8.

Sichu Dorksteiger

 

Über der Venusfestung standen dunkle Gewitterwolken, während Dorksteiger sich mit dem gestohlenen Gleiter näherte.

Sie hatte Glück. Der Traktorstrahl war offensichtlich nur auf raumtaugliche Vehikel eingestellt und erfasste sie nicht. Der nahende Sturm machte dem Gleiter jedoch zu schaffen. Die Ator musste ständig manuell nachsteuern, weil Windstöße sie aus der Bahn warfen. Das erwies sich umso schwieriger, als die Antigravprojektoren des Gleiters alles andere als stimmig kalibriert waren.

Die Basis kam in Sicht. Ihr war klar, dass sie nicht auf dem Landefeld der Festung aufsetzen konnte. Das Sicherheitspersonal und vermutlich eine nicht geringe Anzahl von Wachrobotern würden dort jeden Neuankömmling genau unter die Lupe nehmen.

Sie steuerte daher den Gleiter etwa 300 Meter entfernt auf eine kleine Dschungellichtung am Berghang und landete dort. Sie stieg aus dem Cockpit und der Wind peitschte ihr ins Gesicht. Dorksteiger schlich auf den Rand der Festung zu. Abgerissene Palmenwedel und welkes Laub umwirbelten sie.

Die Gebäudegruppe war mit einem Schutzschirm gesichert. Das hatte sie erwartet – und auch, dass trotz des Sturms außerhalb der Festung Wachposten patrouillierten.

Sie glitt lautlos in den Schatten der Büsche und sondierte das Gelände.

Die Wachposten, die Dorksteiger eine Weile lang beobachtete, bewegten sich auf festgelegten Arealen, die jeweils etwa 200 Meter auseinanderlagen – gerade noch in gegenseitiger Sichtweite.

Vorsichtig schlich sie, verdeckt vom Buschwerk, so nahe wie möglich an einen der Wächter heran.

Er wandte sich von ihr ab, wohl um seine nächste Runde zu drehen. Sie schnellte aus dem Dickicht und überwältigte den Arkoniden mit einem gezielten Schlag gegen die Schläfe.

Dorksteiger schulterte den schmächtigen Soldaten und trug ihn zurück zu den Büschen. Dort durchsuchte sie ihn nach seinem ID-Geber. Sie steckte ihn ein und schaute auf ihr Armband.

Der Speicher des Geräts war eine Fundgrube an Informationen und verfügte unter anderem über die Pläne einiger wichtiger öffentlicher Gebäude im Solsystem.

Auch in der Zukunft, aus der Perry und sie stammten, gab es die Venusfestung noch: Die Positronik war außer Dienst gestellt worden, nachdem das Mondgehirn NATHAN ihre Aufgaben übernommen hatte. Inzwischen diente die Festung, die sich kilometerweit und mit über einhundert Stockwerken in dem Bergmassiv erstreckte, einem Museum als Standort.

Es dauerte nur Sekunden, dann hatte die Ator den Gebäudeplan im Speicher des Armbandes gefunden. Die Bildlegende gab sogar an, in welchem der Räume sich welche Schaltungen der Positronik befanden. Sehr nützlich!

Nun musste sie nur noch ungesehen an eines der Terminals gelangen. Dorksteiger warf einen Blick auf die Zeitanzeige. Seit ihrem Aufbruch vom Schrottplatz war etwas mehr als eine halbe Stunde vergangen.

Noch war alles ruhig. Das Fehlen des Wächters war noch nicht bemerkt worden. Sie huschte zu einem Zugang, der mit einer Sicherheitsschleuse verschlossen war.

Problemlos glitt sie durch den Schutzschirm. Der ID-Geber, den sie dem Soldaten abgenommen hatte, schaltete eine Strukturlücke für sie. Dasselbe Gerät sorgte dafür, dass sich die Schleuse öffnete.

Dahinter erwartete Dorksteiger ein fensterloser Raum, der wohl als Umkleide für die Wachhabenden genutzt wurde. Hinter einer weiteren Tür gelangte sie in einen langen Korridor, der durch dieses Teilgebäude führte.

Die Schalträume lagen tiefer im Inneren der Festung. Vorsichtig jede Deckung nutzend, arbeitete sie sich vorwärts.

 

*

 

Dorksteiger wagte es nicht, auf die Uhr zu schauen, als sie den richtigen Schaltraum endlich erreicht hatte. Nach ihrem Empfinden war zu viel Zeit vergangen. Das Schleichen durch die Gänge hatte länger als erwartet gedauert. Vor allem, weil eine erstaunliche Anzahl Wachroboter in den Korridoren Dienst versah. Mehrmals war es ihr gerade noch gelungen, aus dem Bereich deren optischer Erfassung zu entkommen.

Nun war die Ator am Ziel. Der quadratische Schaltraum wurde von einer rund fünf Meter langen Konsoleneinheit dominiert, die ihr Zugriff auf die Traktorstrahl-Programmierung ermöglichen würde.

Dann wollen wir mal. Dorksteiger zog sich einen Sessel heran und legte den Thermostrahler auf der Konsole ab.

Die erste Codesperre beseitigte sie problemlos. Ein Algorithmus, den sie mithilfe ihres Mehrzweckarmbands zusammenstellte, berechnete sämtliche Letter- und Ziffernkombinationen, die der alte Satron-Zeichensatz hergab.

Anschließend bombardierte sie das Eingabefeld mit den generierten Passwörtern – 22.000 Eingaben in der Sekunde, das war die maximale Verarbeitungsgeschwindigkeit.

Nach zweieinhalb Minuten hatte das Armband die richtige Kombination »erraten«.

Die zweite und die dritte Zugangssperre stellten sie vor größere Schwierigkeiten: biometrische Messungen und Biosignaturen waren nicht einfach zu knacken. Zumindest nicht mit den Mitteln dieser Zeit.

Zum Glück war die von ihr verwendete Technologie der hiesigen um 13 Jahrtausende voraus.

Fingerabdrücke klebten auf dem Impulsgeber, den Dorksteiger dem unglücklichen Soldaten abgenommen hatte – ihre eigenen ebenso wie die des Vorbesitzers. Sie legte das Gerät neben den Strahler, zückte das Armband und untersuchte die Abdrücke mit dessen Biosensor.

Das Ergebnis flimmerte als winziges Holo über ihr Handgelenk: chemische Formeln in hellgrüner Schrift, dazu hexagonale Strukturformeln. Mit dem Finger blätterte sie durch die Substanzen: Fett-, Aminosäuren und Ammoniak.

Nächstes Bild. Wieder eine Fettsäure. Dorksteiger wurde nervös. Wie lange, bis ein Wächter oder eine Robotpatrouille den Schaltraum betrat und sie entdeckte?

Zucker, Carbon- und Spuren von Ascorbinsäure huschten durch das Holo – die typische Zusammensetzung von menschlichem Schweiß. Reste davon waren in den Fingerabdrücken enthalten.

Ein Signalton erklang aus dem winzigen Akustikfeld.

Die Ator hielt inne. Der Biosensor hatte eine Molekülsequenz identifiziert und aus den Schweißsubstanzen isoliert. Sie entsprach den Suchparametern.

»Bingo!« Sie unterdrückte ein Grinsen.

Im Holo drehte sich eine Doppelhelix um ihre Achse. Die Form war unverkennbar: Desoxyribonukleinsäure. Der Fingerabdruck enthielt das Erbgut einer hoch entwickelten Lebensform.

Mit einer Testreihe stellte Dorksteiger sicher, dass der Sensor nicht versehentlich ihre eigene DNS »erwischt« hatte – schließlich hatte sie den ID-Geber selbst lange in der Hand gehalten. Augenblicke später schwebte in roter Schrift die Bestätigung durchs Holo: Spezies: Homo sapiens Arkonis. Das Erbgut gehörte einem Arkoniden.

Der Rest war eine Frage positronischer Extrapolation: Das Mehrzweckarmband »las« die DNS des Arkoniden und berechnete eine Simulation der wahrscheinlichsten Biosignatur, die mit dieser Gensequenz verbunden war. Diese übertrug Dorksteiger an die Venuspositronik.

Gespannt wartete sie auf die Reaktion des Sicherheitsmoduls. Machte sie es sich zu leicht? Ein »moderner« Individualkennungssensor wäre auf keinen Fall auf die Fälschung hereingefallen.

Sie hatte Glück. Im nächsten Moment war sie »drin«. Ein akustisches Signal bestätigte, dass das System ihr Zugriff gewährte, über dem Terminal flammte ein Holokubus mit einem Dateiverzeichnis auf. Am Rand stand eine Nutzerkennung: »Thilar da Borgom« – vermutlich der Name des Soldaten, den sie draußen überwältigt hatte.

»Danke, Thilar. Dein Opfer wird nicht umsonst sein. Es geht um Atlans Leben.« Die Ator installierte einige Sperren, um ihre Spuren zu verwischen und eine Reversion der von ihr vorgenommenen Änderungen zu verhindern.

Schließlich fand sie das Unterprogramm, das den Traktorstrahl steuerte. Würde die Abschaltung einen Sicherheitsalarm auslösen? Das würde sie erst wissen, nachdem sie den letzten Befehl eingegeben und bestätigt hatte. Sie tippte die entsprechende Codesequenz.

Ich muss es riskieren. Sonst kommen wir nie von hier weg! Aber zunächst ... Sie streckte den Finger zum Eingabesensor. Bevor sie ihn berührte, aktivierte sie das Funkgerät und schaltete auf die verabredete Frequenz.

»Hallo, Perry, hörst du mich? Ich bin so weit! Beeilt euch! Ich bin sicher, hier wird es in Kürze einigen Är...«

Sie wurde jäh unterbrochen, als die Tür zum Schaltraum aufgerissen wurde und vier bewaffnete Kampfroboter in die Kammer stürmten.

»Keine Bewegung!«, schnarrten sie synchron.

Verdammt! Dorksteiger schielte zu ihrem abgelegten Thermostrahler, wusste aber, dass die Gegner sie paralysiert hätten, noch bevor ihre Finger die Waffe berührten. Und den Traktorstrahl zu desaktivieren, dafür war es nun ebenfalls zu spät.

Während sie die Hände hob, befahl sie ihrem Armband flüsternd, die Funkverbindung zu unterbrechen.

Ein halbes Dutzend arkonidischer Wächter betrat den Raum. Auch sie waren bewaffnet. Die Mündungen der Desintegratoren zielten auf Sichu Dorksteigers Brustkorb.

Einer von ihnen aktivierte nun selbst ein Funkgerät. »Eindringlingsalarm! Eine arkonoide Frau, grünhäutig, Gesicht von goldenen Flecken übersät. Wir haben sie wie befohlen festgesetzt. Was soll nun mit ihr geschehen?«