17.

 

Rhodan war sofort klar, dass das nicht stimmen konnte. Atlan kann nicht tot sein, sonst wären wir uns in der Relativzukunft nicht begegnet.

Auf Caysey hatten die Worte des Soldaten eine völlig andere Wirkung, denn sie riss entsetzt die Augen auf. »Oh nein! Euer Freund ... Das tut mir so leid!«

Wieder fühlte Rhodan eine Welle der Sympathie für die Atlanterin. Ihre Reaktion hatte nichts damit zu tun, dass sie ihre Behandlung in Gefahr sehen musste; nein, sie war ehrlich und zeugte von der Empathie, die Caysey immer wieder bewies. Rhodan legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.

»Wie kommen Sie darauf? Haben Sie mit ihm gedient?«, fragte er den Soldaten.

»Nein – ich bin nur ein gewöhnlicher Thos'athor, und alles, was ich bislang von Schlachten mitbekommen habe, habe ich von der LOK TAI aus gesehen. Aber jeder in Arkonis weiß, dass der Kristallprinz bei einer Raumschlacht gegen die Maahks gefallen ist.«

»Tatsächlich jeder hier?« Rhodan musste sich ein Schmunzeln verkneifen.

Der Soldat machte eine umfassende Geste. »Diese verdammte Kolonie ist eine einzige Gerüchteküche. Doch im Fall des Kristallprinzen ist es kein Gerücht. Die Nachricht hat uns bereits erreicht, bevor wir ins Larsafsystem kamen.«

»Sie waren also in der betreffenden Schlacht nicht dabei?«

»Ja. Unser Kommandant hat uns praktisch hierhergepeitscht, weil er angeblich wichtige Nachrichten zu überbringen hatte, und ich glaube, dass sie mit dem Tod des Kristallprinzen in Zusammenhang standen.«

»Hat er das gesagt?«

Der Soldat schnaubte. »Natürlich nicht. Zumindest nicht der Besatzung gegenüber. Aber wir alle haben es geahnt.«

Noch mehr Gerüchte. Hervorragend.

»Konnte Ihr Kommandant die Nachricht überbringen?«

»Ich habe keine Ahnung, ich habe ihn seit der Landung nicht mehr gesehen. Ebenso wie den Rest der Kommandospitze.« Der Soldat verzog missmutig das Gesicht. »Wahrscheinlich ist er befördert und auf ein anständiges Schiff versetzt worden, als der Befehl zur Verschrottung der LT-IV kam. Ich hingegen muss los – meinen neuen Einsatzbefehl abholen.« Der Soldat wandte sich grußlos ab und ging davon.

»Glaubst du das?«, fragte Sichu.

»Nein. Wir wissen beide, dass es nicht sein kann.« Mit Blick auf Caysey sagte er nicht mehr. »Das sind üble Gerüchte. Wir sollten mit dem Gouverneur sprechen.«

Den Gouverneurspalast zu finden, war nicht besonders schwer. Erstens überragte der Trichterbau selbst in halb fertigem Zustand alle anderen Gebäude der Stadt und war weithin zu sehen; zweitens war das noch junge Arkonis nicht besonders groß, und alles war mit etwas Geduld zu Fuß erreichbar. Und wie Caysey gesagt hatte: Wandern waren sie mittlerweile gewohnt.

Allerdings erwies sich der Gang durch Arkonis als echter Spießrutenlauf. Je weiter sie vordrangen, desto feindseliger begegnete man ihnen. In einer Stadt voller Arkoniden und Arkonidenabkömmlingen fielen sie auf wie bunte Hunde – was sie in gewisser Hinsicht im Wortsinn waren. Bei Caysey war darüber hinaus offensichtlich, dass es sich um eine Eingeborene handelte, und ihre Schwangerschaft hob sie zudem aus der Masse heraus.

Es konnte noch nicht lange her sein, dass Atlan rund 50.000 Kolonialarkoniden von der Venus nach Atlantis umgesiedelt hatte – die meisten dieser ehemaligen Zakreber wohnten in der Stadt, ebenso wie etwa 10.000 Militärangehörige. Sie sahen das Land bereits als ihr erklärtes Eigentum, obwohl sie erst seit wenigen Monaten hier lebten, und betrachteten Eingeborene wie Caysey mit der gleichen Mischung aus Überheblichkeit und Furcht, wie es die ersten amerikanischen Siedler mit den indigenen Völkern Nordamerikas getan hatten.

Rhodan erfuhr aus einigen Gesprächen mit weniger abweisenden Einwohnern, dass zudem Versuche begonnen hatten, außerhalb der Stadt kleinere Siedlungen zu gründen. Eine Kolonie am nördlichen Waldgürtel war gerade erst im Entstehen; in einem Dorf in östlicher Richtung, auf der entgegengesetzten Küstenseite von Arkonis, hatten einige Siedler bereits Fuß gefasst, indem sie sich an ein einheimisches Dorf namens Nunob'Kam angliederten.

»Nunob'Kam?«, fragte Caysey nach, als sie sich von dem gesprächigen Straßenhändler entfernten. Sie machte einen besorgten Eindruck. »Die Leute haben sich dort angesiedelt? Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«

»Wie kommst du darauf?« Rhodan musterte Caysey interessiert. Er hätte nicht gedacht, dass sie von einem Ort so weit südlich ihrer Heimat gehört haben könnte. Wenn es so war, musste es etwas damit auf sich haben.

»Nunob'Kam bedeutet Krieger des Rausches. Ututna sagt, rund um dieses Dorf wächst eine besondere Pflanze, die ihnen Stärke verleiht, ihren Geist verwirrt und sie zu wilden Tieren macht.« Caysey schauderte. »Die Krieger von Nunob'Kam sind weithin bekannt. Sie sind grausam und heimtückisch, und wenn sie auf Beutezug sind, haben sie ganze Dörfer vernichtet.«

Bei ihren Worten bekam Rhodan ein mieses Gefühl, was diese Siedlungspläne anging.

»Klingt nach Spaß«, kommentierte Sichu trocken. »Allerdings haben wir andere Probleme, als uns darum zu kümmern.«

Rhodan musste Sichu recht geben, auch wenn ihn die Geschichte neugierig gemacht hatte.

Während ihres Fußmarsches fiel Rhodan außerdem auf, dass das Militär die Stadt zu einer Festung ausbaute, mit Kasernen und Impulsraketen-Abschussrampen. Auf den ersten Blick passte das nicht zu den zivilen Bemühungen, die sichtbar waren. Andererseits befand sich das Imperium in einem tödlichen Krieg. Wahrscheinlich war es derzeit üblich, eine neue Kolonie auf diese Weise zu sichern, vor allem, wenn sie strategische Bedeutung bekommen sollte.

Sie erreichten den Gouverneurspalast nach etwa einer Stunde, da sie zwischenzeitlich neu angelegte Antigrav-Bodenbänder nutzen konnten. Viele gab es davon noch nicht, aber es war absehbar, dass die Arkoniden eine moderne Stadt anstrebten.

Rhodan wappnete sich für eine längere Diskussion mit dem Sicherheitspersonal am Eingang des Trichterbaus. Sie kamen zunächst nicht einmal bis zum Gebäude, sondern wurden an einer vorgelagerten Pforte aufgehalten.

»Wir müssen Gouverneur da Masgadan sprechen«, sagte Rhodan und bemühte sich, seine ganze Autorität in seine Stimme zu legen.

Der Arkonide ihm gegenüber an einem Empfangstresen blickte nicht einmal auf. »Das wollen viele. Beschwerde oder Bittsteller?«

»Weder noch. Wir haben wichtige Informationen für ihn.«

Ein amüsiertes Lächeln umspielte die Lippen des Bürokraten, und er bequemte sich, die Besucher anzusehen. »Ach ja? Inwiefern?«

Rhodan beschloss, aufs Ganze zu gehen. Wenn er keine schlagkräftigen Argumente brachte, würde man sie nicht vorlassen.

»Wir haben mit einem Besatzungsmitglied der LT-IV gesprochen und vom Schicksal des Kristallprinzen gehört. Wir wissen mehr darüber und wollen helfen.«

Bei diesen Worten ging eine seltsame Wandlung mit der Mimik des Bürokraten vor sich. Er wurde aufmerksam, sogar besorgt, und baute umgehend ein Schallschutzfeld auf, um per Funk Rücksprache zu halten. Rhodan war sich nicht sicher, welches seiner Worte den Ausschlag dafür gegeben hatte: Kristallprinz oder LT-IV?

Die Wirkung war genau das, was sich Rhodan gewünscht hatte, denn der Bürokrat winkte sie schließlich durch.

Ein Wachmann näherte sich ihnen. »Ich bringe Sie zum Gouverneur.«

Sichu fasste Rhodan verblüfft am Arm. »Das ging einfacher, als ich gedacht habe«, raunte sie leise. »Vielleicht zu einfach.«

»Das Schicksal des Kristallprinzen bewegt die Arkoniden – sicher sind sie neugierig, wenn man etwas dazu zu sagen hat.«

»Aber würdest du ein paar dahergelaufenen Wilden glauben?«

Rhodan erwiderte nichts.

Der Wachmann führte sie durch den Trichterbau zu einem Antigravlift, der sie etliche Stockwerke in die Höhe beförderte. Dieses Mal löste der Schwebezustand zwar immer noch Euphorie in Caysey aus, doch nicht mehr jene ehrfürchtige Verwunderung wie in Quartams Station. Als sie das geräumige Büro betraten, in dem sie auf den Gouverneur warten sollten, waren ihre Wangen vor Aufregung gerötet.

»Ich war noch nie in einem so hohen Haus.« Sie deutete aus dem Fenster. »Selbst die Tempel der Götter sind nur halb so groß.«

Wenn sie von Tempeln jener Art sprach, wie Rhodan sie am Rand der Stadt gesehen hatte, war das bereits übertrieben. Schade, dass alle Fenster zum Innenhof führen – man hätte sicher einen beeindruckenden Blick über Arkonis und die Umgebung.

Dies war offensichtlich nicht das Büro des Gouverneurs, sondern ein Empfangszimmer. So wichtig, dass man sie in privatere Bereiche bitten würde, waren sie selbstverständlich nicht. Dennoch war Rhodan froh, dass sie es geschafft hatten, die Aufmerksamkeit des Gouverneurs zu erregen.

 

*

 

Sie brauchten nicht lange zu warten, bis Kors da Masgadan in Begleitung von zwei Adjutanten hereinkam. Er war ein hochgewachsener Arkonide mit dunklen Augen und einem Zopf im Nacken. Rhodan erkannte ihn von dem Hologramm in der Ausstellung wieder, das der Atlan seiner Gegenwart ihm gezeigt hatte. Wie hat er ihn beschrieben? »Guter Mann, sehr loyal, wenn auch etwas humorlos.« Das heißt wohl, dass wir ihm trauen können. Allzu viel Vertrauen ist aber ungesund.

»Danke, dass Sie uns empfangen«, begann Rhodan. Sie hatten keine Zeit für die in Adelskreisen üblichen Floskeln. »Wir haben wichtige Neuigkeiten, Gouverneur.«

»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?« Die Augenbrauen des Gouverneurs hoben sich fragend. »Der Wachmann hat mir keinen Namen genannt. Ich habe Sie nie zuvor gesehen.«

»Das wundert mich nicht, denn ich bin noch nicht lange auf Larsaf III, ebenso wie meine Begleiterin.« Rhodan wies auf seine Frau. Dass sie beide verheiratet waren, brauchte der Gouverneur nicht zu wissen und auch ihre Namen würde er nach Möglichkeit nicht nennen.

Da Masgadan musterte Caysey. »Wie es scheint, haben Sie bereits Bekanntschaften auf Atlantis geschlossen.«

»Caysey war so nett, uns nach unserer Ankunft nach Arkonis zu führen.« Der Trick bestand darin, nicht zu lügen, aber dennoch nicht die volle Wahrheit zu sagen. »Sie stammt aus einem Dorf im Nordosten, und wir haben ihr zugesagt, dass sich Mediziner ihrer gesundheitlichen Probleme annehmen.«

Väterlich legte da Masgadan Caysey eine Hand auf die Schulter, ganz der wohlwollende Landesvater. »Was hast du für Probleme, mein Kind?«

Sichus Armband übersetzte simultan seine Worte, wie es das schon die ganze Zeit tat.

Caysey war angesichts des »Gottes« vor ihr nicht so redegewandt wie sonst und schluckte. »Ich stehe unter einem Fluch, Herr. Mein Kind wird, ebenso wie ich, während der Geburt sterben.«

»Ein Arzt hat sie bereits untersucht«, mischte sich Rhodan ein und reichte da Masgadan den Speicherkristall. Er nannte dem Gouverneur absichtlich nicht Kassems Namen, weil er Quartam und seine Leute nicht in die Geschichte hineinziehen wollte. »Er meint, das Kind hat einen Herzfehler und zu viel Hirnflüssigkeit, und es gebe wohl weitere medizinische Probleme, die mit modernen Mitteln einfach zu beheben seien.«

Der Gouverneur nahm den Kristall und betrachtete ihn einen Moment nachdenklich. »Dann soll es so sein. Wir wollen uns nicht undankbar zeigen, wenn Einheimische sich als hilfreich erweisen. Ein Team unserer besten Mediker soll sich ihrer annehmen.«

Caysey fiel vor dem Gouverneur auf die Knie. »Danke, Herr! Vielen Dank!«

Da Masgadan half ihr hoch. »Nicht doch, Mädchen. Wir helfen dir gerne. Hier!« Er gab ihr den Speicherkristall. »Pass gut darauf auf und gib den Kristall einem der Ärzte, die dich untersuchen werden.« Er winkte einen seiner Adjutanten herbei. »Sorg dafür, dass die junge Frau zur Flottenklinik gebracht wird. Und sie braucht ein Translator-Armband, das auf die Eingeborenensprache programmiert ist.«

Caysey strahlte Rhodan an. »Es ist wahr! Es geschieht wirklich. Ich danke euch für eure Hilfe.«

Rhodan lächelte zurück, während Sichu die Schwangere noch einmal umarmte. »Alles Gute, Caysey. Vielleicht kommen wir dich noch einmal besuchen, bevor wir wieder aufbrechen.«

»Sie haben diese Eingeborene ja richtig ins Herz geschlossen«, bemerkte da Masgadan, nachdem der Adjutant mit Caysey den Raum verlassen hatte.

Rhodan ging nicht darauf ein. »Gouverneur, es gibt einen Grund, aus dem wir Sie aufgesucht haben ...«

»Wenn es nicht so wäre, hätte man Sie nicht zu mir vorgelassen.« Da Masgadan setzte sich an den Besprechungstisch und bot Rhodan und Sichu mit einer Geste ebenfalls Plätze an. »Worum geht es?«

»In der Stadt haben wir von dem Gerücht gehört, dass Atlan da Gonozal im Kampf gefallen sein soll. Wir haben jeden Grund zu der Annahme, dass der Kristallprinz die Schlacht überlebt hat. Warum ich das weiß, kann ich Ihnen nicht verraten. Ich muss ihn finden und ihm einen Gegenstand überreichen.«

Da Masgadans Gesicht blieb ausdruckslos. »Nehmen wir einmal an, Sie hätten recht mit Ihrer Behauptung – was wollen Sie dann von mir?«

»Ihre Hilfe.« Rhodan sah da Masgadan direkt in die Augen. »Ich bitte Sie, uns bei der Suche nach dem Kristallprinzen zu unterstützen.«

»Ich weiß wirklich nicht, wie ich das bewerkstelligen sollte. Keiner weiß, wo er sein könnte, und wir gehen alle davon aus, dass er tot ist.« Da Masgadan lehnte sich zurück und legte die Fingerkuppen seiner Hände aneinander. »Aber ich kann Ihnen Folgendes anbieten: Ich kann diesen ominösen Gegenstand, der Ihnen so wichtig ist, für Sie verwahren und dem Höchstedlen überreichen, sollte der Kristallprinz entgegen aller Wahrscheinlichkeit tatsächlich von den Toten auferstehen.«

»Das wird er.« Rhodan nickte nachdrücklich und wandte sich Sichu zu. »Was meinst du?«

Seine Frau hatte die Stirn in kritische Falten gelegt. »Bist du sicher? Sollten wir es einfach so hergeben, nach allem?«

Unwillkürlich fasste Rhodan an die Tasche, in der sich das Talagon befand. Atlan wird wieder auftauchen, und wenn da Masgadan ihm das Talagon aushändigt, ist alles in Ordnung, Damit ist unsere Aufgabe erledigt und wir können endlich nach einem Rückweg ins Jahr 2069 NGZ suchen.

Er senkte unwillkürlich seine Stimme, obwohl da Masgadan ihn natürlich trotzdem hören würde. »Atlan hat ihm vertraut, warum sollten wir es nicht tun?«

Sichu zögerte, dann nickte sie. »Also schön.«

Erleichtert zog Rhodan das Talagon aus der Tasche. Er zögerte noch einen Moment. Treffe ich wirklich die richtige Entscheidung? Mit einem Mal schien das Talagon viel schwerer als zuvor zu sein.

Der Gouverneur streckte die Hand aus, und lächelte Rhodan aufmunternd an.

Rhodan atmete durch und reichte ihm das Talagon. »Das hier ist es. Passen Sie gut darauf auf.« Er machte Anstalten, sich zu erheben. »Wir werden Sie nicht länger belästigen ...«

»Oh, ich bitte Sie, warten Sie einen Moment.« Da Masgadan erhob sich seinerseits und drückte auf ein digitales Display auf seiner Seite des Besprechungstisches.

Ein paar Sekunden später öffnete sich die Tür – und Rowena kam herein, flankiert von zwei Raumsoldaten.

Die Soldaten richteten ihre Waffen auf Rhodan.

Rhodan fühlte sich, als habe man ihm Eiswasser über den Kopf gekippt.

»Sie haben etwas verloren!« Der Gouverneur reichte Rowena das Talagon. »Was soll mit den Fremden geschehen? Sie wissen, dass Admiral da Gonozal am Leben ist.«

Und du weißt es auch! Atlan hat sich in dir getäuscht, Verräter!

Rowena musterte Sichu und Rhodan kalt. Sie zögerte einen Moment.

Und du bist dir unsicher. Schließlich hast du Atlan getötet, in unserer Zeit.

Dann traf Rowena eine Entscheidung. »Sie wissen zu viel. Sie müssen sterben!«