2.

Rowena

 

Als Rowena aus der Leka-Disk auf das Landefeld vor dem ehemaligen Palast von Amonar da Cirol trat, waren die Zeichen der aufziehenden Unwetterfront bereits unübersehbar.

Schon im Anflug auf Amonaris, wie die Hauptstadt der arkonidischen Kolonie auf Larsa hieß, hatte sie gesehen, wie die Siedler ihre Höfe verließen. Mit wenigen Habseligkeiten bepackt, wollten sie vermutlich in den Gebäuden der Stadt Schutz suchen. Auch der Treck der Flüchtlinge, die aus dem Dschungel kamen, schien nicht abzureißen.

Rowena atmete tief durch. Der Flug von Larsaf III nach Larsa war für sie eine logische Konsequenz der Flucht Perry Rhodans und seiner Begleiter. Der Fremde wusste, dass sie und Kors da Masgadan wegen des Talagons zusammenarbeiteten. Es wäre naiv von ihm, nicht auch die Kunde von Atlans Tod infrage zu stellen.

Wollte Rhodan seine Suche nach dem Kristallprinzen fortsetzen, benötigte er ein überlichtschnelles Schiff. Um sich ein solches zu beschaffen, würde er versuchen, eine Schwachstelle im Überwachungsnetz der Arkoniden zu finden.

Ich an seiner Stelle wäre ebenfalls hierhin unterwegs. Rowena durfte diesen Mann nicht unterschätzen.

Der auffrischende Wind trieb feuchte Luft vor sich her. Feinste Wassertropfen benetzten Rowenas Gesicht, blieben an ihren Augenbrauen und am Haaransatz hängen. Aus den Urwäldern zog ein Geruch von vergorenen Früchten herüber, vermischt mit einer würzigen, beinahe animalischen Schärfe.

Die Arkonidin wischte sich mit dem Handrücken die Feuchtigkeit von der Stirn und orientierte sich. Auf dem Flugfeld herrschte reger Betrieb. Weitere Siedler waren dabei, ihr Gepäck in einem Gleiter zu verstauen. Würde der Sturm wirklich so schlimm werden?

Laut Aussage der Landefeldverwaltung war in den vergangenen Stunden niemand außer ihr mit einer Leka-Disk in Amonaris gelandet. Wo immer Rhodan steckte – in der Stadt war er offensichtlich nicht. Womöglich nicht einmal auf dem Planeten selbst. Jedenfalls noch nicht. Das gab Rowena die Möglichkeit, Vorkehrungen für seine Ankunft zu treffen.

Den Hyperfunkmeldungen, nach denen die Flüchtigen und ihre Disk bei der Verfolgungsjagd mit den arkonidischen Streitkräften vernichtet worden seien, glaubte sie jedenfalls nicht.

Rowena folgte den auf dem Boden aufgebrachten Hinweisen zum Ausgang des Landefelds. Jenseits der Sicherheitsschleuse musste sie sich durch einen engen Gang zwängen, in dem sich Massen von Siedlern stauten.

Unwillkürlich betastete Rowena ihren Hals. Die Kette, die sie trug, glitt zwischen ihren Fingern hindurch. Unter ihrem Kampfanzug war die leichte Erhebung, die das Talagon verursachte, kaum zu erkennen. Schnell senkte sie die Hand wieder.

Rowena mied Körperkontakt mit den Siedlern und versuchte, keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Ihr wurde plötzlich bewusst, in welch gefährliche Situation sie sich begeben hatte. In der Menge konnten unbekannte Gefahren lauern.

Mit Sorge musste sie daran denken, was sie auf dem Landefeld des Raumhafens von Arkonis erlebt hatte, kurz vor ihrem Start. Einen Moment lang hatte sie dort eine kurz gewachsene, menschenähnliche Gestalt gesehen, die sich in den Schatten versteckt hatte.

Noch immer wusste Rowena nicht, ob sie sich das nur eingebildet hatte oder ob da wirklich ein heimlicher Beobachter gewesen war. Sie hatte noch einmal genauer hingeschaut – und der Schatten war verschwunden gewesen.

Was nicht bedeutet, dass da nichts war, meldete sich ihr Extrasinn. Denk an deine Ausbildung und den Tag nach deiner Abschlussprüfung! Du musst jederzeit mit einem Angriff rechnen, so unwahrscheinlich er auch sein mag.

Rowena ballte die rechte Hand, entspannte sich aber gleich drauf wieder. Das weiß ich selbst! Hast du nichts Nützlicheres beizutragen?

Offensichtlich hatte ihr Extrasinn das nicht, denn er blieb ihr eine Antwort schuldig.

Der Weg vom Landefeld zum Palast führte nur wenige Hundert Meter durch das dicht besiedelte Zentrum von Amonaris. Auf den Straßen herrschte das reinste Chaos. Die Flüchtlinge vom Land versuchten, bei den Bewohnern der Stadt Schutz zu suchen, und zogen mit ihrem Gepäck von Tür zu Tür. Es schien fast so, als hätten sich alle der rund zwei Millionen Siedler in der Hauptstadt eingefunden.

Rowena kämpfte sich zu dem protzigen Palastgebäude durch und hielt sich nicht lange mit den Wachen auf. Nachdem sie ihren Namen genannt hatte, durfte sie ungehindert passieren und sich zum ehemaligen Prunksaal da Cirols begeben. Dort, hatte man ihr gesagt, hielt sich Administrator Mascaren da Thorn derzeit auf.

Ohne auf die protestierenden Rufe der Wachen vor der Tür des Saals einzugehen, öffnete sie die Flügeltür aus poliertem Wurzelholz und trat schnellen Schrittes an den großen Schreibtisch mit der eingebauten Konsole heran, hinter dem da Thorn beinahe verschwand.

Irritiert sah der Administrator von seinen Holobildschirmen auf. »Was wollen Sie denn hier?«

Trotz seiner ungespielten Überraschung erhob er sich, kam hinter dem Tisch hervor und deutete auf eine Sitzgruppe mit zwei Sesseln, die nahe einem großen Fenster standen.

Rowena antwortete nicht sofort. Dass der Administrator wusste, wer sie war, hatte sie vorausgesetzt. Gut, dass er sie auch direkt erkannte.

Sie setzte sich auf den angebotenen Sessel, dessen samtener Bezug das Aussehen arkonidischen Marmors imitierte. Bis auf die pompöse Architektur wirkte der Saal mit den wenigen Möbeln und da Thorns Schreibtisch allerdings seltsam leer.

Rowena versuchte, sich vorzustellen, wie der Raum wohl vor nicht allzu langer Zeit ausgesehen hatte, als Amonar da Cirol noch im Palast das Zepter schwang. Die Schreckensherrschaft des despotischen Administrators, der wegen seines unwürdigen Umgangs mit den Siedlern aus dem Amt enthoben worden war, lag noch nicht lange zurück. Durch die offensichtlich sehr viel schlichtere Ausstattung wollte da Thorn wohl auch optisch einen bewussten Gegenpunkt zu seinem unbeliebten Vorgänger setzen.

»Mich wundert, dass die Landefeldverwaltung Ihnen meine Ankunft nicht bereits angekündigt hat.« Die Arkonidin wandte den Kopf und sah aus dem Fenster, das nicht zum Innenhof des Trichterbaus ging, wie es sonst üblich war. Durch die Lage in einem höheren Stockwerk ermöglichte es einen guten Blick über die Stadt. Ob da Cirol wohl oft vor diesem Fenster gestanden und sein Reich betrachtet hatte? Das ungewöhnliche Außenfenster war jedenfalls ein weiteres Indiz für seine Eitelkeit.

Da Thorn lehnte sich zurück und faltete die Hände vor der Brust. Es war eine defensive Geste. »Wahrscheinlich haben die Wachhabenden das sogar getan, aber ich bekomme derzeit jede Menge Nachrichten. Ich kann nicht alle von ihnen direkt im Blick haben.«

»Der Sturm.« Rowena deutete auf die sich jenseits der Stadtgrenzen über dem Dschungel auftürmenden Wolken.

»Das ist im Moment unser größtes Problem, ja.« Mascaren da Thorn seufzte und rutschte bis an die vordere Kante des Sessels vor. »Warum sind Sie hier?«

»Von der Kolonie auf Larsaf III sind drei Verräter entkommen. Entsprechende Berichte werden Ihnen sicher schon zugegangen sein. Ich habe Grund zu der Annahme, dass sie nach Larsa kommen werden. Es ist meine Aufgabe, sie wieder einzufangen und der Gerichtsbarkeit von Atlantis zuzuführen.« Rowena rutschte ebenfalls vor und ahmte die Körperhaltung da Thorns nach. Sie wusste, dass sie dadurch Nähe und Vertrauen vermittelte. Ein simpler Trick. »Ich beantrage daher, die Kolonie in besondere Alarmbereitschaft zu versetzen und eine angemessen große Zahl Soldaten nach den Flüchtigen suchen zu lassen. Die Fremden haben sich gegen das Imperium versündigt und stellen insbesondere für die Siedler eine Gefahr dar.«

»Eine größere Gefahr als ein Sturm, der zahllose Farmen und damit die Nahrungsgrundlage dieser Kolonie zu vernichten droht?«, fragte da Thorn vorsichtig. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber in der derzeitigen Situation kann ich keinerlei Kräfte für andere Aufgaben entbehren. Seit die Zakreber nach Larsaf III umgesiedelt wurden, müssen wir die gesamte Verwaltung neu gestalten. Bis wir die Posten mit entsprechend ausgebildeten Visalern besetzen können, wird noch eine ganze Zeit vergehen. In einer Ausnahmesituation wie dieser sind wir vollkommen damit ausgelastet, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.«

Und nicht einmal das gelingt euch. Rowena fragte sich, was Atlan wohl zu all dem gesagt hätte, wäre er zugegen. Da Cirol abzusetzen war die richtige Entscheidung gewesen, keine Frage. Aber mit einem Administrator wie da Thorn, der offenbar nicht in der Lage war, notfalls auch harte Entscheidungen zu treffen, würde aus Larsa nie eine dauerhafte Kolonie werden. Nicht, wenn er sich schon bei so einer kleinen Naturkatastrophe derart hilflos gab.

»Sie werden also keine Leute dafür abstellen, nach den Flüchtigen zu suchen?« Rowenas Miene verfinsterte sich. Ich habe freundlich gefragt. Aber wenn das nicht funktioniert, muss ich andere Saiten aufziehen. »Überlegen Sie sich genau, ob Sie ausgerechnet mir eine solche Bitte abschlagen möchten.«

Mascaren da Thorn zuckte unmerklich zurück. »Im Namen des Imperiums werde ich alles versuchen, um die Bewohner Larsas vor jeder Gefahr, die ihnen droht, zu schützen! Die Siedler im direkten Umland von Amonaris sind einigermaßen vernünftig. Sie folgen dem Ruf, in der Stadt Schutz zu suchen. Wenn schon nicht in den Schutzkuppeln, so doch zumindest in befestigten Häusern. Die weiter außerhalb jedoch ...« Er unterbrach sich, um aufzustehen und an seinen Schreibtisch zurückzukehren.

Rowena rührte sich nicht, während da Thorn ein Holo aktivierte. Die Karte zeigte ein weitverzweigtes Wegenetz rund um die Hauptstadt. Rote Marker in der Umgebung stellten wohl so etwas wie weitere Siedlungen oder kleine Dörfer dar.

»Sie weigern sich, ihre Höfe zu verlassen und alles, was sie sich in der letzten Zeit aufgebaut haben, kampflos dem Sturm zu überlassen. Eine ganze Schar von Einsatzkräften versucht sie dazu zu bewegen, sich mit Gleitern in Sicherheit zu bringen. Genug Platz ist in den Schutzkuppeln vorhanden. Aber die visalischstämmigen Siedler wollen nicht. Nun, da sie endlich frei und ohne Angst vor da Cirol ihrer Arbeit nachgehen können, lassen sie sich nicht gängeln.«

Rowena erkannte den Konflikt, in dem sich der Administrator befand. Entschied er sich, mit seinen Sicherheitskräften hart durchzugreifen und die Siedler gegen ihren Willen von den Farmen fortzubringen, würde das Erinnerungen an die despotische Herrschaft Amonar da Cirols wecken. Selbst, wenn es wie in diesem Fall darum ging, das Leben von Tausenden zu retten.

Eine Kolonie, die nicht hinter ihrem obersten Befehlshaber stand, konnte eine gefährliche Dynamik entwickeln. Larsa hatte so etwas schon hinter sich. Niemand wollte, dass sich die Geschichte wiederholte.

Rowena sah es ein. Weitere Drohungen würden nichts nützen. Da Thorn hatte erkennbar Respekt vor ihr. Sollte allerdings der Eindruck entstehen, dass er den Schutz der Siedler nicht über alles andere stellte, waren die Konsequenzen für ihn wohl weitaus gefährlicher als alles, was sie ihm androhen konnte.

Rowena widerstand dem Drang, das Talagon anzufassen. Wenn da Thorn nur wüsste, was sie da bei sich trug – alle anderen Probleme würden sich schlagartig in nichts auflösen. Doch niemand außer ihr und Kors da Masgadan durfte erfahren, was es mit dem Artefakt auf sich hatte.

Also schön. Sie war auf sich gestellt. Das war sie gewohnt. Es gab andere Wege, Rhodan an dem zu hindern, was er vermutlich vorhatte.

»Ich verstehe.« Rowena erhob sich. »Dann werde ich die Angelegenheit selbst regeln. Und Sie werden mir dabei freie Hand lassen?«

Der Administrator wirkte, als wäre er gerade lieber an jedem anderen Ort. »Selbstverständlich«, beeilte er sich, zu versichern. »Wenn es irgendetwas gibt, das ich ...«

»Sie werden mir Zugang zur Großpositronik in der Festung auf dem Nordkontinent gewähren«, unterbrach sie ihn. »Dort werde ich Mittel und Wege finden, mit den Verbrechern fertigzuwerden.«

Augenblicke später verließ sie den Prunksaal, der seinen Namen kaum noch verdiente. Mit den entsprechenden Zugangscodes für ihr nächstes Ziel.