5.

 

Die BEST HOPE rematerialisierte auf der Bahn des einzigen Planeten der mörderischen blauen Riesensonne Grxlira. Sichu hatte die Sprungdaten so berechnet, dass sie weit draußen in dem unbekannten Sternsystem herauskamen.

Das altersschwache und schrottreife Arkonidenschiff trat stöhnend und ächzend mit halber Lichtgeschwindigkeit aus dem Hyperraum – etwa anderthalb Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt. Das entsprach in etwa der Entfernung, die der Planet Saturn von der heimischen Sonne Sol hatte, die in diesem Zeitalter den arkonidischen Namen Larsaf trug. Die lateinische Sprache würde sich erst in etwa siebeneinhalb Jahrtausenden entwickeln.

Die Entfernung zu Grxlira schützte sie nicht unbedingt vor der gefährlichen Gamma- und Röntgenstrahlung der Sonne. Wenn es zu einer heftigen Eruption kam, konnte ihnen das auch hier draußen den Garaus machen. Dazu kamen fluktuierende Magnetfelder mit elektromagnetischen Impulsen, die, wenn sie mit Lichtgeschwindigkeit auf das altersschwache Raumschiff trafen, die Positronik oder andere lebenswichtige Geräte irreparabel schädigen konnten.

Für den Moment fühlte es sich sicher an. So sicher man in einem klapprigen alten Arkonidenkreuzer mit defekten Schutzschirmen sein konnte. Zumindest hielt Sichus hypermagnetische Abwehrfeldkalotte, die die BEST HOPE beim Weiterflug mit leichter Fahrt vor kosmischen Gaswolken und kleinen Asteroiden schützte.

Rhodan wusste, dass es aus sein konnte, sobald so ein kleiner Asteroid mal den Durchmesser einer Wassermelone hatte. Aber er war es gewohnt, mit solchen Gefahren zu leben. Ein gewisser General der US Space Force war einmal auf die Idee gekommen, ihm und seinen Kollegen die Berufsbezeichnung Risikopiloten zu geben. Irgendwie war das genau der Job, den Perry Rhodan seitdem ein paar Tausend Jahre lang gemacht hatte.

»Wir orten Trümmerteile an verschiedenen Stellen im System«, meldete Sichu, die nach dem Hypersprung wieder in die Zentrale gekommen war und die Orterdaten ablas, die ihnen die Navigationspositronik übermittelte. »Das Grxlirasystem ist tatsächlich Schauplatz einer großen Raumschlacht gewesen.«

Einer Raumschlacht, die – aus Rhodans Sicht – seit 13.000 Jahren geschlagen und vorbei war. Und doch waren sie hier. Diese Zeit war nun ihre Gegenwart. Rhodan lächelte, als er daran dachte, wie sein ältester Freund Reginald Bull über diese Lage geflucht hätte, wäre er mit ihm durch den Zeittransmitter gesprungen. Zeitreisen lösen immer leichte Irritationen aus.

»Einer Raumschlacht, die vor Kurzem stattgefunden hat?«, fragte Rhodan.

Sichu nickte ernst. »Sonst wären die Trümmer viel weiter im System verteilt oder sogar in der Sonne verbrannt. Das ist seltsam.« Rhodans Gefährtin runzelte die Stirn.

Der Terraner verschränkte die Hände und legte die beiden Zeigefinger an die Lippen.

»Jemand hat sich die Mühe gemacht, einen großen Teil der Raumschiffswracks an einem der Lagrangepunkte zusammenzutreiben.«

Sichu warf ihm eines ihrer Holos herüber. Der Lichtball kam zitternd vor Rhodan zum Stehen und zeigte ihm ein Bild aus dem Grxlirasystem.

Rhodan sah ein Feld alter, zerschossener Raumschiffe. Mehrere Maahkwalzen waren dabei, und zahlreiche große und kleine arkonidische Kugelraumer.

Sie trudelten umher wie die Spielzeuge in Mobiles, die man Kleinkindern über die Wiege hängte. Damit bildeten sie ein sich bewegendes, grob kugelförmiges Areal im Weltraum. Es bestand aus den zerschossenen und zerstörten Trümmern eines furchtbaren Kampfes. Dennoch wirkte es auf eigenartige Weise friedlich.

Rhodan ertappte sich dabei, wie er nach dem Wrack eines bestimmten Schiffs suchte – eines 800 Meter durchmessenden Schlachtschiffs der Imperiums-Klasse: die TOSOMA, das Flaggschiff des Kristallprinzen.

Doch die TOSOMA war bestimmt nicht unter den zerstörten Schiffen zu finden. Sie konnte es gar nicht sein. Rhodan kannte die historischen Tatsachen nicht nur aus den Geschichtsbüchern, Atlan hatte sie ihm persönlich erzählt: Er hatte mit der TOSOMA im Kampf gegen die Druuf die Erde verteidigt, fünf Jahre nach der Zeit, in der sie sich in diesem Moment befanden. Erst bei jenem Krieg war das Schlachtschiff zerstört worden.

Außerdem war da noch die Nachricht von Ildo da Remdor, dem Kommandanten der LOK TAI: Die TOSOMA ist nicht vernichtet, ich weiß um das Schicksal des Kristallprinzen!

Rhodan konzentrierte sich auf die Orterdaten. Seine Gefährtin hatte mit ihrer Analyse den Nagel auf den Kopf getroffen: Vor sich sahen sie nicht das eigentliche Schlachtfeld, sondern ein künstlich angelegtes Areal.

Angelegt von wem? Waren die Maahks zurückgekommen, um ihre Toten zu bergen? Oder gar die Arkoniden? Von beiden war nirgends etwas zu sehen. Es war, als hätten sie die Wracks ihrer Schiffe an diesem Ort zur letzten Ruhe gebettet.

»Ein Raumschiffsfriedhof«, flüsterte Rhodan. »Wir fliegen hin!«

 

*

 

Die BEST HOPE machte noch immer halbe Lichtgeschwindigkeit. Im Vergleich zu den Entfernungen im Weltall war das geradezu Stillstand. Bei diesem Tempo traten nicht einmal nennenswerte relativistische Effekte auf, wenn das Raumschiff nicht gerade jahrelang unterwegs war.

Sie erreichten den Raumschiffsfriedhof, der genau auf L4 angelegt war, einem der sogenannten Lagrangepunkte im System aus Sonne und Gasplanet. Dort treibende Objekte bewegten sich in gleich bleibender Distanz zum Planeten in einer Umlaufbahn um die Sonne.

Das Holobild brachte die zerschrundenen Arkoniden- und Maahkraumer direkt vor Rhodans Augen in die Zentrale der BEST HOPE. Aus scheinbar nächster Nähe betrachtete er die halb auseinandergerissenen Kugeln und Walzen. Die Energiesalven der Gegner hatten furchtbare Wunden in die Schiffskörper geschlagen. Bei einigen war die Außenhülle aufgeplatzt, der superfeste Arkonstahl bog sich ins Weltall, tiefe Narben und Löcher überzogen die Oberflächen. In diesen Kriegsschiffen konnte kein Insasse überlebt haben.

»Einige dieser Schiffe sind bestimmt über zweihundert Jahre alt«, stellte Rhodan fest. »Als ob die Kriegsparteien ihre alten Schrottschiffe zusammengesammelt und aufeinandergehetzt hätten. Eine vernünftige Taktik ist das jedenfalls nicht.«

Wieder dachte er daran, was Kommandant Ildo da Remdor in der Audioaufzeichnung gesagt hatte, die Sichu im Positronikspeicher der LT-IV aufgestöbert hatte: Es war eine Falle, ein abgekartetes Spiel, eine Verschwörung ...

Dennoch waren in dieser Raumschlacht Intelligenzwesen ums Leben gekommen, Arkoniden wie Maahks. Wofür waren sie gestorben?

»Hier liegen deutlich mehr Wracks von Kugelraumern als Maahkschiffe«, meldete Sichu von ihrer Station. »Verhältnis fünf zu eins.« Das war keine persönliche Abschätzung. Die Ator hatte die harten Orterdaten im Blick.

Rhodan betrachtete eine der Maahkwalzen, die in der Mitte der Zylinderfläche von einer vollen Breitseite Impulsfeuer aufgerissen worden war. »Die Maahks haben die Schlacht gewonnen«, murmelte er, eher zu sich selbst. »Jedenfalls ist es das, was sie uns glauben machen wollen.«

Unbeirrt fuhr Sichu fort: »Keine Spur von denjenigen, die den Raumschiffsfriedhof angelegt haben. Außerdem macht Grxlira mir Sorgen. Die blaue Sonne stößt in unberechenbaren Intervallen Strahlungsmengen aus, die uns gefährlich werden können.«

»Wir werden uns eine der großen Walzen ansehen«, entschied Rhodan. »Die Maahkschiffe dieses Zeitalters unterscheiden sich von denen, die wir in unserer Zeit kennengelernt haben: Im Innern sind sie nestartig strukturiert, mit sehr vielen Unterzentralen und Redundanzsystemen. Selbst wenn sehr viele Systeme ausfallen, gibt es immer irgendwo Back-ups. Wenn es auf diesem Raumschiffsfriedhof eine Spur von Atlan gibt, finden wir sie in den Positroniken der Maahkraumer.«

»Du hast schon zugehört, was ich gesagt habe?« Die Ator verschränkte in Terranerart die Arme und legte den Kopf schief. »Wie willst du denn in den Maahkraumer übersetzen? In Raumanzügen?«

Rhodan drehte den Kopf und erblickte die Atlanterin Caysey, die sie auf eine Liege gebettet hatten. Sie war stärker verwundet, als sie den Kameraden gegenüber hatte zugeben wollen. Rhodan hatte RCO-3342/B in ihrer Nähe postiert.

Die Atlanterin hatte sich halb aufgerichtet und verfolgte das Gespräch zwischen Rhodan und Sichu aufmerksam, aber schweigend. Die Umgebung von Metall und Maschinen war ungewohnt für sie. Sie musste sich eingeengt vorkommen. Als Rhodan sie ansah, senkte sie den Blick.

»Neben Cayseys Überlebensanzug haben wir zwei intakte Raumanzüge an Bord«, machte Rhodan Inventur. »In einer Hinsicht funktionieren sie sogar besser als dieses Schiff: Über die Funksysteme der Anzüge können wir uns miteinander verständigen.«

Sichu tat einen gespielten Seufzer. »Die Anzüge schützen normalerweise vor der gefährlichen Gamma- und Röntgenstrahlung der Sonne. Allerdings kann Grxlira Strahlungsschauer von solcher Intensität ausschütten, dass auch der beste Anzug nichts nützt. Das da draußen wird kein Ausflug an den Goshunsee.«

Rhodan zog die Mundwinkel hoch und machte eine Bewegung mit dem Ellenbogen. »Darf ich trotzdem bitten? Gib zu, du wolltest schon immer gerne mit mir in einem prähistorischen Maahkraumer herumstöbern.«

Sichu schüttelte den Kopf. »Das machst du hübsch allein. Um keine Zeit zu verlieren, werde ich mich derweil auf einem der Kugelraumer umsehen und die wirklich wichtigen Dinge erledigen. Die Arkonidenschiffe entsprechen der Baureihe der BEST HOPE. Sie war vermutlich sogar eine Einheit dieser Raumflotte, die unseretwegen an den Ort der Schlacht zurückgekehrt ist. Vielleicht finde ich dort die Ersatzteile, mit denen wir den Transitionsantrieb der HOPE wieder in Schuss bringen können. Außerdem brauchen wir Proviant und ...« Sie blickte hinüber zu Caysey, die erneut den Kopf senkte. »... Medikamente.«

Die grünen Punkte in den gelben Augen der Ator fixierten Perry Rhodan. Der Terraner kam nicht umhin, zum zehntausendsten Mal die Schönheit seiner Frau zu bewundern. Zudem war sie nicht nur eine herausragende Wissenschaftlerin, sie konnte auch sehr überzeugend sein.

Rhodan bleckte die Zähne. »Dann ist es entschieden. Wir gehen raus.«

Sichu stand vom Sitz ihrer Konsole auf und zeigte beiläufig auf den großen Wartungsroboter, mit dem sie das Maschinendeck erkundet hatten. »Den nehme ich mit. Wenn ich finde, was wir suchen, übernimmt er den Transport der Ersatzteile.«

Nachdenklich näherte sie sich Cayseys Liege und dem Dienstroboter. »RCO lassen wir bei Caysey.« Dann drehte sie sich zu Rhodan um. »Und du nimmst besser dies. Es ist nicht gerade Liga-Hochleistungstechnologie. Aber es wird dir bei der Analyse der Maahkpositroniken helfen.«

Sie löste das Mehrzweckgerät von ihrem Unterarm, das sie vor unendlich scheinender Zeit von Kelen da Masgadan erhalten hatte, dem Besitzer des Tiefseekuppel-Museums 13.000 Jahre in der Zukunft. In der Zeit, in der sie sich jetzt befanden, war Atlans Tiefseekuppel, in der er die Jahrtausende überbrückt hatte, noch nicht einmal in Betrieb genommen.

Rhodan nahm das Armbandgerät an sich und sah der Frau aus einer anderen Galaxis, mit der er sein Leben teilte, tief in die Augen. Irgendwann einmal würde es das letzte Mal sein. Jeder Risikoeinsatz konnte das Ende bedeuten.

Er war nun ebenfalls nachdenklich geworden und näherte sich Caysey. Auf dem Kontinent Atlantis war sie ihre Führerin gewesen. Der Weltraum jedoch war ein Ort, der Rhodan und Sichu vertraut war, für Caysey dagegen eine neue Welt der Wunder, Rätsel und Gefahren.

Vorsichtig tastete er nach dem Talagon, das er unter seinem Hemd trug. »Wir werden zurückkommen«, sagte er zu Caysey.

Die Atlanterin sah ihn nur mit großen Augen an.

»Der Dienstroboter wird auf dich aufpassen. Er kann dir alle Fragen beantworten. Nur für alle Fälle nimmst du das hier.« Er streifte die Kette mit dem Talagon über seinen Kopf und reichte Caysey das kleine Artefakt, dessen Existenz in der Zukunft Atlan in höchste Erregung versetzt hatte und das die Arkonidin Rowena unbedingt in ihren Besitz bringen wollte. Es war ein mattgraues, eiförmiges Schmuckstück mit rätselhaften Verzierungen.

Ergriffen nahm Caysey die Kette und hängte sie um den eigenen Hals.

»Falls etwas Unvorgesehenes passiert, bringst du das Talagon in Sicherheit«, sagte Rhodan. »Niemand darf es in seinen Besitz bringen außer Atlan. Notfalls such einen Weg, es zu zerstören.«

Ein trotziger Ausdruck trat in Cayseys Gesicht. »Das werde ich schaffen«, behauptete sie keck. Versuchte die Atlanterin, Rhodan zu beruhigen?

Sichu trat heran. Zu Rhodans Überraschung beugte sie sich zu der wesentlich kleineren Caysey hinab und legte ihre schlanken Arme um sie.

»Wir sehen uns wieder, Kleines«, flüsterte die Ator. »Pass auf die BEST HOPE auf.«