Überall im stählernen Haus war Magie: Blitzende Lichter umgaben Caysey wie Geisterleuchten. Sie strahlten an der Decke des schmalen Gangs, durch den sie in das Haus gelangt waren. Und in dem ovalen Raum, in den Perry sie gebracht hatte, waren noch mehr: an den Wänden, auf seltsamen Stangen, in verrückten Kästchen.
Lichter ohne Feuer, das ist unglaublich!
Selbst der arkonidische Heiler, der Caysey in Empfang genommen hatte, hielt ein kleines Stäbchen in der Hand, an dessen Ende etwas Winziges strahlend hell glomm. Er leuchtete ihr damit in die Augen und in die Ohren, während er sie fragte, wie genau sie sich verletzt hatte.
Der Mann hatte lange, weiße Haare, die er im Nacken zu einem Knoten verschlungen trug. Seine Haut war nicht so hell wie die von Perry, sondern sah aus, als habe er lange in der Sonne gearbeitet. Seine rötlichen Augen standen weit auseinander und musterten sie eher mit kühlem Interesse als mit Mitgefühl. Er hatte sich als Kassem da Zoltral vorgestellt. Zuerst hatte Caysey ihn nicht verstanden, doch dann hatte Sichu ihr Wunderarmband gehoben und darauf herumgedrückt, wie sie es manche Male tat – und plötzlich hatte das Armband für Caysey die fremden Worte übersetzt.
Sichu gab Perry das Armband. »Es ist wichtig, dass Caysey versteht, was mit ihr geschieht und was ihr besprecht.« Stattdessen nahm sie das Talagon von Perrys Hals und folgte einem mechanischen Mann, einem Roboter, der anders als die Angreifer vor der Station unbewaffnet war und der sie zu Quartam bringen sollte.
Caysey war nun in der Lage, Kassems Worte zu verstehen und auf seine Fragen zu antworten, denn das Armband übertrug auch ihre Sprache in die der Arkoniden. Der Heiler sprach allerdings ohnehin die meiste Zeit mit Perry und nicht mit ihr. Es machte fast den Eindruck, als hielte er sie für zurückgeblieben.
Caysey ließ sich davon nicht einschüchtern und beteiligte sich trotzdem an der Unterhaltung. Dann würde Kassem bald merken, dass sie nicht dumm war. Während des Gesprächs sah sie sich neugierig um, denn in diesem Raum, den Perry Medostation nannte, gab es viel zu entdecken. Noch mehr Magie, andere Zauber: Fenster zum Beispiel, die in der Luft erschienen und dem Heiler wichtige Informationen verrieten.
»Sie hat eine Schramme am Kopf und ein paar tiefere Kratzer an Armen und Beinen, keine Gehirnerschütterung.« Kassem griff nach einem silbernen Werkzeug mit einer konisch zulaufenden Spitze. »Das haben wir mit etwas Heilungsgel schnell behoben.«
»Ich fühle mich nicht besonders erschüttert«, meinte Caysey betont fröhlich. »Ich mache mir allerdings ein wenig Sorgen um mein Kind.« Sie wagte nicht, den Heiler direkt darum zu bitten, sich des Ungeborenen anzunehmen.
Zunächst benutzte Kassem das Instrument, um eine hellblaue Salbe auf ihre Wunden aufzutragen und sie danach mit dem Instrument zu berühren. Zu ihrer Verblüffung fühlten sich die Schrammen innerhalb von Sekunden besser an. Der Schmerz verebbte; sogar der etwas tiefere Riss an ihrem Unterschenkel, den Ututna bestimmt mit Ahle und Sehnen genäht hätte, wurde auf diese Weise versorgt. Der Heiler drückte ihn zusammen, strich ein anderes Gel darüber – und der Riss klaffte nicht mehr auseinander. Der Heiler wischte die Stellen sauber. »So, geklebt. Das wird narbenlos verheilen.«
Caysey klappte vor Erstaunen der Mund auf. »Vrouhtou-Tam!«, entfuhr es ihr. Noch mehr Magie!
Kassem beachtete sie nicht. »Ich gehe davon aus, dass ich hiermit die körperlichen Schäden so weit versorgt habe.« Das Licht über Cayseys Liege erlosch auf eine Handbewegung des Heilers hin.
Caysey beugte sich vor. Ihre Fingerspitzen glitten über die Stelle an ihrem Bein, die eben noch geblutet hatte. Wenn die Arkoniden über solch mächtige Magie verfügen, können sie mein Kleines bestimmt retten und den Fluch der Totgeburt brechen.
»Moment!« Perry hob die Hand. »Wir sind noch nicht fertig. Caysey ist gestürzt und hat Schmerzen im Bauch.«
Der Heiler rollte mit den Augen und schaltete die Lampe wieder an. »Na schön, ich schaue sie mir noch mal an.« Er wies Caysey an, sich zurückzulehnen, und schob ihren Wickelrock nach oben. Er verteilte eine durchsichtige, gallertartige Substanz auf ihrem Bauch und legte eine Art Stoffmatte darauf, die sich ihrem geschwollenen Körper sofort anpasste.
Ihr Kind trat energisch zu – was immer gerade passierte, es schien diese Behandlung nicht zu mögen. Die Tritte beruhigten Caysey, denn sie zeigten, dass ihr Kind lebte und munter war.
Kassem wedelte mit den Fingern, und eines der schwebenden Fenster erschien. Das Fenster zeigte – ein Baby! Es lag zusammengekrümmt auf der Seite, ein Däumchen in den Mund gesteckt. Das Bild wirkte irgendwie verschwommen und unwirklich. Es zeigte dessen ungeachtet eindeutig ein lebendiges, wenngleich sehr kleines Kind.
»Was ist das?«, fragte Caysey überrascht.
Kassem antwortete nicht, sondern berührte das Bild mit dem Finger und vergrößerte so bestimmte Bereiche. Winzige, geschlossene Augen, kleine Hände und Füße, ein pulsierendes Herz.
»Das ist dein Ungeborenes, Caysey«, sagte Perry sanft. »Es sieht so aus, als ob es ihm gut geht.«
»Das ist ... mein Kleines?« Cayseys Stimme bebte vor Unglauben, Freude und Staunen. Sie betrachtete die Stoffmatte, die sich an ihren Leib schmiegte. Das Zauberding macht irgendwie, dass wir in meinen Bauch sehen können.
»Ein männlicher Fötus, um genau zu sein. Er ist intakt, soweit ich sehen kann.« Kassem runzelte die Stirn. »Allerdings ist da etwas, das mir nicht gefällt. Vom Sturz kommt das sicher nicht. Ist nicht unser Problem.«
Ein Junge! Es ist ein Junge!
Caysey blickte Perry flehend an. »Bitte! Du hast versprochen, dich für uns einzusetzen!«
Perry nickte ihr beruhigend zu. »Kassem, bitte untersuchen Sie Caysey genauer. Sie hat uns erzählt, dass es in ihrer Familie bereits mehrere Totgeburten gab.«
»Ach ja?« Nun klang geringes Interesse in Kassems Stimme durch. »Nun, dann werde ich einen kleinen, invasiven Eingriff vornehmen, um an Genmaterial zu gelangen.«
Der Heiler zückte eine Nadel und stach ihr damit in den Bauch.
Caysey ließ die Prozedur geduldig über sich ergehen, denn sie hoffte, dass der Heiler eine Idee hatte, wie er ihr helfen konnte.
»Die Auswertung dauert einige Zentitontas.« Während Kassem eine Blutprobe von Casey auf ein viereckiges Kristallplättchen strich und in einen silbergrauen Kasten steckte sowie das Gleiche mit ein paar Tropfen Flüssigkeit tat, unterhielt sich Perry leise mit Caysey.
»Das hier ist eine sehr gut ausgestattete Medostation. Kassem kann bestimmt herausfinden, was mit dir ... mit euch los ist.«
»Da bin ich ganz sicher.« Caysey lächelte Perry dankbar an. »Das hier ist alles so ... phantastisch. Ich bin sicher, dieser arkonidische Heiler hat den richtigen Zauber, um mir zu helfen. Und wenn mein ... mein Sohn überlebt, dann muss er nicht das gleiche Schicksal erleiden wie meine Schwester oder ich. Der Fluch der Totgeburt trifft nur Frauen. Die Männer können gesunde Kinder zeugen.«
Perry klopfte ihr auf die Schulter. »Es ist keine Zauberei, dessen solltest du dir bewusst sein. Aber ich teile deinen Optimismus.«
»Ich würde an Ihrer Stelle nicht zu voreilig sein«, meldete sich Kassem zu Wort. »Da sind einige Dinge, die durchaus beunruhigend sind.«
»Was genau ist Ihnen aufgefallen?«, fragte Perry stirnrunzelnd.
Der Heiler wies auf das Fenster, in dem Cayseys Kind zu sehen war. »Das dreidimensionale Ultraschallbild zeigt uns das Kind sehr deutlich. Es ist aktiv, was an und für sich ein gutes Zeichen ist. Doch zwei Sachen sind bedenklich: Der Herzschlag ist etwas zu unregelmäßig, sehen Sie?« Er wies auf den wummernden Fleck.
Caysey begriff nicht, was er meinte. Das Herz ihres Kindes schlug, war das nicht das Wichtigste?
»Wahrscheinlich ist es für einen Laien nicht so gut zu erkennen: Das Kind scheint einen Herzfehler zu haben. Mein Gerät ist nicht differenziert genug, um Details zu erkennen. Ich tippe auf ein Loch in der Herzwand. Es kann gut sein, dass der Fötus die Anstrengungen der Geburt nicht übersteht. Die gute Nachricht ist, dass so etwas mit modernen medizinischen Methoden leicht pränatal behoben werden kann.«
Caysey stieß den Atem aus, den sie angehalten hatte. »Du kannst mir helfen? Mein Kind wird leben?«
Kassem beachtete sie nicht. »Das ist nicht das Einzige. Sehen Sie, hier.« Er zoomte den Kopf heran. »Hier bildet sich eine Hydrocephalie – also, dort sammelt sich Hirnflüssigkeit an. Um herauszufinden, ob das durch eine krankhafte Überproduktion von Hirnflüssigkeit verursacht wird oder ob es eine andere Erklärung gibt – ein Blutgerinnsel etwa –, bräuchte man einen feineren Scan, auf den ich hier nicht eingerichtet bin. Wenn nichts dagegen unternommen wird, fordert diese Flüssigkeit Raum, es kommt zu einer Schwellung. Bei beiden Symptomen zusammen glaube ich, dass die Überlebenschancen des Fötus nicht besonders hoch liegen.« Er wandte sich an Caysey. »Sind in deiner Familie Kinder mit übergroßen Köpfen geboren worden?«
Langsam nickte Caysey. »Ja. Oder mit anderen Missbildungen. Das ist der Fluch.«
»Interessant.« Kassem tippte auf einem seltsamen, flachen Kasten herum. Ein anderes Fenster erschien. Darauf war kein Bild, sondern fremdartige Schriftzeichen zu erkennen. »Die Auswertung des Fruchtwassers ergibt noch etwas anderes: Der Fötus produziert ein seltenes Hormon. In dieser geringen Menge ist es nicht schlimm, aber es ist ein Stresshormon – das heißt, während der Geburtswehen wird der Fötus mehr davon produzieren, und die Wirkung wird für die Mutter verheerend sein. Das Hormon bewirkt, dass sich die Gebärmutter nach Ablösen der Plazenta nicht zusammenzieht. So können sich die Blutgefäße nicht schließen, um die Blutung zu stoppen – also verblutet die Mutter unter der Geburt.« Wieder sah Kassem Caysey an. »Ich nehme an, die Familienmitglieder, von denen du erzählt hast, sind genau so gestorben.«
Cayseys Mund wurde trocken, als sie an ihre Schwester dachte. Plötzlich waren ihr alle Worte abhandengekommen. Sie konnte nur nicken.
»Aber wieso?«, fragte Perry an ihrer Stelle. »Was verursacht diese Erkrankung und die Wirkung auf die Mutter?«
»Damit kommen wir zur Analyse des genetischen Codes. Bei der Mutter liegt ein Gendefekt vor, der die Krankheiten auslöst. Dieser Defekt ist als zusätzliches Chromosom mit dem 23. Chromosom gekoppelt – dem Chromosomensatz, der das Geschlecht bestimmt. Da die junge Frau gesund geboren wurde, schätze ich, dass die Erbkrankheit vom X-Chromosom des Vaters übertragen wurde. Eine faszinierende Abnormität.«
Perry horchte auf. »Wie meinen Sie das?«
Kassem vergrößerte ein Bild, das für Caysey aussah wie zwei sich umwindende Blumenranken. »Eine Trisomie, die ich so noch nie gesehen habe. Dieser Defekt erinnert mich an eine Genmanipulation und ist fast zu spezifisch, um zufällig zu sein.«
»Jemand hat Cayseys Gene manipuliert?«
»Unsinn!« Kassem winkte ab. »Ich sagte ›fast‹. Das ist selbstverständlich eine Mutation. Wer sollte sich für die Gene dieser Wilden interessieren?«
»Natürlich.« Perry wirkte nachdenklich.
Caysey hatte so gut wie nichts von dem begriffen, was Kassem gesagt hatte. Ihr war nur eines wichtig. »Kannst du mir helfen? Kannst du mein Kind und mich retten?«
Das erste Mal reagierte Kassem auf ihre Frage und sah sie dabei direkt an. »Nein. Ich bedauere, mit den Möglichkeiten dieser Station kann ich nicht helfen. Ein Heilmittel gibt es ohnehin nicht, es ist ein verdammter Gendefekt.«
Caysey glaubte, ihr Herz würde stehen bleiben. Sie fühlte Perrys Hand auf ihrer Schulter.
»Es tut mir leid«, sagte Perry leise.
Cayseys Herzschlag setzte gefühlt wieder ein. Und mit ihm kam der altbekannte Trotz, der Unwille, sich geschlagen zu geben. »Du sagst ›mit den Möglichkeiten dieser Station‹. Das heißt, dass du mir hier nicht helfen kannst. Aber woanders geht es vielleicht?«
Kassem nickte anerkennend. »Du bist erstaunlich schnell von Begriff für eine Wilde. Ja, ich denke, in Arkonis könnte man das Kind im Mutterleib am Herzen operieren und der gefährlichen Hormonausschüttung während der Geburt medikamentös entgegenwirken. Wegen des angesammelten Hirnwassers ließe sich ebenfalls eine Lösung finden, je nach Ursache. Das sind Krankheiten, die mit der modernen arkonidischen Medizin leicht zu therapieren sind.«
Der Griff von Perrys Hand verstärkte sich. »Das ist eine gute Nachricht.«
Caysey atmete auf. »Arkonis. Die silberne Stadt im Südwesten – dorthin seid ihr unterwegs, oder, Perry?«
»Ja. Und ich verspreche dir, dass wir dich dorthin mitnehmen. Allerdings müssen wir Quartam dazu überreden, uns einen Gleiter zu überlassen.« Perry wandte sich Kassem zu. »Können Sie mir das, was Sie herausgefunden haben, auf einen Speicherkristall kopieren? Dann müssen die Ärzte in Arkonis nicht bei null anfangen.«
Kassem stimmte schulterzuckend zu. »Ich weiß zwar nicht, ob Sie jemanden finden, der eine Eingeborene behandelt, doch Sie bekommen die Daten. Ich schließe noch die Untersuchung ab und verabreiche der Frau ein paar wehenhemmende Mittel gegen die Krämpfe. Und vielleicht noch ein Medikament, um die Lungenfertilität des Fötus zu beschleunigen. Das ist jedoch alles umsonst, wenn sich keine Möglichkeit findet, die Gefahren während der Geburt zu reduzieren und den Fötus vorab von dem Herzleiden und der Ansammlung der Hirnflüssigkeit zu kurieren.«
»Dafür werden wir sorgen. Danke, Kassem.« Perry wandte sich noch einmal Caysey zu. »Ruh dich aus. Ich werde zusammen mit Sichu versuchen, Quartam auf unsere Seite zu ziehen.« Damit verließ er den Raum.