz.
Sichu überprüfte das Terminal mit dem Multifunktionsarmband, versuchte, eine Datenverbindung zur Positronik herzustellen und ihr eine Reaktion abzugewinnen.
Nach zehn Minuten gab sie es auf. »Wie es aussieht, ist die Steuerung mit Rowenas Biosignatur gesichert. Nur die Arkonidin kann den Gleiter bedienen. Ich kann die Sperre beseitigen, aber das wird mehrere Stunden dauern.« Bedauernd senkte sie das Kinn.
»Die haben wir nicht.« Rhodan zog die Waffe und stellte den Emitter auf Impulsmodus. »Sorgen wir wenigstens dafür, ihren Vorteil auszugleichen. In Deckung!«
Er wartete, bis die anderen auf sicheren Abstand gegangen waren – Caysey und Ututna mit verständnislosem Gesichtsausdruck, Sichu mit grimmigem Einverständnis –, dann schirmte er den Blick ab und legte den Zeigefinger auf den Auslöser.
Er gab vier kurze Schüsse auf das Terminal ab, zerstörte die Steuerung und die Funkanlage. Die Hitze schlug ihm entgegen, ließ die Haut auf seinen Wangenknochen brennen.
Hastig stieg Rhodan aus dem Cockpit und sah durch die offene Luke zu, wie der Kunststoff in zähen Tropfen von den Armaturen troff und sich im Fußraum in einer schwarzen Lache sammelte. Positronikbausteine lagen entblößt da, teils verkohlt, teils zerschmolzen. Wo eben noch ein Bedienfeld gewesen war, befand sich ein rauchendes Loch. Dass die Hitze die Vegetation in Brand setzen würde, hielt Rhodan für ausgeschlossen. Das Bett aus Tannennadeln, das den Hainboden bedeckte, war nass und halb verrottet, die Zweige morsch.
Zufrieden schloss der Terraner die Luke und kehrte zu den anderen zurück. Dieser Gleiter würde nirgendwohin mehr fliegen. Falls Rowena sie nach ihrem Erwachen verfolgte, und damit rechnete er fest, war sie ebenso wie er, Sichu und Caysey auf ihre beiden Beine angewiesen.
»Wie geht es nun weiter?«, fragte er, als er die Wartenden erreichte. Zum zweiten Mal steckte er den Strahler in das Futteral.
»Ich weiß nicht, wo die Silberne Stadt liegt«, gestand Ututna. »In dieser Beziehung muss ich euch enttäuschen. Doch sechs Tagesmärsche von hier, im Tal des Flusses Ondulon, wohnt ein Gott namens Quartam in einem Haus aus Stahl.«
Erstmals seit ihrer Ankunft sah sie Caysey ins Gesicht. »Vor einiger Zeit machte er Rast in unserem Dorf, das war kurz nach deiner Verbannung.« Ihre Miene war herzerweichend, sie bebte förmlich vor Trauer, Schuld und Zuneigung. Tränen glitzerten in ihren Augenwinkeln. »Er sagt, er besitze viele fliegende Kutschen wie diese. Vielleicht erhaltet ihr von ihm eine, die euch in den tiefen Süden trägt.«
»Vielen Dank«, sagte der Terraner aufrichtig. Rhodan und Sichu schüttelten die Hand der Schamanin.
Als die Reihe an Caysey kam, fiel sie der Alten ohne Vorwarnung um den Hals. Tränen flossen. »Danke für alles. Alles Leid, was ich und Graema über euch gebracht haben ...« Sie stockte.
Ututna wirkte überrumpelt. Verdattert ließ sie die Umarmung über sich ergehen, bevor sie sie widerwillig erwiderte. »Schon gut, Mädchen. Es ist eine Schande, das der Vrouhtou uns zwingt, dich zu verstoßen. Aber ich muss an den Rest des Stamms denken.«
Rhodan verstand die Position der Schamanin, und er beneidete sie nicht. Cayseys Verbannung musste sie innerlich zerreißen, doch er ahnte, dass Ututna alles gesagt und getan hatte, was ihr Stand und ihr Glaube ihr erlaubten. Es war ein Zugeständnis, dass sie sie überhaupt aus dem Dorf geleitet und zum Gleiter geführt hatte.
Cayseys Tränen benetzten den Schulterüberwurf der Schamanin. Rhodan ließ ihnen den Moment.
Seine Frau indes sah betreten beiseite, schien plötzlich großes Interesse an ihren Schuhen zu haben. Die Zurschaustellung von Gefühlen war ihr sichtbar unangenehm. Fremden gegenüber gab Sichu sich für gewöhnlich abweisend. Nur, wer sie gut kannte, erlebte ihre leidenschaftliche Art.
Ututna deutete Sichus Verunsicherung offenbar falsch, denn sie löste sich aus Cayseys Umarmung und langte in eine Falte ihres Wickelrocks. »Ich habe ein Abschiedsgeschenk für dich, Grünhäutige!«
»Das ist nicht nötig!« Sichu machte eine abweisende Geste.
Barsch winkte die Schamanin ab. »Du hast ebenso tapfer für unser Dorf gekämpft wie dein Gefährte. Du hast es also verdient.«
Nach kurzem Suchen zog sie einen länglichen, scharf geschliffenen Gegenstand unter dem Rock hervor. Diesen drückte sie der Ator in die Hand, mit dem stumpfen Ende zuerst.
»Nimm dieses Messer. Es taugt nicht als Waffe und ist machtlos verglichen mit dem Flammenstab der Weißhaarigen, doch es ist dem Vrouhtou geweiht und wird euch beschützen.«
Sichu pflückte das Geschenk aus den gichtigen Fingern und hielt es ins Abendlicht – eine bronzefarbene Klinge in einem Heft aus Jade. Kunstvolle Schnitzereien verzierten den Griff: ein Tiger, der einem dreiköpfigen Fabeltier in den Hals biss, umgeben von floralen Ornamenten. Rhodan hätte sich den Dolch gut als Fundstück in einem bronzezeitlichen Grab vorstellen können. Dabei ist die Bronzezeit noch nicht einmal angebrochen.
Fragend sah Sichu ihn an. Ihre Brauen hoben sich, schienen zu fragen: »Soll ich?«
Der Terraner nickte ermutigend. Eindeutig versuchte Ututna auf ihre Weise, sich für den frostigen Empfang zu entschuldigen. Lehnten sie das Geschenk ab, mochte die Alte das als Beleidigung auffassen, und womöglich würden sie auf dem Nachhauseweg an diesen Ort zurückkommen. Dann war es besser, Freunde vorzufinden.
Die Ator klemmte das Heft unter einer Schlaufe ihres Gürtels fest. »Vielen Dank, Ututna. Ich werde es in Ehren halten.«
Rhodan drängte zur Eile. Die Dämmerung fiel über das Land und sie mussten sich vor Anbruch der Nacht einen Vorsprung erarbeiten. Wenn Rowena erwachte, würde sie sie unerbittlich verfolgen, und sie würde wütender sein als zuvor. Es war klug, die Konfrontation so lange wie möglich hinauszuzögern.
Nach einem letzten Gruß verabschiedeten sie sich. Die Wanderer ließen Ututna, den zerstörten Gleiter und das Dorf hinter sich zurück. An einer Untiefe überquerten sie den Bach und stiegen den dahinter liegenden Hügel empor. Schilfhalme wuchsen ihnen über die Köpfe und verbargen sie vor neugierigen Blicken.
Oben angekommen, blieben sie ein letztes Mal stehen und sahen auf das Land, das vor ihnen lag.
In etwa zwei Dutzend Kilometern endete das Schilfmeer abrupt, dahinter reihten sich grasbewachsene Anhöhen. In der Ferne deutete sich schattenhaft ein niedriges Gebirge ab – »die Olgoten«, ließ Caysey sie wissen. Davor, in der Dämmerung nur als dünner Streifen unterhalb des Horizonts zu erahnen, erstreckte sich eine weite Niederung.
»Die Dolgai-Ebene«, behauptete die Atlanterin. »Das Tal des Ondulon liegt irgendwo dort.«
Das also war ihr nächstes Ziel – aber nicht das letzte. Zwischen hier und der Stadt Arkonis lag die Weite eines dem Untergang geweihten Kontinents. Ein langer Fußmarsch lag vor ihnen.
»Dann mal los.« Rhodan umfasste das Talagon und machte den ersten Schritt.