14.

 

Caysey saß zum ersten Mal in einer der fliegenden Kutschen und war deswegen gleichzeitig aufgeregt und nervös. Perry hatte sie direkt nach dem rasanten Abflug in einen der Sitze bugsiert und ein paar Handbewegungen gemacht, woraufhin sie fühlte, dass unsichtbare Kräfte sie festhielten.

»Erschreck dich nicht«, sagte er. »Das sind nur Prallfelder, die verhindern sollen, dass du während des Fluges verletzt wirst. Das ist nur ein kleiner Gleiter und ein altes Modell. Ich nehme an, dass er über nicht allzu effektive Andruckabsorber verfügt.«

»Geht so«, mischte sich Sichu ein, die sich auf einen Platz ganz vorne gesetzt hatte. Statt Zügeln gab es ein buntes Bild, auf dem sie herumdrückte und mit dem sie die Flugkutsche – den Gleiter, verbesserte sich Caysey – zu lenken schien. »Allerdings ist die Maschine nicht raumtauglich. Wir werden also dicht über dem Boden bleiben müssen.«

»Machst du Witze?« Fassungslos starrte Caysey aus dem Fenster. Sie schossen etwa 200 Schritte über dem Boden dahin, hatten die Ausläufer des Gebirges bereits hinter sich gelassen und überflogen die grünen Wiesen im Tal des Ondulon. »Nah am Boden?«

Perry grinste und drehte sich zu ihr herum. »Gleiter können normalerweise noch viel höher fliegen. Dieser hier nicht. Wir werden eine Weile bis Arkonis brauchen.«

Sichu studierte das bunte Bild in einem der kleinen Fenster vor ihr. »Etwa einen Tag für die dreitausend Kilometer – morgen Vormittag dürften wir die Stadt erreichen.«

Caysey lehnte sich zurück. »Schon morgen? Das ist ja großartig.« Sie lachte. »Wenn ich meinem Sohn eines Tages erzähle, dass ich mit einer fliegenden Kutsche zu dem Ort gebracht wurde, an dem die Arkoniden sein Leben gerettet haben, dann wird er glauben, ich erzähle ihm Märchen.«

Perry und Sichu zogen die Anzüge an, die ihnen der Heiler mitgegeben hatte. Caysey jedoch hatte Scheu, das für sie vorgesehene Kleidungsstück anzulegen.

»Es ist nicht richtig«, meinte sie zögernd. Der Anzug sah eng und unbequem aus. Sollte sie ihn wirklich gegen den bequemen, weiten Wickelrock eintauschen? Bei dem Gedanken daran fühlte sich ihr Bauch unbehaglich. »Diese Kleidung ist nicht für Menschen wie mich bestimmt.«

»Dieser Anzug schon; Kassem hat ihn extra für dich programmiert.« Sichu, die mit Perry den Platz gewechselt hatte, um sich umzuziehen, drückte ihr das Kleidungsstück in die Hand. »Er wird gegen deine Krämpfe helfen.«

»Ich habe gar keine Krämpfe mehr.« Caysey schüttelte den Kopf. Sie gab Sichu ihr Armband zurück, das sie noch immer bei sich trug. »Der Heiler hat mir bereits geholfen.« Sie ließ sich darauf ein, den Anzug dann anzulegen, wenn sie wieder Probleme bekommen sollte.

Sie verbrachten fast den ganzen Tag im Gleiter. Am frühen Nachmittag legten sie eine kurze Rast am Rand der Tinnischen Moore ein, um sich die Füße zu vertreten und etwas aus einer klaren Quelle zu trinken. Sie waren nun weit in die Ferne vorgedrungen.

Perry und Sichu nannten das Land Atlantis. Das gefiel Caysey. Ob es etwas mit ihrem Götterfreund zu tun hatte, diesem Atlan? Die Namen waren sicher nicht grundlos ähnlich. Da Perry und Sichu jedes Mal abblockten, wenn die Sprache auf diesen Atlan kam und dann auch häufig in ihre Stammessprache wechselten, vermied Caysey das Thema.

Stattdessen erzählte sie den beiden noch mehr über das Land. Obwohl sie selbst noch nicht hier gewesen war, kannte sie es aus Erzählungen und Legenden.

»In diesen Mooren soll eine Dämonin leben, ein Geschöpf von Kronos. Er hat viele verderbte Kreaturen erschaffen, wie Zentauren – Menschenwesen mit Pferdeleibern. Die Dämonin hier nennt sich Midus, und sie verwandelt mit ihrem Geheul arme Seelen in steinerne Sklaven, die wir Tinnen nennen.« Caysey wies auf einen mannshohen, schlanken Felsen, von denen mehrere zu sehen waren. »Der Vrouhtou hat einige von ihnen getötet, und sie erstarrten in dieser Form. Die ganzen Tinnischen Moore sind voll davon.« Der Anblick der Steingestalten verursachte ihr Gänsehaut.

Gleichzeitig war sie begeistert davon, die Tinnen mit eigenen Augen zu sehen. Sie hätte nie gedacht, einmal so weit zu reisen. Dennoch überwog der Schauder. »Lasst uns schnell weiterreisen, ehe die Midus uns erwischt!«

Sichu und Perry lächelten nachsichtig; wieder einmal glaubten sie Caysey nicht. In ihrem Volk schien man nicht viel von überlieferten Geschichten zu halten.

Perry war trotzdem von Cayseys Erzählungen fasziniert. »Es gibt viele Geschichten über den Vhrato. Was ist der Legende nach aus ihm geworden?«

»Er flog ins Licht«, sagte Caysey schlicht, während sie zurück zum Gleiter gingen. »Nachdem alle Schlachten geschlagen waren. Und als er unsere Welt verließ, weinten die Götter so sehr, dass sie eine ganze Schlucht mit Tränen füllten. Sie liegt im Westen und ist noch heute von den göttlichen Tränen gefüllt.«

»Wahrscheinlich Wasserfälle, oder?«

Caysey musste grinsen und folgte ihm in den Gleiter. »Ich war noch nicht dort, doch ich vermute es. So wie du es ausdrückst, klingt es aber langweiliger.«

Der Schmerz kam am frühen Abend so schnell und heftig, dass Caysey übel wurde. Sie keuchte auf und krallte ihre Hände in die Lehne des Sitzes vor ihr.

»Alles in Ordnung?« Sichu war sogleich an ihrer Seite.

»Nein.« Caysey legte die Hände auf ihren Bauch. Er war hart wie Stein. »Ich brauche Hilfe.«

»Zieh den Anzug an!« Sichu deutete auf das Bündel Stoff neben Caysey.

Caysey krümmte sich. »Das kann ich nicht. Ich brauche einen Heiler.«

»Bis nach Arkonis dauert es noch Stunden. Wir haben gerade mal die Hälfte der Strecke hinter uns.« Besorgt blickte Perry über die Schulter zu ihnen.

Caysey sah aus dem Fenster. Im Dämmerlicht unter ihnen erkannte sie eine Gruppe von großen Seen, angeordnet wie die Blätter eines Kleeblattes.

»Das sind die Vier-Seen«, platzte es aus ihr heraus. »Wir müssen ins Zentrum, bring uns dorthin!«

Perry folgte umgehend ihrer Bitte.

Sichu runzelte die Stirn. »Was hoffst du, dort zu finden?«

Trotz ihrer Schmerzen lächelte Caysey. »Ich hoffe es nicht, ich weiß, wen wir dort antreffen: eine große Schamanin.«

 

*

 

Das Lager war genau dort, wo es laut Cayseys Beschreibung sein sollte: zwischen den Vier-Seen. Perry setzte den Gleiter in der Nähe auf; unbemerkt würden sie sicher nicht bleiben.

»Das sind Nomaden.« Sichu half Caysey beim Aussteigen, blieb misstrauisch. »Woher wusstest du, wo sie sein würden?«

»Der Mond hat es mir verraten.« Caysey wies nach oben. »Der Wasser-Clan lagert jede Jahreszeit auf einem anderen See, und zum Vollmond zwischen den Jahreszeiten schlagen sie für zwei Wochen ihr Lager dazwischen auf.«

»Auf dem See? Nicht am See?«

»Es heißt, sie leben auf schwimmenden Inseln, die sie selbst gebaut haben. Von dort aus fangen sie Fische und andere Wassertiere.«

Perry kam nach und stützte Caysey, die ihren Bauch umklammert hielt und sich Schritt für Schritt dem Lager näherte. Eine kleine Gruppe, schwarze Schatten in der Dämmerung, kam ihnen entgegen.

»Woher weißt du von ihnen?«

»Ututna hat es mir erzählt. Alle zehn Jahre treffen sich die Schamanen aller Stämme zwischen den Vier-Seen zu einem mächtigen Ritual, bei dem die jungen Geistheiler von den alten anerkannt werden. Ututna war fünf Mal dabei, aber beim letzten Mal war sie zu alt, um die weite Reise auf sich zu nehmen. Wenn ich nicht schwanger geworden wäre, hätte sie mich zu ihrer Nachfolgerin ausgebildet, und ich wäre das nächste Mal, in acht Jahren, hierher gereist. Wahrscheinlich ist sie deswegen doppelt enttäuscht von mir, denn als Schamanin muss man Keuschheit geloben. Hat nicht ganz funktioniert bei mir.« Cayseys Seufzen verwandelte sich in ein schmerzerfülltes Stöhnen, als ein neuer Krampf durch ihren Bauch zuckte. »Ututna sagt, Heyoweh von den Vier-Seen ist die mächtigste Heilerin, die sie kennt.«

Der Schmerz übermannte Caysey, und sie verlor kurzzeitig das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kam, lag sie an einem Feuer. Über sich, im flackernden Licht der Flammen, erkannte sie ein breites, uraltes Gesicht mit von tausend Falten umrahmten, gelben Augen.

»Heyoweh?«, fragte sie schwach.

Das Gesicht grinste. »So nennt man mich. Du bist also Ututnas Totgebärerin. Deine Freunde haben's mir verraten. Ututna hatte recht, als sie von dir gesprochen hat. Die Gabe ist stark in dir, stärker als in uns anderen. Du hast Glück, dass dich die zwei Gottgesandten begleiten, sonst hätte mein Stamm dich im Kleinen Blütenblatt ertränkt.«

Caysey wollte etwas erwidern, aber ihr wurde erneut schwarz vor Augen.

Lichter, Gesänge und feuchte Finger, die über ihren Bauch glitten – das war alles, an das sich Caysey später von dieser Nacht erinnerte.

Als sie – dem Mondstand nach weit nach Mitternacht – erwachte, ging es ihr besser. Und ihr Kind lebte noch, wie ihr ein sanfter Tritt in die Blase bewies. Ihr Bauch war nackt und mit Lehm aus den Seen in verschlungenen Mustern bemalt, erkannte sie im sanften Feuerschein.

Sie stemmte sich auf die Ellenbogen hoch und sah sich um. In der Nähe am Feuer lagen Perry und Sichu und schliefen. Auf der anderen Seite der Flammen saß Heyoweh und starrte sie aus ihren Raubtieraugen an.

»Du hast mich gerettet«, flüsterte Caysey dankbar.

Langsam schüttelte Heyoweh den Kopf. »Nein. Ich habe verhindert, dass dein Kind zur Welt kommt. Wäre es geboren worden, wärt ihr beide tot.«

Ein kalter Schauer überlief Caysey. »Dann kennst auch du kein Mittel gegen den Fluch?«

»Dagegen gibt es kein Mittel. Deine Götterfreunde haben gesagt, in der Silbernen Stadt kann man dir helfen.«

»Ja. So heißt es.«

»Dann geh dorthin! Bei den Stämmen gibt es nirgendwo Heilung für dich.«

Das Urteil war endgültig und schmerzte Caysey mehr, als die Krämpfe es getan hatten.

Heyoweh wies um sich. »Seit Jahrhunderten zieht mein Stamm von See zu See – vom kleinen Blütenblatt zum großen Blütenblatt, vom Mutterblatt zum Blatt der Ahnen. Bei uns gibt es keine Totgebärerinnen, denn vor langer Zeit hat man alle, die zu solchen Familien gehörten, ertränkt. Wenn meine Leute ahnen würden, was du bist, wäre es dein Todesurteil.«

»Ich weiß. Warum hast du mich nicht sterben lassen?«

»Weil ich dein Spiegelbild im Wasser gesehen habe. Die Ahnen sagen mir, dass deine Zeit noch nicht gekommen ist. Geh in die Silberne Stadt, Kleine, und finde dein Schicksal. Überlege dir jedoch genau, was dir dein Schicksal wert ist.« Ihr Blick wanderte zu Perry und Sichu und blieb am Talagon hängen. Er war nicht freundlich. »Diese Fremden – sie kennen die Götter. Und sie bringen Verderben. Triff deine Entscheidungen weise, Totgebärerin.«