Caysey schnaufte. Sichu war zwar schlank, aber groß, und sie stützte sich schwer auf die Schwangere. Caysey wusste nicht, wie stark Sichus Bein verletzt war. Sie konnte es ganz offensichtlich nicht bewegen, obwohl kein Blut zu sehen war. Es war nur dem allgemeinen Aufruhr zu verdanken, dass sie Perry quer über das Kasernengelände in eine Nebengasse folgen konnten. Dort ließen sich die beiden Frauen keuchend zu Boden sinken, während Perry sich aufmerksam umsah.
»Wohin sollen wir uns wenden?«, fragte Sichu, die ihr Bein massierte und knetete.
»Wir können das Kasernengelände nicht verlassen; die Tore werden bewacht«, meinte Perry. »Zum Raumhafen gelangen wir also auf diesem Weg nicht.«
»Dort könnten wir ohnehin nichts ausrichten – da sind zu viele Sicherheitskräfte, und nach diesem Vorfall bestimmt noch mehr.«
»Wir müssen aus Arkonis verschwinden – nur wie?« Sorgenvoll rieb sich Perry die Stirn. »Zu unserem Gleiter können wir nicht zurück, und zu Fuß werden wir es nicht aus der Stadt hinaus schaffen, selbst wenn die Paralyse in deinem Bein nachlässt.«
»Ich weiß, wo eine Flugkutsche ist!«, rief Caysey. »Ich habe sie vorhin gesehen. Im Park des Krankenhauses gibt es eine schwarze Fläche, auf der eine steht. Dort ist auch ein flaches, rundes Raumschiff angekommen, das eine verletzte Frau gebracht hat.«
Sichu und Perry wechselten einen Blick.
»Ein Leka-Disk vielleicht«, meinte Perry. »Damit könnten wir nicht nur Atlantis, sondern den ganzen Planeten verlassen. Damit wären wir erst mal aus der Schusslinie.«
»Dann sollten wir versuchen, möglichst rasch dort hinzukommen.« Mühsam stemmte sich Sichu hoch.
Caysey griff ihr unter die Arme, doch Perry schob sie beiseite. »Ich helfe Sichu. Du übernimmst die Führung. Wir müssen vorsichtig sein!«
Caysey nickte und versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie am besten zurück zum Krankenhaus kamen. Sie überquerten die Seitenstraße und liefen auf der anderen Seite gebückt an einer Häuserwand entlang.
Es war zwar nicht besonders weit bis zum Krankenhausgarten, aber es erwies sich als überaus schwierig, auf dem Weg dorthin nicht gesehen zu werden. Den Eingang zum Klinikgelände, der dem designierten Hinrichtungsplatz gegenüberlag, konnten sie unmöglich nehmen.
Erstens würde dort gerade das reinste Chaos herrschen, zweitens scheute sich Caysey, den offiziellen Weg zu nehmen. Schließlich hatte ihr da Gerkko unmissverständlich klargemacht, dass sie nicht wiederzukommen brauchte, wenn sie sich auf die Seite der mutmaßlichen Verräter schlug.
Caysey war daraufhin in ihr Zimmer zurückgekehrt, hatte sich umgezogen, ihren Rucksack geschultert und das Krankenhaus verlassen, ohne mit irgendwem noch einmal zu sprechen. Es war unwahrscheinlich, dass man nach dem Aufruhr ihr Verschwinden noch nicht bemerkt hatte.
Sie näherten sich dem Park also von der Rückseite, die ohnehin näher an dem Landefeld lag. Auf dieser Seite war das Kasernengelände verlassen, hier gab es nur ein paar Lagerhallen. Im Schatten eines Halleneingangs machten sie kurz Pause.
»Sollen wir die Dämmerung abwarten?«, fragte Caysey. »Es wird nicht mehr lange dauern, bis es dunkel wird.«
»Gute Idee. Aber es geht nicht, wir dürfen keine Zeit verlieren.« Perry machte eine auffordernde Kopfbewegung.
Hastig überwanden sie die Distanz zwischen ihrem Versteck und dem Park und standen schließlich vor einem schulterhohen Zaun. Er sah aus, als sei er aus Holz. Doch als Caysey die Hand daran legte, merkte sie, dass er sich anders anfühlte – künstlich, nicht natürlich.
»Der dient wohl eher der Dekoration.« Perry half Sichu, auf die andere Seite zu klettern. Sichu hielt sich noch kurz auf den Beinen und brach dann fluchend zusammen. »Wann lässt diese verdammte Paralyse nach?«
Perry machte Anstalten, Caysey beim Klettern zu helfen – das war eine Sache, die mit ihrem Schwangerschaftsbauch wirklich nicht besonders einfach war –, als hinter ihnen Rufe laut wurden: »Hey! Was macht ihr da?«
Caysey drehte unweigerlich den Kopf, doch Perry reagierte schneller. »Nicht hinschauen, einfach klettern!«
Caysey gehorchte und ließ sich neben Sichu ins Gras sinken.
»Lauft los, ich komme sofort!« Perrys Worte waren ein Befehl, dem sich weder Sichu noch Caysey widersetzten.
Die Schwangere hakte Sichu unter und eilte mit ihr weiter. Zwischen den Bäumen zeichnete sich bereits der Umriss des Raumschiffs ab, das Perry »Leka-Disk« genannt hatte.
Hinter ihnen zischten Schüsse, und noch mehr Rufe forderten sie zum Stehenbleiben oder Zurückkommen auf. Das Geräusch der Schüsse beunruhigte Caysey. Sie wagte nicht, nach hinten zu sehen, sondern zog Sichu weiter. Kaum hatten sie den Rand des Landefeldes erreicht, war Perry wieder an ihrer Seite.
»Es ist tatsächlich eine Leka-Disk!« Er deutete nach vorne. »Die Bodenschleuse ist offen und die Rampe ausgefahren, das ist unsere Chance! Entschuldige, Liebling, aber wir müssen uns beeilen!«
Er übergab Caysey die Waffe, warf sich Sichu über die Schulter und rannte los. Sichu schimpfte etwas, das wie »Das wirst du mir büßen!« klang.
Caysey rannte hinter den beiden her. Sie ahnte, dass die Leute, die auf Perry geschossen hatten, gleich kommen würden. Zumindest kam niemand aus Richtung des Krankenhauses, der sie aufhalten wollte.
Als Perry mit Sichu über der Schulter die Rampe erreichte, blieb er wie angewurzelt stehen.
Oben in der Schleuse stand ein arkonidischer Soldat und zielte auf die beiden. »Keinen Schritt weiter, sonst seid ihr beide tot!«, drohte er.
Caysey war ein paar Schritte hinter den beiden und zögerte nicht. Sie hatte noch nie mit einem Strahler geschossen, lediglich Perry dabei beobachtet: Sie hob die Waffe, richtete sie auf den Soldaten, steckte den Finger durch den Ring an der Unterseite und zog den kleinen Hebel.
Sie spürte, dass die Waffe leicht vibrierte. Sonst nichts. Irgendetwas muss ich falsch gemacht haben , dachte sie verwirrt. Dann erst sah, sie, dass der Soldat oberhalb der Rampe umgefallen war.
»Guter Schuss, Caysey«, rief Perry. »Schnell, rein in die Disk!«
Caysey lief die Rampe hinauf und half Perry, den Betäubten aus dem Schiff zu werfen. Dabei hatte sie nur ein ganz leises, schlechtes Gewissen. Immerhin ist er ganz in der Nähe eines Krankenhauses, man wird sich also gleich um ihn kümmern. Zumindest hoffte sie das.
Dieses Raumschiff war deutlich größer als die Flugkutschen, die sie bisher gesehen hatte. In dem Raum, den sie über die Rampe erreicht hatten, gab es ein paar Kisten und einen Roboter, der »tot« in einer Ecke lag.
Sichu, die inzwischen wieder humpeln konnte, und Perry schenkten ihm keine Beachtung und liefen an ihm vorbei auf eine kleine gedrehte Treppe zu. Also ignorierte Caysey den »Toten«, obwohl sie es morbide fand. Sie lief ihren Freunden hinterher.
Auf einer Ebene darüber befand sich ein Raum, der dem Steuerraum des Gleiters nur insofern glich, dass es hier drei Sitze gab. Diese waren aber in Form eines Dreiecks angeordnet. Perry und Sichu nahmen, ohne zu zögern, Platz, und so setzte sich Caysey ebenfalls.
»Das ist kein Modell, das ich kenne«, meinte Perry. »Fliegen kann ich es wahrscheinlich trotzdem.«
»Sehr gut. Dann fang mal damit an.« Sichu deutete durch die transparente Kuppelscheibe auf das Krankenhaus. Aus dem hinteren Eingang strömten Soldaten. »Man hat uns bemerkt!«
Es war Caysey nach wie vor unbegreiflich, wie Perry es machte oder was er machte, aber das Raumschiff hob im nächsten Augenblick ab – und stieg so schnell in die Höhe, dass es Caysey schwindlig wurde. Allerdings bemerkte sie den Start nur anhand dessen, was sie durch die Kuppel sah: den umliegenden Garten, dann ein paar Dächer, dann nur noch blauen Himmel.
»Wir fliegen, doch ich merke es nicht!«, rief sie erstaunt. »Wir kann das sein?«
»Die Andruckabsorber einer Leka-Disk sind deutlich besser als die eines kleinen Gleiters.« Sichu lachte und gab damit der Erleichterung über ihren geglückten Start Raum. Sie tippte auf einem der bunten Bilder herum, und vor Caysey erschien ein weiteres künstliches Fenster, durch das sie das kleiner werdende Arkonis sah. »Ich erkläre dir das irgendwann in Ruhe.«
Das Land unter ihnen wurde immer kleiner, und bald konnte Caysey keine Details mehr erkennen. »Wie ... wie hoch fliegen wir?«, fragte sie beklommen.
»Wir erreichen bald den Erdorbit – und dann das Weltall.« Perry drehte sich zu ihr um und sah sie ernst an. »Du bist ganz schön weit weg von zu Hause.«
»Das weiß der Vrouhtou!« Caysey musste grinsen. »Keiner wird mir das jemals glauben.« Sie legte die Hände auf ihren Bauch. »Mein Kind ist in meinem Leib bereits weiter gereist, als es Ututna jemals getan hat.«
Nachdenklich betrachtete Perry ihren Bauch. »Du hast so viel für unsere Rettung geopfert, und dabei warst du bereits an deinem Ziel angelangt. Wie sollen wir dir je dafür danken? Diese Schuld kann ich niemals begleichen.«
»Ach!« Caysey winkte etwas verlegen ab. »Du hast mir einmal zu einer Chance auf Heilung verholfen, und du wirst es wieder tun. Das weiß ich. Außerdem ...« Sie griff in ihren Rucksack und holte den Speicherkristall heraus, »habe ich noch den hier. Damit können sicher auch andere Heiler etwas anfangen.«
Perry lachte. »Deinen Optimismus möchte ich haben! Es ist schön, dass du so zuversichtlich bist.«
»Ich unterbreche eure Gefühlsduselei nur ungern, aber wir sollten dringend über unser weiteres Vorgehen reden«, sagte Sichu. »Unsere Ziele haben sich geändert. Wir müssen das Talagon von Rowena zurückerobern – und außerdem herausfinden, wo Atlan abgeblieben ist! Wie es aussieht, hält er sich nicht auf der Erde auf, vermutlich nicht mal im Solsystem.« Sie berührte mehrmals die Fläche mit den leuchtenden Streifen und Punkten vor ihr, starrte in das schwebende Fenster, das sich darüber bildete, und schüttelte enttäuscht den Kopf. »Diese Leka-Disk hat keinen Transitionsantrieb. Mit ihr kommen wir nicht weit.«
Perry nickte gelassen. »Du hast vollkommen recht. Wir brauchen ein fernflugtaugliches Raumschiff – eines, das nicht von Hunderten Soldaten bewacht und leicht zu erobern sein wird.«
Sichu legte ungläubig den Kopf schief. »Mir scheint, Cayseys Optimismus ist ansteckend. Verrätst du mir, warum du aussiehst wie ein Ilt, wenn er ein Möhrenlager entdeckt hat?«
»Ich habe eine Idee, wo wir so ein Schiff finden ...«
Ehe Perry weiterreden konnte, erklang ein schriller Alarmton. Caysey hielt sich erschrocken die Ohren zu.
»Oh, oh.« Sichu deutete auf eins der bunten Fenster. »In Arkonis hat man sich von der Überraschung erholt: Da kommt eine Abfangstaffel.«
Perry beugte sich vor und zog einen kleinen Griff zu sich heran. »Nichts wie weg!«