18.

 

Mit einer Mischung aus Faszination und Freude betrachtete Caysey das Armband an ihrem Handgelenk, aus dem gerade die erlösenden Worte erklangen: »Alles wird gut! Du und dein Kind, ihr werdet leben!«

Sie legte ihre Hände auf ihren Bauch und dankte den Göttern aus tiefstem Herzen für dieses Wunder.

Dass sie ein Armband wie Sichu erhalten hatte, das ihr die Worte der Heiler übersetzte, war nur der erste Teil der Zauberei, die ihr an diesem Tag widerfahren war. Ein freundlicher Arkonide hatte es ihr gegeben und sie mit einer Schwebekutsche in ein großes Gebäude gebracht, das auf dem abgezäunten Gelände der Stadt lag.

Dies war ein Haus, in dem man sich um Kranke und Verletzte kümmerte, erklärte ihr eine Heilerin, die sie in Empfang nahm. Ihr Name war da Gerkko, und sie kümmerte sich wie angekündigt um Caysey. Sie sagte, sie sei Ärztin, und das musste wohl etwas noch Wichtigeres als Heilerin sein, denn alle in dem Haus für Kranke hörten auf ihr Kommando.

Die Schwangere kam sich zunächst vor wie in einem wirren Traum: Da Gerkko, die mit ihren hüftlangen weißen Haaren und den vielen Falten um die Augen weise und vertrauenerweckend auf Caysey wirkte, setzte sie in einen schwebenden Stuhl und brachte sie in einen Untersuchungsraum. Mit dem Kristall, den Kassem für sie angefertigt hatte, erweckte da Gerkko einen Zauberkasten zum Leben, aus dessen bunten Lichtern und Symbolen sie alles über Cayseys Fluch erfuhr. Dennoch untersuchte die Ärztin sie selbst noch einmal gründlich.

Danach erklärte sie Caysey, dass es stimmte. »Wir können zwar nicht den Genschaden heilen – also das, was du ›Fluch‹ nennst –, aber wir können dich und dein Baby retten. Wir behalten dich in unserer Obhut, bis dein Kind groß genug ist, um auf die Welt geholt zu werden, und dann sorgen wir dafür, dass ihr lebt.«

Wie in Trance stand Caysey von der Behandlungsliege auf und zog das weiße Kleid an, das man für sie bereitgelegt hatte. Den Anzug, den Sichu ihr gegeben hatte, packte sie zusammen mit dem Wickelrock in ihren Rucksack. Eigentlich hatte sie große Lust, wieder in das bequeme und vertraute Kleidungsstück ihres Stammes zu schlüpfen – wenn nun alles gut werden würde. Doch sie befolgte lieber die Anweisungen der Arkonidin, schließlich hatte da Gerkko hier das Sagen.

Wir werden leben, mein Kleines. Ich werde dich aufwachsen sehen, ich werde sehen, wie du zu einem starken Mann wirst.

Da Gerkko hatte ihr bestätigt, dass ihr Kind ein Junge war. Das erfüllte Caysey mit Glück; denn ein Mädchen wäre ebenfalls eine Totgebärerin gewesen, und so hätte Caysey es früher oder später doch noch verloren. Ein Junge hingegen würde leben – lange leben, selbst Kinder bekommen.

Eine Hilfsheilerin wies Caysey ein kleines Zimmer zu, in dem sie bleiben sollte. »Bis zur Geburt sind es noch ein paar Wochen, und wir werden versuchen, sie so lange wie möglich hinauszuzögern. Dann wird das Kind mit einer Schnittentbindung geholt. Es ist besser, wenn dein Kind groß und kräftig ist, damit es die Behandlungen überlebt. Eine Operation an seinem Herzen ist bereits in einigen Tagen geplant.«

»Wenn das Kind noch in mir ist?«, fragte Caysey, mehr erstaunt als erschrocken.

»Ja, damit ihn die eigentliche Geburt nicht zu sehr schwächt. Wenn du Näheres wissen willst, musst du die Ärztin fragen.« Die Hilfsheilerin sah so aus, als glaube sie nicht, dass Caysey mehr verstehen würde – das erkannte die Schwangere. Sie nahm es der Arkonidin nicht übel.

Diese fuhr fort: »Jedenfalls solltest du dich etwas ausruhen, vielleicht spazieren gehen – wir haben einen schönen Park, in dem du dich frei bewegen kannst.«

Zuerst musste Caysey über dieses Angebot lachen – schließlich hatte sie sich in den vergangenen Wochen wahrlich genug bewegt. Dann ging sie doch hinaus in den Garten, weil es ihr in dem kargen weißen Zimmer unbehaglich wurde.

Der Garten war sehr schön und ruhig. Hohe Bäume schirmten ihn von der umliegenden Stadt ab, es gab sogar einen kleinen Wasserlauf. Lediglich eine steinerne Fläche störte die friedliche Stimmung. Sie war etwa 50 Schritte im Durchmesser groß und von hässlichem Schwarz. Eine kleine Flugkutsche stand am Rand, ein flaches, rundes Raumschiff, das mindestens 20 Schritte durchmaß, landete gerade auf filigran wirkenden Beinchen. Zwei Heiler eilten mit einer schwebenden Trage darauf zu, liefen damit eine kleine Rampe hinauf, die aus einem Loch im Boden der Kutsche ausfuhr. Kurz darauf kamen sie zurück. Auf der Trage lag nun eine bewusstlose Arkonidin in Uniform, das Gesicht von roten Brandblasen überzogen. Drei weitere Arkoniden liefen hinter den Helfern her, die auf direktem Wege in das Krankenhaus hasteten.

Schaudernd wandte sich Caysey ab. Die Verletzungen hatten grässlich ausgesehen. Ob die Frau wohl in dem Krieg verletzt worden war, von dem die Arkoniden und Perry gesprochen hatten?

Caysey wollte an etwas anderes denken. Dieser Krieg hatte nichts mit ihr zu tun. Während sie zwischen den Bäumen und Blumenbeeten über weiches, grünes Gras schlenderte, malte sie sich ihre Zukunft als Mutter aus. Sie hatte nie gewagt, weiter als bis zur Geburt zu denken, doch nun konnte sie hoffen. Würde der Kleine seinem Vater ähneln? Sie hoffte es, denn Ildion hatte einen sanften, liebenswürdigen Charakter und ein Grübchen am Kinn.

Vielleicht konnte sie mit dem Kind in ihr Dorf zurückkehren – wenn der Fluch gebrochen war und die Götter ihre Gnade gezeigt hatten, konnte niemand etwas dagegen haben.

Lautes Stimmengewirr riss sie aus ihren Gedanken. Es kam von außerhalb des Geländes. Neugierig ging Caysey näher an die Grundstücksgrenze heran. Vor dem Zaun versammelten sich Leute, alles Arkoniden oder – wie hatte Perry sie genannt? – Arkonidenabkömmlinge. In Cayseys Augen sahen sie gleich aus, nur dass die Arkoniden alle die gleiche Kleidung trugen und die Abkömmlinge individuelle Kleidung anhatten – keine Röcke, sondern Hosen, Hemden oder Anzüge. Allen war eine Mischung aus Erregung, Wut und Empörung gemein, die Caysey wie ein übler Gestank entgegenschlug.

Die Arkonidenabkömmlinge gruppierten sich um einen kleinen Platz dem Krankenhaus gegenüber. Dieser wurde von einigen Uniformierten bewacht, die solche Waffen bei sich trugen, wie Perry eine von Rowena erbeutet hatte. Sie hatten diese Strahler nicht auf die Leute, sondern auf den Boden gerichtet.

»Wann bringen sie die Verräter endlich?«, übersetzte Cayseys Armband die Worte einer Frau, die vor ihr am Zaun stand.

»Sie müssten jeden Moment ankommen.« Ein Mann spuckte aus. »Widerliche Maahk-Spione. Es ist das zweite Mal innerhalb weniger Tage, dass sie welche finden. Ich verstehe nicht, wie Arkonoiden freiwillig mit den Methanatmern zusammenarbeiten können. Ehrloses Pack.«

»Sie verdienen Schlimmeres als den Tod.« Die Frau schüttelte eine erhobene Faust. Der Hass, den sie ausstrahlte, raubte Caysey fast den Atem. »Dass sie erschossen werden, ist viel zu gnädig. Ich freue mich auf die Hinrichtung.«

Caysey verstand nicht, worum es ging. Was ist eine Maahk, und was sind Methanatmer? Übersetzt mein Armband richtig? Sie hatte bereits festgestellt, dass das Gerät praktisch war, wenn es auch bei Weitem nicht all die wundersamen Dinge konnte, die Sichus Armband vermochte. Vielleicht war es mit einigen Worten überfordert. Sie brauchte allerdings kein Übersetzungsarmband, um zu spüren, wie groß der Abscheu gegenüber den Wesen war, die als Maahks bezeichnet wurden – und gegenüber jenen, die sich mit diesen verbündet hatten.

»Da kommen sie!«, schrie jemand und deutete die Straße hinunter.

Caysey wandte den Kopf – und erstarrte vor Schreck. Auf einer offenen Flugkutsche standen Perry und Sichu – gefesselt, mit erhobenem Kopf. Wurfgeschosse trafen sie, das meiste davon war altes Obst und Gemüse, auch einige Steine waren darunter. Kein Zweifel: Ihre Freunde waren die »Spione«, die in Kürze hingerichtet werden sollten.

Caysey warf sich herum und rannte zurück in die Klinik. Ihr Ziel war das Behandlungszimmer, in dem da Gerkko sie untersucht hatte. Zu ihrer Erleichterung fand sie die Ärztin tatsächlich dort an einem Arbeitstisch.

»Was ist los, Caysey, hast du wieder Krämpfe? Oder Schmerzen?« Die Ärztin stand auf.

»Nein, es ist etwas anderes – vor der Klinik sollen gleich zwei Leute getötet werden.«

Da Gerkko setzte sich langsam wieder. »Ja, ich weiß. Die beiden Maahk-Spione, die man gefasst hat. Wir wurden vom Gouverneur darüber in Kenntnis gesetzt, denn Hinrichtungen bedeuten immer einen großen Aufruhr in der Nähe des Klinikgeländes.« Die Ärztin klang missbilligend.

»Es sind keine Spione! Das sind meine Freunde.« Bittend hob Caysey die Hände. »Sie müssen ihnen helfen, das muss ein Irrtum sein.«

»Tut mir leid, das glaube ich nicht. Der Gouverneur selbst hat sie verurteilt.« Das zuvor freundliche Gesicht der Ärztin wurde hart. »Mit Maahk-Spionen darf man kein Mitleid haben.«

Caysey wich zurück angesichts des Abscheus, der in da Gerkkos Worten klang. »Dann muss ich ihnen eben allein helfen.«

Sie wollte hinausgehen, doch da Gerkkos Stimme hielt sie zurück. »Sei nicht dumm, Mädchen. Wenn du dich auf die Seite von Verrätern stellst, wird dich kein Arkonide mehr behandeln. Ich zumindest werde es nicht tun.« Die Ärztin verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust.

In Cayseys Ohren rauschte es. Die Rettung ihres Kindes war zum Greifen nah – aber wollte sie als Preis dafür wirklich das Leben ihrer Freunde zahlen? Nur wegen Perry hatte sie überhaupt die Chance auf diese Heilung erhalten, sie stand in seiner Schuld.

Wenn ich Perry und Sichu zu Hilfe eile, mache ich mir die Götter zu Feinden – die Arkoniden , verbesserte sie sich automatisch. Perry hatte es ihr gesagt: Die Arkoniden waren keine Götter. Würden Götter so reagieren, wie es da Gerkko tut? Bestimmt nicht.

Tränen liefen Caysey über die Wangen. Heyowehs Worte kamen ihr in den Sinn: »Überlege dir genau, was dir dein Schicksal wert ist.«

Half sie ihren Freunden, würde sie nicht mehr in dieses Krankenhaus zurückkehren dürfen. Sie musste, wie von der Schamanin vorausgesagt, eine Entscheidung treffen: das Leben ihres Kindes oder das ihrer Freunde?