Perry und Sichu waren weg. Caysey war allein. Allein in der stählernen Hülle der Götterfaust, die Perry und Sichu BEST HOPE genannt hatten. Sie hatten ihr erklärt, was der eigenartige Name bedeutete. Er kam wohl aus einer alten Stammessprache.
Es knackte und knirschte, wenn sich die lockeren Metallplatten in diesem kalten Raum voller metallener Geräte und seelenloser Maschinen aneinander rieben. Cayseys beste Hoffnung mochte jederzeit um sie herum zusammenbrechen.
Immerhin wirkte das schmerzstillende Mittel, das der Eisenmann ihr gegeben hatte. Noch.
Sie spitzte die Lippen und pfiff zaghaft die ersten Töne eines fröhlichen Wanderlieds aus ihrer Kindheit. Der Hall, der von den Stahlwänden zurückkam, klang stumpf. Ihr fehlte die Weite des Himmels. Ihr fehlten die Felder und die Berge von Atlantis.
Für Perry und Sichu war so ein Weltraumschiff ein Zuhause. Ein Dach über dem Kopf, das ihnen Schutz bot. Für Caysey war es fremdartig und eng und falsch.
Tapfer trat sie vor den Eisenmann, der bewegungslos in der Nähe stand. Er sah tot aus wie eine alte Statue. Dennoch wusste Caysey, dass unter dem Eisenkleid ein Funken Leben wohnte, der jederzeit erwachen konnte.
»Hey, Großer!« Sie klopfte auf den Eisenkörper. »Bist du ein Magier?«
Das Metallwesen drehte in einem harten Ruck den Kopf und blickte aus rot glühenden Augen auf die Atlanterin herab. »Ich bin kein Magier«, schnarrte es. »Ich bin RCO-3342/B, Dienstroboter der LT-IV. Was kann ich für Sie tun?«
Caysey legte den Kopf schief und dachte nach. Was konnte der Eisenmann wirklich für sie tun? Er hatte ihre Wunden versorgt. Sie wusste, dass er es nicht vermochte, sie vollständig zu heilen.
Caysey legte eine Hand auf ihren Bauch. Dort war das Kind, das in ihr heranwuchs. Das Kind, das sterben musste, wenn sie keinen Weg fand, es zu retten.
Sie hatte auf der Venus einen Fehler begangen, als sie den Robbenwesen gefolgt war. Damit waren sie, das Kind und die ganze Gruppe in Gefahr geraten.
Ihre Hand tastete nach dem Schmuckstück, das an einer Halskette unter dem Anzug auf ihrem Herzen lag. Das Talagon. Es war aus irgendeinem Grund für viele Menschen sehr wichtig. Perry hatte es Caysey gegeben und damit gezeigt, dass er ihr immer noch vertraute.
Caysey umfasste das Talagon fest. Sie würde sich Perrys Vertrauen würdig erweisen. Sie würde das Talagon beschützen, so wie sie ihr Kind beschützte. Nun, vielleicht nicht ganz so leidenschaftlich. Aber dennoch mit all ihrer Kraft.
Endlich antwortete sie dem Eisenmann. »Kannst du mir die Götterfaust zeigen? Ich meine, die BEST HOPE ... Ich will das Schiff kennenlernen. Hat ja keinen Sinn, hier rumzusitzen.«
»Sie meinen die LT-IV«, korrigierte der Eisenmann. »Ich kann Ihnen das Schiff zeigen. Was möchten Sie sehen?«
Caysey brauchte nicht lange zu überlegen. »Fangen wir oben an«, bestimmte sie. »Zeig mir noch mal die Halle mit der Sternenkuppel.«
»Das Navigationsdeck. Sehr wohl.« Der Eisenmann ging mit eckigen Bewegungen voran.
Caysey atmete erleichtert aus. Verscheucht waren die bösen Gedanken. Sie wäre lieber woanders gewesen. Sie wollte barfuß über die Felder von Atlantis streunen. Aber solange sie in dieser Eisenwelt war, würde es ihr guttun, die Sterne mit eigenen Augen zu sehen.
*
Die Schwerkraft, wie Perry und Sichu es nannten, wenn Menschen, die hochsprangen, auf den Boden zurückkehrten, war auf der BEST HOPE wiederhergestellt. So weit sie es beurteilen konnte, fühlte sich Cayseys Körper so schwer an, wie sie es gewohnt war. Das Kind versetzte ihr einen Tritt, als wollte es ihr zustimmen. Caysey jauchzte.
Es war eine seltsame Vorstellung, dass die Schwere, die sie empfand, von Maschinen hergestellt wurde. Dagegen entsprach die Schwerelosigkeit im Weltenraum, die Caysey so fremd war, seiner wahren Natur. Einzig im Innern der Röhren, die von oben nach unten durch die Götterfaust führten, war Caysey wieder federleicht und schwebte in einem sanften Strom in die Höhe.
Der Eisenmann brachte sie durch die Röhre zur Oberseite des Schiffs. Durch die gläserne Kuppel sah sie hinauf in den Himmel. Dort waren die Sterne. Kleine helle Punkte, die, wie sie inzwischen wusste, in Wahrheit groß wie die Sonne waren und unendlich weit entfernt. Dennoch konnten Wundermaschinen wie die BEST HOPE die Unendlichkeit überwinden.
Caysey hatte keine Vorstellung von der wirklichen Entfernung, die sie zurückgelegt hatte. Sie wusste nur, dass sie weit weg war von Atlantis.
»RCO, wie groß ist der Weltenraum?«, fragte sie, ohne den Blick von den Sternen zu lassen.
Der Eisenmann trat mit einem leisen Summen einen Schritt näher. »Meine Wissensspeicher enthalten keine endgültige Antwort auf diese Frage. Wir kennen nur einen kleinen Teil des Weltraums. Wollen Sie die errechnete Mindestgröße des Universums wissen?«
»Klar will ich das. Deshalb frage ich ja.«
Der Eisenmann nannte eine Zahl, mit der Caysey nichts anfangen konnte. Was war eine Milliarde? Was war ein Lichtjahr?
Caysey legte die Stirn kraus. »Wie viele Tagesreisen bräuchte ich also, um den ganzen Weltenraum zu durchqueren, von einem Ende zum andern?« Sie klopfte auf ihren Oberschenkel. »Ich bin eine flotte Wanderin.«
Der Eisenmann verstand wohl nicht, was Caysey wissen wollte, denn er nannte erneut eine Zahl, die ihr nichts sagte. Irgendetwas namens Trilliarde.
Sie fragte noch nach den Jahren, aber man brauchte offenbar viele Trillionen davon, um den Weltenraum zu durchwandern. Caysey beschloss, dass der Weltenraum sehr groß war. Sie wollte lieber nicht versuchen, ihn zu Fuß zu erkunden.
Stattdessen trat sie zu dem großen Käfig in der Mitte der Kuppelhalle. Eiserne Stangen umschlossen ein imposantes röhrenförmiges Gerät, das in die Höhe gerichtet war. Es stand auf einer kreisrunden Bodenfläche, die angeschrägt und offenbar beweglich war. Einige der Stangen waren verbogen, andere zerbrochen und abgerissen.
Caysey berührte das Gestell. Es war kalt, und es bewegte sich keinen Fingerbreit. »Was ist das?«, fragte sie.
»Das optische Teleskop der LT-IV«, antwortete der Eisenmann, als ob damit alles gesagt wäre. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Es dient der stellaren Navigation ... Man kann damit die Sterne sehen.«
Noch eines dieser Geräte also, die ihr zeigen konnten, was sie nicht mit eigenen Augen sah. Wieder legte sie die Hand auf ihren Bauch. Sie spürte, wie ihr Sohn sich bewegte.
»Kann ich damit die Menschen auf den Sternen sehen?«, fragte sie.
Der Eisenmann zögerte. Er, der alles wusste, verstand offenbar die Frage nicht. Dann entschied er sich doch zu einer Antwort. »Nein«, sagte er schlicht. »Die Menschen auf den Sternen sind zu klein, als dass Sie sie von hier aus sehen könnten.«
*
Caysey kehrte mit dem Eisenmann zurück in den Zentralraum der BEST HOPE. Sie wollte sich von dem Dienstroboter zeigen lassen, wie ein Raumschiff funktionierte. So konnte sie vielleicht einmal Perry und Sichu helfen, statt ihnen nur zuzusehen, wie sie diese Eisenkugel in rasender Flucht durch den Weltenraum steuerten oder Wunderkugeln aus dem Nichts hervorzauberten. Inzwischen gefiel ihr sogar das Auf- und Abgleiten in der Röhre ohne Schwerkraft.
Dennoch war sie froh, wieder fest auf beiden Füßen zu stehen, als sie aus der Röhre in einen kleinen Schleusenraum trat. Vor ihr öffnete sich eine automatische Tür, dann war sie wieder in der Zentrale mit den vielen Pulten und Sesseln und dem großen Podest für den Raumschiffsführer in der Mitte.
»Wie funktioniert das?«, fragte sie und zeigte auf die Armlehnen des Sitzes. Daraus konnte Perry, wie sie wusste, Kugeln aus Licht entstehen lassen, Holos. »Damit kann ich die Götterfaust ... ich meine, dieses Fahrzeug in Bewegung setzen, oder?«
Wieder hielt der Eisenmann kurz inne, bevor er antwortete. »Das bezweifle ich«, sagte er dann.
Caysey sah den Roboter verdutzt an. Dann lachte sie und klopfte ihm gegen die Blechbrust. »Frechheit! Du meinst wohl, ich könne keine Raumschiffskommandantin werden?«
Der Eisenmann legte den Kopf schief. Eine Geste, die er möglicherweise Caysey abgeguckt hatte. »Das entspricht nicht den Tatsachen. Sie können Raumschiffkommandantin werden. Dafür ist jedoch eine Ausbildung notwendig, für die wir auf der LT-IV keine Ressourcen haben.«
Die Atlanterin seufzte theatralisch. »Ja. Wir haben bestimmt nicht die Zeit, dass ich drei oder vier Jahre lang bei dir in die Lehre gehe.«
Zu ihrer Überraschung antwortete die Maschine: »Zeit ist nicht das Problem. Es wäre durchaus möglich, Ihnen grundsätzliches und spezielles Wissen zur Raumschiffsführung über eine Hypnoschulung zu vermitteln. Die LT-IV hat allerdings keinen Indoktrinator an Bord.«
»Aha!«, machte Caysey und trat dem Eisenmann gegen das Bein. »Das erklärt ja mal wieder alles. Aber ein Teil der Arbeit wird doch von der Automatik erledigt, und ich kann ihr Fragen stellen und Anweisungen erteilen, oder?«
Unbeeindruckt blickte der Roboter auf sie herab. »Das Positronengehirn des Schiffs erledigt wesentliche Vorgänge von allein. Deshalb sind Sie noch am Leben. Die Entscheidungen über den Kurs des Schiffs, spezielle Operationen und den Betrieb der Antriebs- und Waffensysteme trifft der Kommandant. Dazu ist außerdem im Normalbetrieb eine Besatzung von mindestens zehn Mann notwendig: neun in der Zentrale und einer in der Astronavigation. Ist sie nicht besetzt, kann das Schiff nicht transitieren.«
Caysey hatte nicht vor, mit der BEST HOPE zu transitieren oder sie auch nur zu bewegen. Sie suchte nur nach einem Weg, ihre vorübergehende Heimat besser zu verstehen. Damit sie sich darin nicht so verloren vorkam.
Just in diesem Moment heulte ein Ton auf, den sie zuvor schon einmal gehört hatte, als Perry im Kommandantensitz saß. Er verhieß nichts Gutes. Auf den Armlehnen flackerten Lichter in einem irritierenden Rhythmus.
Caysey holte tief Luft. Dann zuckte sie mit den Achseln und wuchtete sich in Perrys Sessel. »Kommandantin hier!«, rief sie auf gut Glück. »Wozu der Alarm, Schiffsgehirn?«
Aus dem Nichts ertönte eine unpersönliche, aber wohlmodulierte Stimme: »Ortung erfasst Energiesignaturen zweier manövrierfähiger Raumflugobjekte. Eins nähert sich der LT-IV.«
Caysey spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Das Kind in ihrem Bauch strampelte. »Und das andere?«, fragte sie atemlos. »Was sind das für Raumobjekte? Wo kommen sie her?«
Die Positronengehirnstimme beantwortete Cayseys Fragen der Reihe nach: »Objekt zwei fliegt zum Wrack eines Schlachtschiffs der Maahks. Es handelt sich um Raumgleiter eines unithischen Bergungsraumschiffs mit der Designation ETZTHONK. Aufenthaltsort der ETZTHONK unbekannt. Sie hält sich wahrscheinlich zwischen den Trümmern und Schiffswracks versteckt.«
Caysey schnappte nach Luft. Ihr Herz pochte dröhnend laut. Sie zwang sich, ruhig zu atmen. Ein. Aus. Ein. Aus.
Was war das Wichtigste in dem Wust an Auskünften, die sie gerade gehört hatte? Eins der fremden Schiffe näherte sich der BEST HOPE – das war ihr egal. Das andere flog zu einem der Maahkschiffe. Dabei handelte es sich bestimmt um das Wrack, zu dem Perry unterwegs war. Perry und Sichu waren in Gefahr!
»Können wir die anderen rufen?«, rief Caysey.
»Negativ. Die Funkanlagen sind noch immer defekt«, antwortete das Bordgehirn.
Caysey warf ihren Kopf herum und sah hinüber zu dem Eisenmann. Doch der stand nur still und sagte nichts. Er war nichts gefragt worden, und er war nur ein Dienstroboter. Doch Caysey würde das irgendwie hinbekommen!
»Zeig mir ein Bild von dem Schiff, das hierhin unterwegs ist!«, forderte sie.
Diesmal hatte sie tatsächlich Erfolg. Eines dieser Holos flammte vor ihr auf. Es zeigte ein röhrenförmiges kleines Raumschiff, das schnell näher kam.
Das Schlimmste aber war: Das Röhrenschiff raste in hoher Geschwindigkeit direkt auf die BEST HOPE zu, ohne dass Caysey etwas dagegen tun konnte. Ungebremst schlitterte es in einen der Hangars, dessen Schotte halb abgerissen waren. Die Arkoniden auf Atlantis hatten sich selbstverständlich nicht die Mühe gemacht, die kaputten Zugänge vor der Verschrottung des Schiffs zu reparieren.
Der fremde Raumgleiter war soeben in den Bauch der BEST HOPE eingedrungen. Caysey saß wie erstarrt.
Bevor sie sich rühren konnte, meldete die Positronenstimme unaufgefordert: »Der eingedrungene Pilot meldet sich aus dem Beiboothangar über Interkom.«
Nichts weiter geschah.
»Ich will hören, was er sagt!«, rief Caysey. Musste man als Kommandantin auf so einem Raumschiff wirklich alles selber machen? Was war aus das Positronengehirn erledigt wesentliche Vorgänge von allein geworden?
Ein neues Holo erschien. Als stünde es direkt vor ihr, blickte sie ein klobiges Wesen im Raumanzug angriffslustig an. Es hatte eine ledrige, braune Haut, und sein kleiner Kopf saß anscheinend direkt auf den Schultern. Statt einer Nase wuchs ihm ein armlanger Rüssel aus dem Gesicht.
»Arkonidenweibchen!«, zwitscherte das Rüsselwesen in hoher Tonlage und mit fremdartiger Betonung in der Sprache der Arkoniden. Das kleine Gerät, das Caysey auf Atlantis bekommen hatte und noch immer am Arm trug, sprang an und übersetzte. »Hier spricht Gilthenk, Schrottsammler der Unither. Sie sind in unseren Claim eingedrungen. Daher bin ich gekommen, um mir die Wertsache zu holen, die Sie an Bord haben. Händigen Sie sie mir aus, dann werde ich darauf verzichten, Sie zu töten!«
»Kann er mich sehen und hören?«, fragte Caysey.
»Die Übertragung funktioniert nur in eine Richtung«, antwortete die Positronik.
»Dabei wollen wir es belassen.« Caysey umfasste das Schmuckstück unter ihrem Hemd: das Talagon. Nichts anderes konnte dieser Rüsselmann mit der Wertsache gemeint haben, die er sich holen wollte. Woher wusste er davon?
Caysey konnte nicht zulassen, dass er das Artefakt in seine plumpen Pfoten bekam. Sie stemmte sich aus dem Sitz und sah sich hektisch im Zentralrund um.
Dann hatte sie eine Idee.