Lange vor Sonnenaufgang brachen sie auf. Rhodan war froh, das Lager der Nomaden hinter sich zu lassen. Die Atlanter waren nicht unfreundlich gewesen – aber auch nicht besonders freundlich. Wenn er es richtig verstanden hatte, wusste nur die Schamanin Heyoweh um Cayseys Status als Totgebärerin. Sie hatte gegenüber ihren Leuten geschwiegen und die Schwangere behandelt, sie aber, sobald es Caysey besser ging, geweckt und unmissverständlich zum Gehen aufgefordert.
»Wenn ihr länger bleibt, werden die Wasser der Vier-Seen zu Gift«, hatte sie düster behauptet.
Da sie es ohnehin eilig hatten, ließ sich Rhodan auf keine Diskussionen ein. Noch hatten sie den halben Kontinent zu durchqueren.
Immerhin hatte der Zwischenfall ein Gutes gehabt: Caysey war nun leicht davon zu überzeugen, den Schutzanzug anzulegen.
»Er ist überhaupt nicht unbequem«, wunderte sie sich, nachdem sie hineingeschlüpft war.
Sichu musste lachen. »Das hätte ich dir vorher sagen können. Diese Anzüge passen sich perfekt dem Körper an. Und in deinem Fall kümmert sich die integrierte Medofunktion darum, dass du keine weiteren Krämpfe bekommst. Es ist zwar nur ein recht simpler Überlebensanzug mit nur grundlegenden Diagnose- und Therapiefähigkeiten. Kassem hat die Medo-Depots entsprechend bestückt. Für eine Weile dürftest du damit auskommen. Auf jeden Fall, bis wir in Arkonis sind.«
Es war bereits Mittag, als sie die Hauptstadt erreichen. Noch bevor der Raumhafen mit bloßem Auge zu erkennen war, meldete sich die Leitstation. »Sie befinden sich im Anflug auf militärisches Gelände. Senden Sie Ihre Identifikation.«
Da Sichu gerade am Steuer saß, suchte Rhodan nach gespeicherten Codes in der Positronik. »Wir haben hier eine persönliche ID-Nummer von Quartam. Sollen wir die nehmen?«
»Ich weiß nicht recht. Ich hatte während unseres Gespräches nicht den Eindruck, dass Quartam in Arkonis besonders gern gesehen ist. Vielleicht handeln wir uns dadurch nur Ärger ein.«
»Da könntest du recht haben. Hier ist noch eine Standardkennung – wahrscheinlich wird die genutzt, wenn jemand anderes als Quartam den Gleiter nimmt, Kassem oder sonstiges Personal.«
»Versuchen wir es.«
Der Code wurde widerspruchslos akzeptiert, die Leitstation wies ihnen einen Landeplatz am Rande des Raumhafens zu.
»Das war ja einfach.« Sichu klang so misstrauisch, wie Rhodan sich fühlte.
Caysey sah aufgeregt durch die Gleiterfenster Arkonis näher kommen. »Die silberne Stadt! Ich hätte nicht gedacht, dass ich sie jemals mit eigenen Augen sehen würde.«
Rhodan musste zugeben, dass ihn der Anblick berührte. Die Stadt war noch im Entstehen begriffen; der kelchförmige Trichterbau des Gouverneurspalastes, zwar noch im Aufbau, aber wegen seiner exponierten Lage auf einem Hügel weithin sichtbar, war das einzige arkontypische Bauwerk. Die anderen fertiggestellten Gebäude waren zweckdienliche Kastenbauten; vielleicht würde sich das mit der Zeit noch ändern. Schwebekräne arbeiteten an Rohbauten, Container und Gerüste gehörten zum Stadtbild.
Am Rand der Stadt lag ein tempelartiges Gebäude, ähnlich den Mayapyramiden in Südamerika. Rhodan erinnerte sich, dass Atlan im Zusammenhang mit dem ersten Kontakt zu den Einwohnern von Atlantis von so einem Gebäude gesprochen hatte. Die Pyramide wirkte verlassen, Rhodan entdeckte keine weiteren Spuren einheimischer Besiedlung.
Caysey schien der Anblick nicht zu beunruhigen; zu sehr versetzte sie die Aussicht, ihr Ziel zu erreichen, in Freude. Ihre Finger strichen unablässig über ihren Bauch, der sich unter dem grauen Überlebensanzug auffällig abzeichnete. Sie formten Linien und Zeichen, als ob sich Caysey auf diese Weise mit ihrem Ungeborenen unterhalten würde.
Wie immer fühlte Rhodan den Anflug eines schlechten Gewissens, während er Caysey betrachtete. Sie setzte so viel Hoffnung in die Behandlung in Arkonis – dabei waren sie und ihr Kind aus ganz anderen Gründen zum Tode verurteilt. In fünf Jahren würde der Kontinent untergehen, und mit ihm seine Bewohner.
Andererseits: Wer konnte sagen, was Cayseys Schicksal war? Womöglich würde sie zu den Überlebenden zählen, wenn sie die Chance bekam, den »Fluch« der Genmutation hinter sich zu lassen.
Sichu setzte den Gleiter auf dem vorgegebenen Landefeld auf und schaltete die Triebwerke ab. »Und nun?«, fragte sie. »Gibt es im Gleiter noch irgendetwas, was uns in der Stadt weiterhelfen kann?«
»Keine Ahnung. Wir wissen nicht einmal, welche Währung hier gilt, um im Notfall etwas kaufen zu können. Obwohl es logisch wäre, wenn in der Kolonie arkonidische Chronners gelten.«
Sie sahen sich um, durchwühlten ein paar Ablagefächer.
»Mit den Chronners könntest du recht haben.« Sichu hielt eine einzelne Lochmünze in die Höhe, die in einem Ablagefach im Cockpit gelegen hatte. Amüsiert schnippte sie sie in die Luft und fing das sich drehende Geldstück wieder auf. »Obwohl wir mit einer einzelnen Zehn-Chronner-Münze bestimmt nicht viel anfangen können.«
»Das glaube ich auch nicht.« Rhodan musste grinsen. »Nimm sie trotzdem mit. Quartam wird es nicht in den finanziellen Ruin treiben, und vielleicht brauchen wir irgendwo ein Trinkgeld oder so. Ich habe keine Ahnung, was die Münzen dieser Tage wert sind.« Er hatte einen ID-Chip gefunden, der möglicherweise von Quartam stammte, vielleicht nur die Fahrzeugdaten enthielt. »Auch bei diesem Ding weiß ich nicht, ob es uns irgendwie weiterhilft.«
»Wir werden es bald herausfinden.« Caysey deutete durch die Frontscheibe des Gleiters. »Wir bekommen Besuch.«
Tatsächlich näherte sich eine Schwebeplattform, auf der ein militärisch gekleideter Arkonide und ein Sicherheitsroboter standen. Der Militärpolizist machte auf Rhodan keinen aggressiven, sondern eher einen gelangweilten Eindruck.
»Das Empfangskomitee. Wahrscheinlich Routine, wenn man auf einem kolonialen Raumhafen landet.« Rhodan verbarg das Talagon in einer Tasche seines Überlebensanzuges. Er hätte ein schlechtes Gefühl dabei, es offen in Arkonis zu tragen.
Sie stiegen aus dem Gleiter, und sofort verwandelte sich die Miene des Militärpolizisten in aufmerksames Misstrauen. Die Schwebeplattform setzte neben ihnen auf, der Polizist grüßte höflich, obgleich herablassend.
»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass dieser Gleiter von Kolonialarkoniden gesteuert wird«, sagte der Arkonide, dessen Rangabzeichen ihn als Orbton auswies. Er musterte Rhodan mit gleichgültigem Interesse, die beiden Frauen mit deutlicher Abneigung.
Trotz der Anzüge waren die grüne und dunkelbraune Hautfarbe ein deutliches Zeichen ihrer nicht-arkondischen Herkunft. Der Blick des Polizisten blieb an Cayseys gewölbtem Bauch hängen; er runzelte die Stirn.
Rhodan entging nicht, dass der Sicherheitsroboter auf erhöhte Bereitschaft umgeschaltet hatte.
»Wir sind im Auftrag unseres Arbeitgebers unterwegs: Quartam da Quertamagin.« Rhodan hatte ein ungutes Gefühl, den Namen zu benutzen. Da sie jedoch über keinerlei Papiere verfügten, blieb ihm nichts anderes übrig. Womöglich hätte man sie sonst des Diebstahles bezichtigt. Er reichte dem Orbton den ID-Chip.
Der Militärpolizist steckte ihn in ein Lesegerät und schürzte die Lippen. »Dieser Gleiter gehört tatsächlich dem alten Irren, der in der Wildnis in seiner Forschungsstation hockt und sich ständig mit dem Oberkommando anlegt«, meinte er. »Wusste gar nicht, dass er noch weitere Freiwillige gefunden hat, die es mit ihm dort aushalten.« Er klang eher mitleidig als misstrauisch.
»Wir sind noch nicht lange dort.« Sichu setzte ein gezwungenes Lächeln auf. »Ich verstehe jedoch, was Sie meinen. Heute hat er uns hierhergeschickt, um einige Beschwerden im Gouverneurspalast abzugeben und ein paar Besorgungen zu erledigen.«
»Tatsächlich?« Skeptisch zog der Orbton den Chip aus dem Lesegerät und reichte ihn Rhodan zurück. »In den Palast kommt man nicht einfach so. Habt ihr einen Termin, den mir jemand bestätigen kann?«
»Ähm, also eigentlich ...«
»Ich weiß nicht, ob ich euch passieren lassen kann, wenn nicht klar ist, dass ihr empfangen werdet.« Missmutig schnaufte der Orbton. »Wahrscheinlich wird sich da Quertamagin dann wieder über mich beschweren, weil ich ihm angeblich mit unserer Bürokratie Steine in den Weg lege, aber so sind nun mal die Vorschriften.« Er tippte etwas auf seinem Armbandkommunikator.
Rhodan wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Wir werden hier doch nicht tatsächlich an Arkons Verwaltungsapparat scheitern?
Caysey legte den Kopf schief. »Hör mal, du scheinst ein netter Mann zu sein«, sagte sie, ehe Rhodan sie bremsen konnte. Sichus Armband übersetzte ihre Worte umgehend ins Arkonidische. »Ich sehe dir an, dass du eigentlich etwas Besseres zu tun hast, als dich mit uns hier herumzuschlagen, nicht wahr?«
Der Orbton sah auf, mit einer Mischung aus Erstaunen und Verärgerung. Er setzte zu einer Erwiderung an.
Caysey kam ihm zuvor. »Du bist völlig unterfordert, und solche Leute wie wir stehlen dir nur die Zeit, glaubst du. Ich kann verstehen, dass du so denkst. Und wir wollen euch wirklich nicht belästigen. Du brauchst dich nicht länger mit uns zu befassen, denn es ist eigentlich unser Problem, ob der Gouverneur der Silbernen Stadt uns anhört, oder?«
Eigentlich sagte Caysey nicht »Gouverneur«, sondern »Herrscher«, aber die Mikropositronik des Armbandes war intelligent genug, um das richtige Wort zu wählen.
Caysey fuhr fort: »Ich bin sicher, dass man uns in den Palast einlässt, wenn man hört, was mein Freund zu sagen hat.«
Der Orbton hob die Augenbrauen. »Ach ja? Und das wäre, außer Beschwerden des alten Zausels?«
Rhodan sah die Chance, die ihm Cayseys ungewöhnliche Gabe, Menschen zu lesen, eröffnet hatte. Er zückte den Datenkristall mit ihrer Krankengeschichte. »Wir haben Informationen, die den Gouverneur sicherlich interessieren.« Verschwörerisch senkte er die Stimme. »Da Quertamagin weiß nicht, dass wir sie aus der Station geschmuggelt haben.« Gespannt wartete er darauf, ob der Militärpolizist den Bluff schluckte.
»Soso ...« Der Orbton sah zwischen ihnen hin und her, dann machte er eine gleichgültige Geste. »Du hast recht, ist eigentlich nicht mein Problem, wenn man euch im Palast die Tür vor der Nase zuknallt. Versucht euer Glück.« Er wies auf den Rand des Landefeldes. »Die Antigravbänder sind leider noch nicht in Betrieb, und Schwebeplattformen haben wir noch nicht genug. Ihr werdet zum Ausgang laufen müssen, wenn eure Anzüge kein Flugaggregat haben.«
Caysey strahlte ihn an. »Kein Problem. Laufen sind wir gewohnt.«