Unermüdlich führte Caysey die beiden Fremden durch die hügelige Landschaft ihrer Heimatregion. Langsam erreichten sie eine Gegend, in der sie selbst noch nie gewesen war. Dank zahlreicher Erzählungen der Jäger ihres Stammes fand sie sich zurecht.
Caysey konnte nicht umhin, Perry Rhodan und Sichu Dorksteiger für ihr Durchhaltevermögen zu bewundern. Die beiden, die sich kurz Perry und Sichu nannten, hatten auf sie zunächst wie Leute gewirkt, die sich in der Wildnis nicht gut zurechtfinden würden. Davon abgesehen, dass sich die beiden nicht auskannten, stellten sie sich gar nicht schlecht an. Seitdem Sichu zweckmäßigere Kleidung trug, bewegte sie sich viel unbefangener und sicherer.
Nach ihrer Nachtwache hatte Sichu darum gebeten, die Robe der Wächterinnen behalten zu dürfen. Das hatte man ihr natürlich verwehrt, denn diese Roben waren nur dem Heiligen Zweck bestimmt. Eine der Frauen hatte Sichu eine Hose aus Ziegenleder und ein Hemd aus rot gefärbter Oika-Wolle angeboten. Das hatte Sichu dankend angenommen und dafür ihr Messer zum Tausch hergegeben.
Caysey hatte deswegen geschimpft. »Was machst du? Das Messer ist viel mehr wert, als die paar Kleidungsstücke.« Sie war zu der Frau gegangen, mit der Sichu getauscht hatte, und hatte noch ein paar Nahrungsrationen für sie drei herausgehandelt. Auf diese Weise blieben ihnen zumindest für einige Zeit verschmorte Wildtiere erspart.
Da sie sich langsam der Dolgai-Ebene näherten und das Zentrum des Weltenschoßes hinter sich ließen, änderte sich das Klima. War es im Gebirge etwas kühler gewesen, zeigte sich nun wieder Frühlingswetter.
Ihre weitere Reise durch den Weltenschoß verlief ohne größere Zwischenfälle. Einmal trafen sie auf einen Kutuno-Bären, der aus seinem Winterschlaf erwacht war und noch etwas benommen durch den Wald stolperte. Caysey wies Perry und Sichu an, sich absolut still zu verhalten. Mit angehaltenem Atem beobachteten sie, wie der fast drei Schritte große Bär zu einem in der Nähe dahinplätschernden Bachlauf trabte und seinen Durst stillte. Danach trottete er zurück, wahrscheinlich, um in seiner Höhle noch etwas zu schlafen. Kaum ein Dutzend Schritte vor ihnen blieb er stehen und hob witternd den Kopf.
Der Kutuno legte den Kopf in den Nacken und stieß ein dröhnendes Brüllen aus, das seine langen, schwarzen Barthaare zittern ließ. Dann setzte er seinen Weg fort.
Nachdem er hinter eine Kuppe verschwunden war, wartete Caysey noch eine Weile, ehe sie den anderen beiden einen Wink zum Weitergehen gab.
»Das war ein ziemlich großer Bär«, meinte Perry bewundernd.
»Ich habe schon größere Exemplare gesehen. Wir können froh sein, dass er noch etwas verschlafen war, und offenbar nicht sehr hungrig. Glaubt mir, einem hungrigen Kutuno wollt ihr nicht begegnen; so schnell könnt ihr gar nicht auf einen Baum klettern ...«
Am Morgen ihres siebten Reisetages öffnete sich der Wald, den sie in den vergangenen Tagen durchquert hatten, und zu ihren Füßen breitete sich die Dolgai-Ebene aus.
»Wir haben es fast geschafft – wir erreichen bald das Tal des Flusses Ondulon. Dort liegt das stählerne Haus.« Caysey war erleichtert. Sie musste zugeben, dass ihr immer schwerer werdender Körper ihr zu schaffen machte.
Ihr Kind hatte offensichtlich nicht mitbekommen, dass es dem Tode geweiht war, denn es strampelte munter vor sich hin, trat sie in die Nieren und schlug wie in diesem Moment fröhlich Purzelbäume. Zumindest fühlte es sich so an. Obwohl es anstrengend war, freute sich Caysey darüber. Gleichzeitig machte es sie traurig. Sie streichelte verstohlen über ihren Bauch.
Ja, mein Kleines, tobe und freu dich des Lebens. Deine Mama wird dafür sorgen, dass es dir gut geht. Perry und Sichu werden mir helfen, ein Heilmittel gegen den Fluch zu finden. Du wirst leben, mein Kleines, wir beide werden leben! Wir haben es fast geschafft.
»Alles in Ordnung?«, fragte Perry, der ihre Geste bemerkt hatte.
Ertappt ließ Caysey die Hände sinken und lachte hell auf. Sie freute sich, dass sich alles zum Guten wenden würde. »Alles bestens. Ich bin froh, wenn ich bald eine Weile sitzen kann.«
Sichu runzelte die Stirn. »Sollen wir eine Pause machen?«
»So kurz vor dem Ziel? Von wegen.« Caysey schüttelte den Kopf und grinste. »Es sei denn, ihr seid schon wieder müde.«
Der Ondulon schlängelte sich wie ein dunkelblaues Band durch die vor ihnen liegende Ebene. Er entsprang weiter südlich in einem der letzten Ausläufer des Weltenschoßes und floss mäandernd zur Dolgai hin, in die er in den Nuun-Sümpfen mündete, erklärte Casey ihren beiden Begleitern.
»Bis zu diesen Sümpfen müssen wir aber nicht?«, erkundigte sich Perry.
»Die Götter mögen es verhindern! Dort wimmelt es von bösen Geistern. Im Zentrum der Nuun-Sümpfe hat der Geisterfürst seinen Palast, in dem er über die Toten richtet.« Caysey schüttelte sich. »Niemand betritt freiwillig die Nuun-Sümpfe. Na ja, außer dem Serenti-Clan, dessen Leute am Rand der Sümpfe siedeln. Sie sind die Einzigen, die halbwegs sichere Wege kennen, denn sie jagen die Bissin-Echsen, die im Sumpf leben. Ihre Schuppen sind hart wie Stein und gut geeignet für Werkzeuge und Rüstungen.«
Sie brauchten nicht bis zur Talsenke hinabzusteigen. Gegen Mittag öffnete sich, einige Hundert Schritte über dem Tal, zu ihrer Linken ein weitläufiges Felsplateau, in dessen Zentrum das stählerne Haus stand. Es war ein kastenförmiges Gebäude, das in der nun hoch stehenden Sonne metallisch glänzte. Eine schillernde, durchsichtige Glocke lag darüber. Von Westen wurde das Gelände zusätzlich durch die Steilwand eines Gebirgsausläufers abgeschirmt.
»Eine arkonidische Forschungsstation«, sagte Perry. Er klang so, als habe er sich bereits so etwas gedacht.
Arkoniden! Cayseys Herz hüpfte. Ihr Ziel war nahe. Ihre Hände umfassten ihren Bauch. Vielleicht finden wir hier die Hilfe, die wir brauchen, mein Kleines!
Neugierig legte Caysey den Kopf schief. »Was ist das für eine schimmernde Hülle, die um das Stählerne Haus liegt?«
»Eine Schutzschirmkuppel. So fernab der Zivilisation, mitten in der atlantischen Wildnis, haben sich die Arkoniden abgesichert.« Sichu wies auf einen Platz in der Nähe des Gebäudes, auf dem mehrere fliegende Kutschen standen. »Dort! Gleich drei Gleiter. Was für ein Glück! Endlich scheinen wir unserem Ziel näher zu kommen.«
»Wir müssen trotzdem vorsichtig sein«, mahnte Perry. »Die Leute hier wissen nicht, wer wir sind und was wir wollen. Wir sollten uns vorsichtig nähern. Caysey, du hast uns zielsicher hierher geführt – jetzt bleibst du hinter mir!«
Caysey war einverstanden – schließlich kannte sie sich mit Arkoniden nicht aus, sondern war als Bittstellerin gekommen. Sie überließ Perry bereitwillig die Führung.
Der blonde Mann ging langsam auf die schillernde Kuppel zu und hob beide Hände auf Schulterhöhe in die Luft, die Handflächen nach vorne gewandt, um zu signalisieren, dass sie in friedlicher Absicht kamen. Zudem rief er etwas in der fremden Sprache der Arkoniden.
»Mit wem redet er?«, fragte sie Sichu erstaunt.
»Er hofft, dass es Audioüberwachung und visuelle Überwachung gibt. Was ich ziemlich sicher annehme.«
Was auch immer das war, Perry hatte Erfolg. Allerdings nicht so, wie sie es sich erhofft hatten: Scheinbar aus dem Nichts tauchten fliegende Metallwesen auf und schwirrten um sie herum. Sie waren unförmig, hatten keine Arme, Beine oder Köpfe und waren etwa so groß wie Kinder. Es waren zwölf Stück, die ohne Flügel auf der Stelle schwebten und sie umzingelten. Am oberen Ende befand sich ein dunkelblaues, rundes Licht. Ist das ihr Gesicht?
»Wachroboter!«, sagte Sichu erschrocken. Sie stellte sich so, dass sie Rücken an Rücken mit Perry stand, Caysey zwischen sich. »Was soll das?«
Eine körperlose Stimme ertönte – sie klang bedrohlich, Caysey verstand kein Wort. Es war die Sprache der Arkoniden.
An den Metallwesen glühten rötliche Lichter auf, sie fuhren schwarze Metallstäbe aus.
Caysey wurde eiskalt. Die Reaktionen von Perry und Sichu zeigten ihr, dass sie in tödlicher Gefahr schwebten. Ihr Baby spürte ihre aufsteigende Angst und strampelte panisch. Sind wir wirklich so weit gekommen, um hier zu sterben?