16.

 

»Wie machst du das nur?«

Perry sah Caysey von der Seite an, während sie am Rand der großen Fläche an einem Zaun entlangliefen. Caysey hörte seine Frage erst, als er sie sacht am Arm berührte, denn sie war viel zu fasziniert von den unglaublichen Dingen, die sich ihr auf diesem »Raumhafen« boten. Da gab es kleine Flugkutschen wie die, mit der sie gekommen waren, aber auch größere, in die sicher die Bevölkerung von Cayseys gesamtem Dorf gepasst hätte. Und es gab eine Handvoll gigantische Kugeln, die bis zum Himmelsgewölbe aufragten.

»Was meinst du?«, fragte sie abgelenkt, weil der Anblick dieser Götterfäuste sie in ihren Bann zog.

»Dass du stets zu wissen scheinst, was die Leute denken und fühlen. Konntest du das schon immer?«

»Hm ... ja, ich kann mich zumindest nicht daran erinnern, es nicht gekonnt zu haben.«

Perrys Worte rissen Cayseys Aufmerksamkeit fort von den Götterfäusten und zurück zu Heyowehs Worten der vergangenen Nacht. Die Gabe ist stark in dir ...

»Ich weiß nicht – ich erkenne einfach, wie es in den Leuten aussieht. Die Schamanen verfügen alle über diese Fähigkeit, deswegen dachte Ututna, ich könnte ihre Nachfolgerin werden. Weil ich die Gabe besitze. Ich kann nicht richtig erklären, woher ich solche Sachen weiß. Ich spüre es einfach.« Sie legte die Hand auf ihre Brust. »Hier drin. Manchmal weiß ich Dinge, die der andere von sich selbst noch gar nicht ahnt.«

»Was auch immer es ist, du weißt es beeindruckend einzusetzen.« Sichu klang anerkennend, und Caysey freute sich. Sichu lobte nicht oft. »Wenn du diesem Beamten nicht so entschlossen entgegengetreten wärst, stünden wir immer noch am Gleiter und würden mit ihm diskutieren.«

»... oder wären bereits wieder auf dem Weg aus der Stadt hinaus«, ergänzte Perry.

Caysey nickte abwesend. Noch immer konnte sie die Augen nicht von den gewaltigen bläulich-silbernen Kugeln abwenden, die auf dem Landefeld des Raumhafens standen.

Sie hob die Hand und zeigte darauf. »Diese Götterfäuste, gibt es viele von ihnen?«

»Götterfäuste?« Erstaunt folgte Perry ihrem Wink, dann lächelte er. »Ach so! Das sind Raumschiffe, Caysey. Mit diesen Fortbewegungsmitteln können die Arkoniden zwischen den Sternen reisen.«

»Raum-Schiffe.« Langsam ließ Caysey das Wort über ihre Lippen rollen, schmeckte ihm nach wie einer Süßigkeit. Sie wusste von Schiffen, auch wenn sie selbst nie auf Flüssen oder gar dem Meer unterwegs gewesen war. Diese Kugeln hatten jedoch wenig Ähnlichkeit mit den Einbäumen und Kanus, die sie kannte. »Ich habe so etwas bereits einmal gesehen, als ich siebzehn Jahre alt war. Es flog über unser Dorf. Ich habe es für ein Zeichen des Vrouhtous gehalten.« Sie verzog den Mund, halb beschämt, halb belustigt. »Wie naiv ich war! Dabei sind es Wundergeräte der Arkoniden.«

»Keine Wundergeräte. Einfach Technik.« Sichu zuckte mit den Schultern. »Du bist eine intelligente junge Frau. Ich bin sicher, dass du diese Technik verstehen könntest, wenn man sie dir erklärte.«

»Oha, gleich zwei Mal Lob von Sichu in kurzer Zeit – das muss ich mir wohl einteilen.« Caysey lachte. »Ich glaube nicht, dass ich so etwas Gewaltiges wie diese ... Raum... Schiffe jemals verstehen könnte. Für euch sind diese Dinge alltäglich. Ich würde vor Ehrfurcht erstarren, wenn ich mit so einer Götterfaust fliegen sollte.«

»Man gewöhnt sich an alles.« Perry stieß ein trockenes Geräusch aus, das mit viel Phantasie als Lachen interpretiert werden konnte. »Glaub mir, vor langer – sehr langer – Zeit ging es mir einmal ähnlich wie dir.«

Diese Aussage erschien Caysey noch viel unglaublicher als alles andere, was sie seit ihrem Aufbruch erlebt hatte. »Wohin gehen wir, wenn wir den Raumhafen hinter uns haben?«

»Wir versuchen, unseren Freund Atlan zu finden. Wir müssen ihm das Talagon bringen.«

»Und warum hast du den Mann vorhin nicht direkt nach deinem Freund gefragt?«

Perry schürzte die Lippen. »Ich habe kurz darüber nachgedacht. Aber wie hätte das zu unserer Geschichte gepasst, dass wir Diener von Quartam sind?«

»Gar nicht«, gab Caysey zu.

»Eben. Sobald wir in der Stadt sind, suchen wir nach Atlan.«

Sie kamen an mehreren der Götterfäuste vorbei, ehe sie den Ausgang erreichten, und jede war schöner und strahlender als die andere. Mit einer Ausnahme: Eines der Raumschiffe machte einen überaus mitgenommenen Eindruck. Das Silberblau seiner Außenhülle war verschrammt und mit schwarzen Brandflecken bedeckt. Caysey hatte den Eindruck, dass es entweder älter als die anderen Schiffe war oder jemand nicht gut damit umgegangen war. Einige Flugmänner – ähnlich denen, die Caysey am Meer gesehen hatte, nur fliegend wie die schießenden Roboter an Quartams Station – machten sich an verschiedenen Stellen an der Kugel zu schaffen.

»Was ist dieser Götterfaust zugestoßen?«, fragte sie Perry.

Der betrachtete das Schiff stirnrunzelnd. »Sieht aus, als wäre es direkt aus einer Schlacht gekommen. Es ist ein Beiboot, ein kleineres Schiff, das zu einem größeren gehört hat. Sieh mal, dort steht sein Name: LT-IV, also das vierte Schiff eines größeren Mutterschiffs.« Er wies auf ein paar Zeichen, die Caysey unbekannt waren.

»Das ist ein Wrack.« Sichu klang fast mitleidig. »Wird eine Weile dauern, bis sie diese Mühle wieder in Schuss gebracht haben. Wenn die Arkoniden das überhaupt noch vorhaben.«

Caysey hätte gerne weiter dabei zugesehen, was die Flugmänner taten, aber sie hatten ein großes Gebäude erreicht, durch das sie das Gelände verlassen konnten. Perry war bereits durch das breite Tor gegangen, Sichu drängte Caysey, ihm zu folgen.

Kurz zögerte die junge Frau. Hinter diesem Tor lag die silberne Stadt, der Ort, an dem sich alles ändern würde. Wenn Caysey hindurchging, gab es wirklich kein Zurück mehr.

Sie schluckte. Dann lächelte sie. Dann mal los. Kann es kaum erwarten!

Hinter der Tür wartete eine Welt aus Stein und Glas auf Caysey. Um sie herum ragten Häuser aus glatten, weißen Flächen in die Höhe. Die Wege dazwischen waren schwarz und hart, wie die Landefläche des Raumhafens. Und überall bewegten sich Menschen mit gebräunter Haut und weißen Haaren.

»Sind das alles Arkoniden?«, fragte Caysey staunend.

»Fast. Es sind Zakreber, Kolonialarkoniden. Sie sollen hier siedeln.«

Während sie durch die Straßen gingen, erklärte Perry ihr verschiedene Dinge: dass das Material für die Häuser künstlich erzeugt wurde, was eine Gruppe Einwohner mit einem seltsamen Gerät auf der Straße tat – »verdichten« nannte es Perry – und warum manche Teile der Stadt abgesperrt waren.

»Diese Kolonie ist gerade erst im Entstehen, und es herrscht Krieg. Weite Teile der Stadt sind Sperrgebiet, weil die Arkoniden dort etwas treiben, das die Kolonisten nicht mitbekommen sollen.«

Perry runzelte die Stirn, als ihnen zwei weißhaarige Frauen entgegenkamen und Sichu feindselig musterten. Es waren nicht die Ersten, die Sichu oder Caysey merkwürdige Blicke zuwarfen. Doch es waren die Ersten, die sie direkt ansprachen.

»Ihr habt hier nichts verloren«, sagte die eine Frau scharf.

Die andere nickte eifrig. »Dies ist eine Kolonie der Zakreber. Verschwindet hier! Wir wollen euch hier nicht.«

Caysey war erstaunt über so viel Empörung. Sie lächelte ermutigend. »Ihr braucht keine Angst vor uns zu haben; wir wollen euch nicht vertreiben.«

Dieses Mal zog Perry sie hastig weiter, ehe die Frauen reagieren konnten. »Nicht, dass ich deinen Fähigkeiten nicht vertraue«, sagte er. »Ich kenne solche Situationen. Mit Logik kommt man da nicht weiter.«

Caysey war neugierig, was er damit meinte, doch ein lautes Dröhnen hinter ihnen ließ sie herumfahren. Das Geräusch kam vom Raumhafen, der nun in einiger Entfernung hinter ihnen lag. Es war die ramponierte silberblaue Kugel, die es ausstieß: Das Raumschiff stieg in die Höhe. Es flog nicht so elegant, wie es die Götterfaust in Cayseys Erinnerung getan hatte.

»Dieses Raumschiff scheint gegen irgendetwas anzukämpfen, einen unsichtbaren Widerstand«, sagte Caysey verwundert, nachdem das Brüllen zu einem leiseren Heulen abgeschwächt und die Kugel weiter in die Höhe gestiegen war.

»Diesen Widerstand nennt man Schwerkraft.« Perry verzog den Mund. »Sichu hat recht, dieses Schiff ist nichts weiter als ein Wrack. Ich frage mich, was man damit vorhat.«

»Verschrotten natürlich.« Ein junger Mann mit schulterlangen weißen Haaren stand wenige Schritte von ihnen entfernt. Ein großer Verband von der Sorte, die der Heiler Kassem auch für Caysey verwendet hatte, bedeckte seine Wange und zeugte von einer kürzlichen Verletzung. Er sah sie beim Sprechen nicht an, sondern starrte dem Schiff hinterher. Caysey spürte bei seinem Anblick einen tiefen Verlust und bittere Demütigung. »Die LT-IV wurde ausgemustert, genau wie ihre Besatzung. Nur, dass wir nicht zum Verschrotten zur Venus gebracht werden – nur dafür wird sie noch flugtauglich gemacht.«

»Sie gehörten zur Besatzung? Was ist passiert?« Neugierig trat Perry an die Seite des Mannes.

Der lachte bitter. »Wenn ich das wüsste. In einem Moment dachte ich, wir wären Kriegshelden, die wichtige Informationen zum Gouverneur bringen – im nächsten stehe ich ohne Schiff da und soll mich auf dieser Hinterwäldler-Kolonie in der Kaserne melden.«

Perry wechselte einen kurzen Blick mit Sichu. »Es ist gut, dass wir jemanden vom Militär treffen. Wissen Sie vielleicht, wo wir Atlan da Gonozal finden können? Ist er in der Kaserne, oder im Palast des Gouverneurs?«

Nun wandte der Mann ihnen das Gesicht zu. »Wisst ihr denn gar nichts? Der Kristallprinz ist tot!«